Islamaussteiger

Im Namen der Freiheit

von | 4. Juni 2021

Zwischen dem Bedürfnis nach Freiheit und dem Verlust der eigenen Familie. Eine Ex-Muslima im Interview.

Ella* ist eine 21-jährige palästinensische Libanesin, die sich aber als Deutsche sieht. Wie viele muslimische Frauen führte sie ein Religion-konformes Leben. Kopftuch, fünfmal am Tag beten, Koranunterricht. Dieses Leben liegt lange hinter ihr, denn Ella ist eine Ex-Muslima. Seit zwei Jahren hat sie deswegen keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Doch warum und wie kehrte Ella ihrer Religion den Rücken?

 

Die 21-Jährige stieg aus der Religion aus, die laut einer aktuellen Studie des amerikanischen Pew Research Centers von allen Religionen den größten Zuwachs gewinnen wird. Die Studie prognostiziert, dass weltweit der Anteil der Muslime bis ins Jahr 2050 von 24,9 % Prozent auf 29,7 Prozent steigen wird. Zum Vergleich: Der Anteil der Christen soll sich laut der Studie lediglich von 31,1 Prozent auf 31,4 Prozent erhöhen. Dennoch steigen auch im Islam Personen aus. So gibt es bereits in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Marokko und in den USA Zentralräte für Ex-Muslime. Ella ist Mitglied im deutschen Zentralrat der Ex-Muslime. Im Interview erzählt sie, warum es für sie richtig war, den Islam zu verlassen, was sie nach all den Jahren noch belastet und welche Rolle der Islam weiterhin in ihrem Leben spielt.

Ella, du hast deiner Religion den Rücken zugewendet. Wann kamen bei dir die ersten Zweifel auf?
Ella: Ich muss gestehen, dass ich als Kind den Arabisch- und Koranunterricht liebte. Diese Tage waren ganz besondere Highlights für mich. Ich traf dort auf gleichgesinnte Muslime, was mir sehr half, da ich in einer Gegend groß geworden bin, die weiß privilegiert war. Auf dem Gymnasium in der siebten Klasse hatte ich dann Geschichts- und Philosophieunterricht. Dort besprachen wir die Geschichte des Christentums und inwiefern beispielweise die Vorstellung des Fegefeuers problematisch ist. Da sind mir Parallelen und erste Kritikpunkte zu meinem Glauben aufgefallen.
Aber auch ein Besuch im Libanon ließ meine Bedenken wachsen. Meine Cousinen beteten nicht. Ich wurde neugierig und wollte selbst herausfinden, was passiert, wenn ich ebenfalls nicht bete – doch es geschah überhaupt nichts. Irgendwann ließ ich das Gebet komplett weg. Da festigten sich meine Zweifel. Denn der Islam, wie ihn mir meine Eltern beibrachten, ergab für mich keinen Sinn mehr. Die Regel ist nämlich, dass alles, was im Koran steht, Wort Gottes und nicht zu hinterfragen ist. Der Psychologe Ahmad Mansour nennt diese Art der Religionsausübung “Buchstabenglaube”. Als ich dann versucht habe, den Koran wirklich zu entziffern, stieß ich auf weitere Kritikpunkte.

Von welchen Kritikpunkten sprichst du?
Ella: Zum einen arbeitet der Islam mit Angstpädagogik. Das heißt, man ist zwar „überzeugt“ von seinem Glauben, allerdings spielt die Angst vor Bestrafung ebenfalls eine große Rolle. Sei es die Furcht vor der Bestrafung Gottes oder des eigenen Vaters. Letzteres musste ich bis zu meinem 18. Lebensjahr selbst erleben – leider. Des Weiteren sind einige Stellen im Koran problematisch. Wie zum Beispiel, dass Gott erzürnt ist, wenn eine Frau keinen Sex mit ihrem Mann hat und dass die Engel sie dafür verfluchen.

Was war der endgültige Grund, weshalb du dich für den Ausstieg aus dem Islam entschieden hast?
Ella: Während meines Abiturs bemerkte ich, dass es an der Zeit ist, auszubrechen. Ich wollte nach außen hin als Nicht-Muslima wahrgenommen werden und auch nicht mehr nach den Lebensvorstellungen einer „guten“ Muslima leben. Ich wollte den Islam offen und frei kritisieren und die patriarchalischen Strukturen in unserer Familie vernichten. Das ist natürlich schwierig, weil man ausgestoßen werden kann und unter Umständen Morddrohungen bekommt.

