Kommentar: Regierungskontrolle, keine Stasi

von | 9. Dezember 2010

Länder überall auf der Welt wettern derzeit gegen WikiLeaks, weil die Plattform geheime Regierungsdokumente veröffentlicht. Doch selber schrecken sie nicht vor der Verwendung vertraulicher Daten zurück.

Im Laufe dieses Jahres wurden verschiedenen deutschen Bundesländern CDs mit Steuerdaten angeboten. Mit deren Hilfe sollte es möglich sein, deutsche Steuersünder ausfindig zu machen und hinterzogene Steuern einzutreiben. Es war offensichtlich, dass die auf den CDs enthaltenen Bankdaten illegal erworben wurden. Daraufhin entbrannte eine gesellschaftliche Diskussion darüber, ob der deutsche Staat diese CDs trotzdem annehmen dürfe oder ob er sich damit außerhalb der Rechtsstaatlichkeit bewegt. Letztlich wurden die CDs gekauft. Am 9. November bestätigte auch das Bundesverfassungsgericht, dass die Daten der CDs, trotz ihrer vermutlich illegalen Beschaffung, zur Strafverfolgung genutzt werden können. Kurz: Der Staat greift auf eigentlich geheime Daten zu, um sie zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen.

In der letzten Zeit veröffentlichte die Internetplattform WikiLeaks mehrfach geheime Dokumente von Regierungen aus aller Welt, besonders oft Material der US-Regierung. Kriegstagebücher aus dem Irak und Afghanistan machten bereits im Sommer diesen Jahres Schlagzeilen. Videos von Hubschrauberangriffen auf Zivilisten brachten die USA in Erklärungsnot. Zuletzt erregte eine neue Veröffentlichungswelle ab dem 28. November großes Aufsehen. Depeschen aus US-Botschaften offenbarten die oft wenig schmeichelhaften Einschätzungen von US-Botschaftern ihrer nichtamerikanischen Kollegen. Neben seifenopernartigem Geläster unter Politikern kamen aber auch ernsthaftere Tatsachen zum Vorschein. Etwa dass Saudi-Arabien, Israel und andere Länder deutlicher auf militärische Interventionen im Iran drängen, als bisher bekannt, das berichtet zeit.de. Kanzlerin Merkel soll „so wütend wie nie zuvor“ über die Ablehnung des Europäischen Parlaments bezüglich des SWIFT-Abkommens gewesen sein, wie aus dem Dokument 10BERLIN180 hervorgeht.

WikiLeaks möchte „wichtige Nachrichten und Informationen der Öffentlichkeit zugänglich machen“ und somit mehr Transparenz in der Politik erreichen. Kurz: WikiLeaks veröffentlicht eigentlich geheime Daten, um damit zum Allgemeinwohl beizutragen.

Die Doppelmoral der Regierungen

Doch plötzlich sind die Regierungen dieser Welt nicht mehr so begeistert von der Verwendung beziehungsweise Veröffentlichung geheimer Daten. Julian Assange, einer der Gründer von WikiLeaks, wurde per internationalem Haftbefehl von Interpol gejagt und schließlich festgenommen, wegen Vergewaltigung – natürlich. PayPal und Mastercard sperrten, vermutlich auf Druck der US-Regierung, die Spendenkonten von WikiLeaks. Auch die Domain wikileaks.org, wurde vom amerikanischen Anbieter everydns.net gesperrt. Die US-Regierung giftet unverhohlen gegen WikiLeaks und Julian Assange. Die Veröffentlichung sei ein Verbrechen und auch der deutsche Wirtschaftsminister Rainer Brüderle äußerte sich kritisch: „Manches, was ich bei Wikileaks da entnehme, erinnert mich an die Sammelwut, die früher Institutionen im Osten hatten – die Stasi dabei“, wird er auf focus.de zitiert.

Interessant, dass der Minister von „Sammelwut“ spricht. Schließlich arbeitet er selbst für eine Regierung, die, dem allgemeinen Trend folgend, eine Vielzahl persönlicher Daten sammelt und speichert. Oft auch mit fragwürdigen Begründungen. Die Regierungen wollen alles wissen. Egal ob Übermittlung von Bankdaten via dem SWIFT-Abkommen, Videoüberwachung allerorts, Speicherung von biometrischen Daten im neuen Personalausweis oder Reisepass, „Körperscanner“ an den Flughäfen, ELENA, und so weiter, der gläserne Bürger ist längst Realität – natürlich zum Schutz der Bevölkerung. Die von Brüderle genannte Stasi-Sammelwut bekommt damit eine fast ironische Wendung.

Das Gleichgewicht wird wieder hergestellt

Warum aber sollte es nicht auch gläserne Regierungen geben? Warum sollten die Sammlung und Verwendung von persönlichen Daten nur in eine Richtung funktionieren? Sicher hat eine Regierung keinen biometrischen Fingerabdruck. Doch geheime Dokumente über interessante, der Öffentlichkeit aber vorenthaltene Vorgänge sind doch ein angemessenes Äquivalent. Dass die Politik davon nicht begeistert ist, leuchtet ein. Denn so wird es der Öffentlichkeit möglich zu erfahren, was ihre Volksvertreter wirklich machen. Korrupte Politiker können leichter enttarnt werden und für die Bevölkerung wird es einfacher, ihre Kontrollfunktion wahrzunehmen. Trägt das nicht auch zu ihrem Schutz bei? Die Veröffentlichungen von WikiLeaks sind prinzipiell richtig, denn sie mahnen die Politik, dass auch sie genau beobachtet und kontrolliert wird. Die Arbeit des Portals bildet so einen lange fehlenden Gegenpol zur einseitigen datentechnischen Entblößung der Allgemeinheit.

<h3>Jakob Ihde</h3>

Jakob Ihde