„Boulevardisierung“ des Qualitätsjournalismus

von | 8. Januar 2014

„Wer ist der irre Ur-Ur-Enkel von Bismarck?“: Ist das ein Thema, das die Welt bewegt? Boulevardmedien orientieren sich für die Themenfindung an der breiten Masse. Wie kann es sein, dass […]

„Wer ist der irre Ur-Ur-Enkel von Bismarck?“: Ist das ein Thema, das die Welt bewegt? Boulevardmedien orientieren sich für die Themenfindung an der breiten Masse. Wie kann es sein, dass jeden Tag über Sexskandale vermeintlich wichtiger Fußballspieler und die Drogenprobleme von Schauspielern berichtet wird? Es scheint, als stünden andere Ziele als die Qualität im Vordergrund, für die der Boulevardjournalismus auf „Leserfang“ geht.

In Boulevardmedien werden einfache, gut verdauliche Themen in angenehme Häppchen verpackt, um ein möglichst großes Publikum anzusprechen. Dabei wird der Informationsgehalt immer stärker vernachlässigt. Im Fokus stehen oft „Soft News“, bei denen mit Emotionen gespielt werden kann. Das sind zum Beispiel dramatische Einzelschicksale von Prominenten, wie die aktuellen Ereignisse um Michael Schumachers Skiunfall, aber auch aktuelle Sportereignisse und Lifestyle-Neuigkeiten. Boulevardjournalismus lenkt dabei oft bewusst von Themen ab oder zieht andere, unwichtigere in den Vordergrund. Der Fall von Schumacher ist dafür ein gutes Beispiel. Um ihn hat sich ein derartiges Medienspektakel entwickelt, dass beispielsweise die zeitgleich stattgefundenen Terroranschläge im russischen Wolgograd in den Medienberichten schier untergehen. Es kommt zu einer verzerrten Darstellung der Gesellschaft und des Weltgeschehens, die beim Leser bzw. Zuschauer im schlimmsten Fall als „normal“ anerkannt wird. Dabei wird nicht selten der Pressekodex und die journalistische Verantwortung vernachlässigt.

Wer kümmert sich dabei noch um die Moral? Sollte es nicht die Aufgabe von Journalisten und Fernsehautoren sein, qualitativ hochwertige sowie informative Sendungen und Nachrichten zu verfassen, anstatt sich auf „weiche“ Themen zu beschränken?

Zur Moral im Journalismus fallen mir sofort groteske BILD-Artikel ein, bei denen ich es fraglich finde, mit welcher Moralvorstellung Journalisten arbeiten. Zu dem Skandal um Ex-Bundespräsident Christian Wulff initiierte die BILD eine ausführliche Story, um den ehemaligen Staatsmann in die Enge zu treiben, weil er nicht bereit war, sich weiterhin gegenüber der Öffentlichkeit „nackt“ zu machen. Dabei schien durch die tabulose und plakative Berichterstattung dieser Zeitung die Wahrheit auf der Strecke zu bleiben. Ganz egal, ob sich Wulff wahrheitsgemäß äußerte oder nicht, sein Ruf in der Öffentlichkeit wurde vernichtet.

Eine grundlegende Ursache für diese Entwicklung zum Boulevardjournalismus ist die Frage nach dem finanziellen Gewinn. Die Haupteinnahmequelle für private Fernsehsender und Zeitungen ist die Werbung. Um möglichst viele Anzeigen oder Werbespots schalten zu können, muss also um den Werbetreibenden gebuhlt werden. Ein Format mit geringer Zuschauerzahl interessiert den Werbetreibenden nicht, weshalb es sich aus Sender-Sicht nicht lohnt, das Format zu erhalten, da es sich nicht refinanzieren lässt. Hier gilt das Sprichwort: „Der Kunde ist König“, was in diesem Fall den Werbetreibenden meint. Deshalb entstehen oft Low-Budget-Produktionen oder Artikel mit wenig Informationsgehalt, die gleichzeitig die eine große Anzahl von Rezipienten erreichen.

Andreas Becker ist bereits seit 25 Jahren als Fernsehjournalist in der Branche und lehrt angehende Journalisten bei RTL, der Bayrischen Akademie für Fernsehen e. V. und an der Hochschule Mittweida. Er kennt das Geschäft und versucht uns einige Prinzipien näher zu bringen.

Befindet sich der Boulevardjournalismus auf der Überholspur?

Das Abflachen der Medien ist demnach also auf unsere Gesellschaft und des Wirtschaftssystem zurückzuführen. Daraus ergibt sich die unumgängliche Frage: Ist ethisches Handeln in dieser Branche innerhalb der heutigen, nicht mehr idealistisch geprägten Gesellschaft überhaupt möglich?

Scheinbar nicht. Wir leben in einer stark pluralistischen Gesellschaft, in der es keinen festen Moralbegriff mehr gibt. Durch die stetige Wandlung der Gesellschaft besitzt Moral nur eine relativen Wert. Es gibt daher gleich mehrere Hindernisse für Journalisten, eine andere Richtung einzuschlagen. Auf der einen Seite herrscht ein starkes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, auf der anderen Seite steht das Problem der praktischen Umsetzung ethischer Grundsätze. Weil die Moral kein festes Gebilde darstellt, kann es keine feststehenden Maßstäbe geben.

Ist die Qualitätspresse nur für Eliten geeignet?

Auch die Qualitätspresse orientiert sich immer stärker an den massenattraktiven Boulevardmedien. Der Fokus liegt dabei häufig auf „Soft News“ und Emotionen. Fernseh- und Radiosender oder Zeitungen nehmen sich zunehmend Themen an, die sonst nur von Boulevardzeitungen aufgegriffen werden. Titel wie „Messi mosert“ und „Letzter Auftritt von Dirty Harry“ sind nun auch bei der Qualitätspresse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu finden. Weiterhin laufen beim ZDF immer häufiger Sendungen wie „Leute heute“ – ein Boulevardmagazin. Es liegt damit eine klare Tendenz zur sogenannten „Boulevardisierung“ vor. Jedoch begehen gerade solche Medien wie ZDF oder FAZ den großen Fehler, sich dieser Entwicklung anzuschließen.

Das Problem einiger Zeitungen ist laut Andreas Becker, deren Einstellung, „Everybodys darling“ sein zu wollen. Dem Leser fehlt eine klare Positionierung, mit der er sich identifizieren kann. Die Alternative ist ein „Special Interest Medium“, beispielsweise eine Tageszeitung, die sich ausschließlich an junge Menschen unter 25 richtet. Eine Altersgruppe, die in der Regel weder vom Boulevard noch von der Qualitätspresse erreicht wird. Ein gutes Vorzeigemodell ist dabei England. Dort gibt es Zeitungen, die Fürsprecher ihrer Leserschaft und damit ihrer Zielgruppe darstellen. Diese Medien bekennen Farbe und wollen nicht die große Masse ansprechen. Seiner Meinung nach können nur solche Medien heutzutage überleben.

Gibt es mehr BILD- als FAZ-Leser?

Laut Becker gibt es eine andauerende Parallelexistenz zwischen Qualitäts- und Boulevardjournalismus, von der nicht die Bedrohung ausgeht, dass der eine den anderen ablösen könnte. Dennoch besteht die Gefahr der allmählichen Angleichung, weil die Themenvielfalt langsam verloren geht. Um einen Themenwandel im Print-Journalismus und in der Fernsehwelt zu erreichen, müsste sich auch die Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend verändern, da alles miteinander verwoben und eine getrennte Betrachtung nicht möglich ist.

Text: Lydia Nordengrün, Grafik: Lydia Ullrich

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Redakteur