Gab es einen bestimmten Impuls?
Ella: Ich habe das Buch „Warum hasst ihr uns so“ – die deutsche Fassung von „Why the middle east needs a sexual revolution“ – von Mona Eltahawy gelesen. Das Buch hat mir verdeutlicht, wie sexualisierend die muslimische Kultur ist und wie sehr die Ehre der Familie von der Vagina einer Frau abhängt. Alles wird sexualisiert und objektifiziert. Daher müssen Frauen heiraten, um bei ihren Eltern ausziehen zu dürfen. Dann hat der Mann das Recht über sie. Im Buch von Mona Elahaway las ich: „Und, wenn der stirbt, dann der Sohn. Wenn es keinen Sohn gibt, dann geht sie wieder zurück zu ihren Eltern.“ Das war schockierend für mich. Das Buch hat mir die Augen geöffnet. Ich wollte es weder meiner zukünftigen Tochter noch den folgenden Generationen antun. Zudem dachte ich früher immer, dass ich polyamor leben möchte. Das hat sich aber mittlerweile geändert. Dennoch wollte ich nicht nur mit einem Mann in meinem Leben schlafen – was ja normal ist. Es braucht dringend eine sexuelle Revolution, um offener über sexuelle Bedürfnisse sprechen zu können.

Wie gestaltete sich dein Ausstieg?
Ella: Mit 19 absolvierte ich ein Auslandsjahr. Dieses Gefühl von Freiheit gefiel mir so sehr, dass ich den Entschluss fasste, meine Familie zu verlassen, sobald ich einen Plan habe. Ich war mittlerweile volljährig und mir war bewusst, dass mein Vater mich dazu drängen würde zu heiraten und Kinder zu bekommen. Nachdem ich einige Tage wieder zu Hause war, ging ich zu einer Freundin und erzählte ihr alles. Sie buchte mir ein Flugticket und meinte: „Du fliegst jetzt zu meinen Eltern und wir suchen dort nach einer Lösung“. Innerhalb von zwei Tagen habe ich meine wichtigsten Sachen eingepackt und bin zu ihren Eltern geflogen. Ich kann mich noch gut an den Moment erinneren, als ich das Haus verließ. Meine Mutter stand in der Tür und ich überlegte dreimal, sie zu umarmen. Ich wusste es ist das letzte Mal, dass ich sie sehe – zumindest für einige Jahre. Ich habe mich jedoch dagegen entschieden. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter wusste, was ich vorhatte und es mir „erlaubte“. Bis heute bin ich sehr traurig darüber sie nicht umarmt zu haben. Die Entscheidung war also impulsiv. Dennoch war es die Beste meines Lebens!

Haben deine Eltern Versuche unternommen, um mit dir Kontakt aufzunehmen?
Ella: Meine Eltern haben immer wieder versucht, mich durch Freunde zu kontaktieren und Informationen über mich herauszufinden. Sie wollten wissen, wie es mir geht und was ich gerade mache. Mein Vater flog sogar an den Ort, an dem  ich mein Auslandsjahr absolviert hatte, um mich zu finden. Aber zum Glück hatte er keinen Erfolg.

Nimmt es dich mit, dass du keinen Kontakt mehr zu deiner Familie hast?
Ella: Sehr. Man denkt sich nämlich: „Es ist doch nur eine Religion, an die du nicht glaubst.“ Aber mir ist meine Freiheit ebenso wichtig, wie meiner Familie der Islam.

Mit welchen Konsequenzen musst du jetzt leben?
Ella: Puh, mit einigen. Zum einen ist es ein großer psychischer Druck, der mich bis heute mehrmals täglich belastet. Ich kann meine Mutter nicht sehen. Ich kann nicht miterleben, wie meine kleinen Geschwister, die gerade erwachsen werden, sich entwickeln. Das tut am meisten weh! Gerade bei meinem kleinen Bruder, der mir von der Persönlichkeit sehr ähnelt. Hinzu kommen Kleinigkeiten, wie beispielsweise die Tatsache, dass ich nicht mehr familienversichert bin. Ich lebe in ständiger Angst, dass meine Eltern über die Behörden genauere Information über mich erhalten. In der Stadt, in der ich lebe, habe ich eine Auskunftssperre eingerichtet. Keiner darf wissen, wo ich wohne. Einen Account bei Linkedin kann ich auch nicht erstellen, da sie mich finden könnten. Das ist natürlich hinderlich bei der Jobsuche. Finanzielle Unterstützung wie Kindergeld oder BAföG musste ich unabhängig und geheim beantragen. Eine Namensänderung wäre wahrscheinlich am besten. Allerdings stellt das Wechseln einer Identität nicht nur bürokratisch eine Hürde dar, sondern auch psychisch. Ebenso ist die Angst vorhanden, dass mich ein Familienmitglied umbringen möchte, da ich mit meinem Verschwinden die „Ehre“ der Familie beschmutzt habe. Was eigentlich lächerlich ist, aber die Angst ist dennoch da. Ich habe schon die absurdesten Geschichten von Ex-Muslimen gehört.

