Selbstexperiment

Mit ASMR zur Tiefenentspannung?

von | 19. Juni 2020

Abtauchen in eine Welt aus Geräuschen und Bewegungen. Aber kann man überhaupt auf Knopfdruck entspannen?

Autonomous Sensory Meridian Response klingt hochwissenschaftlich und meint doch eigentlich nur ASMR. Ein Gefühl von Entspannung und Beruhigung, gepaart mit einem wohligen Kribbeln – auch Tingles genannt – das Leute entspannen und sogar einschlafen lässt. Dazu werden meist auditive und visuelle Reize – sogenannte Trigger – eingesetzt, welche beim Zuschauer eine Gänsehaut erzeugen, die vom Kopf aus über den Körper strömt. Mehr zum Thema ASMR findest du bereits hier auf medienMITTWEIDA.

Jetzt geht es um das ganz subjektive Empfinden von ASMR – mein Empfinden. Eine Woche lang werde ich jeden Tag ein anderes ASMR-Genre zu anderen Bedingungen testen. Schon bei einer ersten Suche stelle ich fest: Die Auswahl ist überwältigend. Für jeden Geschmack finden sich im ASMR-Kosmos Inhalte. Erlaubt ist, was gefällt und funktioniert. Aber was funktioniert für mich? Werde ich ASMR nach dem Experiment in meinen Alltag integrieren oder kommt die gewünschte Entspannung gar nicht erst zustande?

Von ASMR-Videos habe ich schon öfter gehört. Damit assoziiere ich fast ausschließlich junge, adrette Menschen, die in schummriger Atmosphäre Gegenständen vor der Kamera Geräusche entlocken. Schon in der Vergangenheit habe ich immer wieder beobachtet, wie es mich entspannt, wenn ich anderen Menschen beim Schreiben zuschaue oder wenn in einem YouTube-Video Torten modelliert werden. Aber heißt das auch, dass ich bewusst in dem Moment, wenn ich ein ASMR-Video anklicke, abschalten kann? Meine Tage sind durch die Uni gut gefüllt, Langeweile habe ich schon ewig nicht mehr empfunden. Manchmal fehlt mir die Zeit für mich, insbesondere nach langen Tagen am Computer. Kann mir ASMR diese Auszeit verschaffen? Mein Experiment beginnt.

Tag 1: Tapping mit ASMR Janina

Ich starte mit einem Klassiker – dem Tapping. Hierbei wird mit den Fingern und Fingernägeln auf diversen Oberflächen in verschiedenen Geschwindigkeiten geklopft und getippt. So weit, so gut. Es ist 23 Uhr, ich mache es mir mit einem Kissen und Kopfhörern – die werden bei ASMR meist empfohlen – an meinem Schreibtisch bequem. Danach geht es direkt ins Bett. Ich hatte heute viel zu erledigen und bis eben noch zu tun. ASMR Janina begrüßt mich in schwarz-weiß Optik in ihrem Schlafzimmer. Zumindest ist ein Bett hinter ihr erkennbar. Nachdem ich Lautstärke und Bildschirmhelligkeit angepasst habe, schließe ich fast automatisch die Augen – und schrecke nach wenigen Minuten hoch, als eine Werbung losplärrt. Zum Glück gelingt es der ASMRtistin, mich durch ihre angenehme Stimme und das Setting schnell wieder zu beruhigen. Als Trigger verwendet sie unter anderem eine Glasvase, Lipgloss und eine Haarkur. Immer wieder assoziiere ich trommelnden Regen mit dem Tapping und dieses Geräusch liebe ich. Ehrlich gesagt, fühle ich mich sehr wohl und gar nicht komisch. Allerdings bleibt die Gänsehaut aus. Einzig an einer Stelle ohne Tapping – beim Schmatzgeräusch des sich öffnenden Lipglosses huscht sie über meine Arme. ASMR Janina spricht zwischendurch auch immer mal über sich und ihren Alltag. Direkt störend finde ich das nicht, eher freundschaftlich. Die 13 Minuten sind erstaunlich schnell vergangen und ich falle ziemlich müde ins Bett.

Mein Experiment startet mit diversen Klopfgeräuschen. Quelle: YouTube

Tag 2: Mouth-Sounds mit easyASMR

Es ist 19:00 Uhr und ich frage mich: Kann ich auch abschalten, wenn es noch hell draußen ist und ich am Abend noch Arbeit vor mir habe? Zuerst bleibe ich am Schreibtisch – ohne Kopfhörer – aber da das Video 25 Minuten dauert und mich Nebengeräusche stören, wechsle ich mit Kopfhörern zur Couch. Eine gute Idee, denn dieser ASMRtist arbeitet mit zwei Mikrofonen, eins links und eins rechts. So simpel es klingt, bei Mouth-Sounds werden die Geräusche lediglich mit dem Mund und allen dazugehörenden Körperteilen erzeugt. Das können Schluck-, Schmatz- und Schnalzgeräusche sein. Er selbst sagt, dass er kein allzu großer Fan von Mouth-Sounds ist, insbesondere wenn sie zu aggressiv sind. Deshalb will er sie sanft und leicht gestalten. Mir soll das recht sein. Dadurch, dass er sich nicht gänzlich zeigt und auch sonst visuell eher wenig los ist, schließe ich ganz einfach die Augen und lausche. Er wechselt ständig die Seiten und durch die Kopfhörer scheint es, als würden die Geräusche in meinem Kopf wandern. Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass ich nicht hinschaue und somit manche Seitenwechsel überraschend kommen. Ich bin von den Schmatz- und Schnalzgeräuschen nicht angeekelt. Vielmehr fasziniert es mich, wie viele unterschiedliche Geräusche er erzeugt. Klingt ein bisschen wie geflüstertes Beatboxen in langsam. Vielleicht bin ich heute zu sehr konzentriert, denn es dauert eine ganze Weile, bis ich eine leichte Gänsehaut auf Armen und Beinen spüre. Ich bin mir ziemlich sicher: Da geht in den nächsten Tagen noch mehr.

Die Geräusche wandern in meinem Kopf. Quelle: YouTube

Tag 3: Food ASMR mit Zach Choi ASMR

Das heutige ASMR-Genre spaltet die Gemüter wie kein zweites. Die einen finden es besonders reizvoll und entspannend, die anderen ekeln sich davor und spüren sogar Aggressionen. Food ASMR arbeitet mit dem Aussehen und besonders den Geräuschen von Essen: Abbeißen, Schmatzen, Kauen. Im Alltag finde ich das nicht sonderlich prickelnd, aber es gibt Schlimmeres. Ich bin auf meine Reaktion gespannt. Das Video hat fast 58 Millionen Aufrufe, beeindruckend. Heute auf dem Speiseplan stehen kandierte Erdbeeren, Macarons, eine Honigwabe – sehr beliebt im ASMR-Bereich – und das Fleisch einer Aloe Vera Pflanze. Das ist kreativ, aber auch angenehm anzuschauen? Heute stehen gleich zwei Künstler vor der Kamera, wobei mir schnell auffällt, dass ich mich immer nur auf einen konzentrieren kann. Positiv möchte ich festhalten, dass die beiden nicht übermäßig den Mund aufreißen oder extra laut schmatzen, sondern die Geräusche eher beim Abbeißen und Kauen entstehen. Heute bin ich unentschlossen, ob ich hinschauen soll oder lieber nicht. Es wird eine Mischung. Spannend wird es bei der Honigwabe und der Aloe Vera. Die sind naturgemäß beide klebrig bis schleimig. Das Zuhören stört mich nicht, aber beim Zuschauen merke ich, wie ich das Gesicht verziehe. Das Tropfen beziehungsweise Schleimen empfinde ich als unangenehm und so schließe ich lieber die Augen. Nach acht Minuten ist das Video schon vorbei und ich würde meine Gemütsverfassung als unverändert beschreiben. Zu intensiven Tingles ist es nicht gekommen, dafür ging mir alles etwas zu schnell. Ich bin aber auch nicht unruhig oder aggressiv geworden, sodass ich nicht vollends von Food ASMR abgeschreckt wurde.

Entspanne ich, wenn andere Menschen schmatzen? Quelle: YouTube

Tag 4: Brushing mit ASMR Bakery

Ich bin überzeugt, zu ASMR nicht einschlafen zu können. Ich schlafe auch sonst nicht bei Filmen und nicht mal beim Fußball ein. In Bezug auf ASMR könnte sich das heute ändern. Das liegt zum einen daran, dass es schon 0:30 Uhr ist und zum anderen dauert mein heutiges Experiment gute zwei Stunden. Ich brauche zwar sonst lange zum Einschlafen, so lange aber auch nicht. Ich liege im Bett, mein Laptop steht unweit von mir. Beim Brushing kommen verschiedene Bürsten zum Einsatz – kleine und große, weiche und robuste. Ich schaue heute gar nicht erst hin, ich will ja schließlich einschlafen. Beruhigend wirken die Trigger auf jeden Fall, aber mein Körper ist wahrscheinlich schon zu sehr im Ich-will-jetzt-schlafen-Modus, als dass es für überstürzte Tingles reicht. Nach etwa 20 Minuten macht sich jedoch bei vereinzelten Triggern Gänsehaut breit – richtig angenehm. Und irgendwann nach 30-40 Minuten muss ich wohl eingeschlafen sein. Aber ich werde nicht wie erwartet mitten in der Nacht zu einem Katzenvideo wach, sondern verfalle in ein ständiges Aufwachen und Einschlafen. Mein Unterbewusstsein sieht die Trigger scheinbar noch als etwas Außergewöhnliches an und weckt mich zur Sicherheit lieber. Zugegeben – an manchen Stellen springe ich ein wenig vor, was aber auch daran liegt, dass ein Trigger für etwa sechs bis acht Minuten andauert. Als ich gegen 2:15 Uhr wieder wach werde und sich das Video in den letzten Minuten befindet, fahre ich den Laptop runter, weil ich sonst wirklich irgendwann zu einem Katzenvideo aufwache.