Du hast gerade nur deine Geschwister und deine Mutter erwähnt, aber nicht deinen Vater. Gibt es dafür einen Grund?
Ella: Natürlich liebe ich ihn und er bleibt mein Vater, trotz des Schmerzes, den er mir zugefügt hat und der mich bis heute traumatisch belastet. Ich würde ihm verzeihen, wenn er einsieht, dass das, was er getan hat, falsch war. Ich verzeihe ihm vor allem, wenn er mich bedingungslos liebt! Bei meiner Mutter und meinen Geschwistern bin ich mir sicher, dass sie mich akzeptieren würden, bei meinem Vater nicht. So wie ich ihn kenne, würde er Bedingungen aufstellen, wie ich wieder seine Tochter werde. Und genau das will ich nicht.

Gibt es, trotz der aufgeführten Probleme, dennoch Seiten in der muslimischen Welt, die du vermisst?
Ella: Neben meiner Familie im Libanon vermisse ich das Gemeinschaftsgefühl, die Großzügigkeit und Herzlichkeit der arabischen Kultur. Ich würde aber auch gerne den Ramadan wieder ausüben und das Zuckerfest feiern, wenn ich muslimische Freunde hätte.

In welchen Momenten ist die Sehnsucht am stärksten?
Ella: Definitiv zu Weihnachten. Ich erinnere mich letztes Jahr kurz vor Weihnachten im Büro meines Professors zu sitzen, um meine Hausarbeit zu besprechen. Das Thema war, inwiefern der Islam eine Ideologie und keine Religion ist. Ich fing fürchterlich an zu weinen, was mir sehr unangenehm war. Er schaute mich an und sagte: „Ich kenne das Gefühl. Ich werde politisch verfolgt in Venezuela. Gerade zu Weihnachten ist es schrecklich, allein zu sein. Doch es ist erträglich. Denn du hast deine Gründe, so wie ich.“ Diese Worte haben mir wieder Mut gegeben, für meine Ansichten einzustehen.

Gibt es muslimische Lebensregeln, die du noch befolgst?
Ella: Ja, ich bete tatsächlich, wenn ich mich in schwierigen, stressigen Situationen befinde. Aber eher um dieses Gefühl von Geborgenheit zu bekommen. Ebenso führe ich die Grundreinigung durch, bevor ich bete. Dabei wäscht man sich den ganzen Körper, aber besonders das Gesicht und den Intimbereich. Das mache ich immer morgens und abends.

Was ist deiner Meinung nach notwendig in der Diskussion zwischen praktizierenden und ehemaligen Muslimen?
Ella: Zunächst ist es wichtig, dass Ex-Muslime nicht mehr als „Einzelfälle“ betrachtet werden. Es ist nämlich erschreckend, wie viele Ex-Muslime es gibt und wie sie teilweise auch von der Mehrheitsgesellschaft verdrängt werden, da man nicht in die rechte Ecke gestellt werden möchte. Doch es muss möglich sein, den Islam im öffentlichen Diskurs konstruktiv kritisieren zu können.
Aber es ist eben genauso wichtig, dass Ex-Muslime nicht benutzt werden, um rassistische Ansichten bestätigt zu bekommen, trotz der Probleme, die im Islam herrschen. Gleichzeitig ist es notwendig, dass innerhalb der muslimischen Gemeinschaft eine Revolution und eine Reformation des Korans stattfindet. Sodass er im Kontext interpretiert wird und nicht wortwörtlich.

* Name wurde von der Redaktion geändert

Text: Fatima Maged, Titelbild: Luzie Carola Rietschel
<h3>Fatima Maged</h3>

Fatima Maged

ist 25 Jahre alt und studiert im 4. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Seit dem Wintersemester 2020/21 ist sie Redakteurin bei medienMITTWEIDA.