Innerhalb von zwei Stunden schlafe auch ich ein. Quelle: YouTube

Tag 5: Personal Attention mit annawhispers ASMR

Heute suche ich die Entspannung am frühen Abend, ab 18:30 Uhr, ohne Kopfhörer. Ich als Zuschauerin stehe jetzt im Mittelpunkt und werde auch direkt angesprochen, denn es geht um persönliche Aufmerksamkeit – personal attention. Die Trigger werden besonders nah an die Kamera geführt, sodass der Eindruck einer Berührung entsteht. Das nennt sich auch visuelles ASMR, weil viele Trigger eben durch das Anschauen und nicht nur Anhören zur Geltung kommen. Vom Pinsel über Wattepads und einer Gesichtscreme bis zum Klassiker in der ASMR-Welt, der Haarbürste, werde ich heute mit allem verwöhnt. Dazu kommen noch ein paar ergänzende Trigger wie Tapping oder Mouth-Sounds. Was soll ich sagen: Es dauert gar nicht lange, da breitet sich von meiner Kopfhaut über Wirbelsäule und Arme bis in die Beine dieses wohlige Kribbeln und Prickeln aus – die Tingles. Gerade bei diesen nahen Bewegungen verstärkt sich das Gefühl. Mir fällt auf, dass es noch häufiger und intensiver passiert, wenn visuelle und auditive Trigger miteinander harmonieren. Meine Augen werden ganz schwer, aber ich bin viel zu gespannt auf die nächsten Tingles, als dass ich sie schließen würde. Je länger das Video dauert, desto häufiger und intensiver wird die Gänsehaut. Mein ganzer Kopf kribbelt und das strahlt bis in die Beine aus – faszinierend, mit welch einfachen Mitteln so eine große Wirkung erzielt werden kann. Würde das Video zehn Minuten länger dauern, hätte es vielleicht sogar mit dem Einschlafen geklappt. Aber auch so fühle ich mich absolut wohl und entspannt.

Und plötzlich kommen ihre Hände ganz nah. Quelle: YouTube

Tag 6: Fast and Aggressive ASMR mit TomASMR

Ein neuer Tag, ein neues ASMR-Genre und ich packe wieder die Kopfhörer aus. Heute geht es von der Geschwindigkeit der Trigger überhaupt nicht entspannt zu, denn es geht um schnelles und aggressives ASMR. In diesem Video kommen vor allem Tapping und Mouth-Sounds zum Einsatz. Ich frage mich – wenn ASMR entspannen und entschleunigen soll, wie kann das mit schnellen und hektischen Bewegungen und Geräuschen gelingen? Das Setting vor dem Regal wirkt auf mich eher unruhig, aber das passt ja zum Thema. Insgesamt spult der ASMRtist eine erstaunliche Choreografie an Triggern ab. Das sieht sogar richtig nach Arbeit und Konzept aus. Er setzt Mouth-Sounds und Tapping Trigger auch gleichzeitig ein. Hinschauen und jedem Objekt folgen gebe ich schnell auf, weil das für mich eher anstrengend ist. Von den Geräuschen bin ich aber überrascht und auch die Schnelligkeit macht mir wenig aus. Nach ein paar Minuten der Eingewöhnung komme ich spürbar runter und dann, beim Stahlschwamm und später bei der Computermaus machen sich die mir mittlerweile bekannten Tingles breit. Zum Einschlafen wäre Fast and Aggressive ASMR nichts für mich, aber um für zehn Minuten einfach mal den Fokus zu ändern – warum nicht?

Wie passt schnelles ASMR mit Entspannung zusammen? Quelle: YouTube

Tag 7: Roleplay mit Dori ASMR

Mein Selbstexperiment erreicht seine Zielgerade. Es ist 23:45 Uhr und zum Abschluss gibt es nochmal etwas richtig Feines – ein Spa Erlebnis fürs Gesicht. Man gönnt sich ja sonst nichts. Das Video ist als sogenanntes Roleplay, also als Rollenspiel, aufgezogen, wobei ich als Zuschauerin direkt in die Rolle der Kundin versetzt werde. Ich hätte wohl einen Termin bei Dori. Innerlich bejahe ich. Wie es mir geht? Danke, sehr gut und selbst? Es klingt bizarr, aber ich steige stumm in den Dialog mit ein und folge allen Anweisungen und Vorschlägen bereitwillig. Zwar bin ich schon recht müde, aber auf keinen Fall will ich etwas von meiner Verwöhnkur verpassen. Die ASMRtistin beginnt mit einer ausführlichen Reinigung meiner Haut. Die Trigger variieren dabei von Streichen und Tapping über Mouth-Sounds und Personal Attention. Und wieder reagiert mein Körper wie von selbst auf genau diese Kombination. Sobald mir Dori ASMR mit dem Gesichtshandtuch näher kommt, prickelt meine Kopfhaut. Ab da häufen sich die Tingles – und heute springen sie praktisch von meinem Kopf runter zu meinen Beinen, überall kribbelt es. Ansonsten fühle ich mich rundum gut aufgehoben, der Service ist lobenswert. Dori ASMR könnte fast in Wirklichkeit einen Spa Salon betreiben – ich fühle mich gut informiert, auch wenn ich natürlich nicht beurteilen kann, wie viel davon tatsächlich wahr ist. Aber hier geht es ja auch gar nicht um Fachwissen. Ich denke, mein persönliches Highlight ist die Gesichtscreme – unterstützt durch die Mouth-Sounds, sendet mein Kopf eine Gänsehautwelle nach der anderen. Am Ende soll ich noch mit Federn zur ultimativen Entspannung gebracht werden, aber da bin ich schon.

Mit einem Spa-Roleplay beende ich mein Experiment. Quelle: YouTube

Mission erfüllt?

Nach einer Woche verschiedenster ASMR-Genres halte ich für mich fest: Ja, es hat funktioniert und ja, ich werde auch zukünftig regelmäßig – wenn auch nicht täglich – ASMR konsumieren. Und nein, ich schäme mich nicht dafür. Dafür gibt es doch auch gar keinen Grund, schließlich tut mir ASMR offensichtlich gut. Manche Genres erzielen stärkere Effekte und manche schwächere. Deshalb gibt es diese schier endlose Auswahl – eben für jeden Geschmack etwas. Ich denke nicht, dass ich durch ASMR schneller einschlafe, aber die Entspannung und das Runterkommen davor ist für mich viel wertvoller. Das Gefühl dieser Gänsehaut, die sich von Kopf bis Fuß ausbreitet, ist schon sehr einzigartig und fast betörend. Ich musste mich auf die Videos einlassen, durfte mich aber nicht zu sehr konzentrieren oder die Tingles zu sehr wollen. Die Videos haben für mich aber noch eine andere Bedeutung gewonnen, nämlich die der Entschleunigung und des bewussten Anhaltens. Sei es der Unialltag, der Beruf, die Familie, das Umfeld. Es gibt viele Gründe, weshalb wir uns keine Pause gönnen und uns Zeit für uns selbst nehmen. ASMR schafft für mich eine Stopp-Taste, die Möglichkeit, bewusst abzuschalten und ein Gefühl von Jetzt-bin-ich-dran. Das können auch nur zehn Minuten sein – Hauptsache, ich nehme mir diese Zeit bewusst.

Wer einen Blick vor die Kamera werfen möchte, um zu sehen, wie es ist, ASMR-Videos zu produzieren – der findet hier mein Interview mit Dori ASMR.

Dori ASMR ist für ihre Roleplays bekannt. medienMITTWEIDA erzählt sie, was hinter den Videos steckt.

„Dori ASMR“ hilft ihren über 81.000 Abonnenten auf YouTube beim Entspannen, Runterkommen und Einschlafen. Dafür produziert sie seit Januar 2019 wöchentlich mehrere ASMR-Videos. 

Text: Kim Lu Kutschbach, Titelbild: Anton Baranenko, Videos: YouTube

<h3>Kim Lu Kutschbach</h3>

Kim Lu Kutschbach

ist 22 Jahre alt und in Frankfurt (Oder) geboren. Momentan studiert sie an der Hochschule Mittweida Medienmanagement. Schon von klein auf galt ihr Interesse der Sprache und Kommunikation und genau dieser Leidenschaft kann sie bei medienMITTWEIDA nachgehen.