Aufstieg zur Trendspirituose

Gin ist in

von | 30. Dezember 2018

Die Geschichte des Kultgetränkes und sein Herstellungsverfahren: Gin ist auf dem Erfolgsweg.

Die traditionelle Barkultur erlebt eine Renaissance und spült eine klassische Spirituose nach oben: Gin. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass neue Marken präsentiert oder ältere, bereits etablierte Marken um neue Varianten ergänzt werden. Das Angebot aus vielen Ländern der Welt ist kaum noch überschaubar. Keine Spirituose hat eine derartige Aromenvielfalt zu bieten. Doch was ist es, was an diesem „Wacholderschnaps“ so fasziniert und ihm zu einer Renaissance im aktuellen Jahrzehnt verhilft?

„Vor fünf Jahren bestellte bei mir noch niemand seinen Gin and Tonic mit einem bestimmten Gin oder einem bestimmten Tonic“, erklärt Waldemar Bornemann, Barchef des Gin House in Dresden, „heute ist das Standard.“ Den blumigen Monkey 47 wünscht der Gin-gebildete Gast mit dem leichten 1724 Tonic Water, weil das die Aromen nicht erschlägt, den Sipsmith Gin will er mit Fentimans, den Adler Gin mit Thomas Henry.

Deutschland – „the land of beer, riesling and schnapps has suddenly gone mad for gin”, schreibt die New York Times. Plötzlich entstehen in Deutschland Premiumgins: In der Preußischen Spirituosen Manufaktur in Berlin produzieren der Mikrobiologe-Professor Ulf Stahl und der Gastronom Gerald Schroff in Handarbeit den sehr milden, leicht zitronigen Adler Gin; in der Maxvorstadt nahe der Münchner Universität kreieren die Historiker Daniel Schönecker und Maximilian Schauerte den biozertifizierten Duke Gin, der seine weiche Note auch Hopfen und Malz verdankt. Benannt ist er nach Herzog Heinrich dem Löwen, dem Stadtgründer Münchens.

Deutscher Gin an der Spitze

Der „König der Gins“ kommt aus dem Schwarzwald: der Monkey 47, der 2011 beim World Spirits Award zum weltbesten Gin gekürt wurde. Der ehemalige Kunstbuchverleger Christoph Keller und der frühere Nokia-Manager Alexander Stein bannen 47 Kräuter, Gewürze und Früchte in eine braune Apothekerflasche, deren Etikett an eine Briefmarke der viktorianischen Kolonialzeit erinnert. Dass dieser ungewöhnliche Gin in kurzer Zeit zu einem Bestseller wurde, löste eine Lawine aus: Das Interesse am „Nationalschnaps“ der Engländer stieg nicht nur in Deutschland rapide an. In fast ganz Europa und in Übersee riskierten immer mehr Brenner das Experiment mit dem Wacholder.

Die meisten Gin-Marken kommen nach Recherchen der Fachzeitschrift DRINKS aus Deutschland. Ca. 170 Marken werden hier hergestellt. Großbritannien bringt es mit seinen Gins „nur“ auf 77 Marken. Die Spanier stehen mit 31 Gin-Marken auf Platz drei.

„They’ve all gone mad for gin“

Im Gegensatz dazu liegen die Niederländer mit 12 Gin-Marken relativ weit zurück. Dabei war der Erfinder des Gin-Vorläufers Genever auch Niederländer. Sylvius de Bouve war Naturwissenschaftler und lehrte an der Universität in Leiden. Er hatte Mitte des 16. Jahrhunderts eine Arznei auf der Basis von Getreidedestillat kreiert, der er Wacholder zusetzte. Diese galt schon bald als geschätztes Heilmittel. Dass Genever dann schließlich nach England kam und zum Gin verkürzt wurde, hatte politische Gründe.

Erstmalig brachten wohl englische Soldaten, die im spanisch-niederländischen Krieg gekämpft hatten, den Schnaps im 17. Jahrhundert mit in ihre Heimat. Es wurde zum Modegetränk, als der Niederländer Wilhelm III. von Oranien 1689 den englischen Thron bestieg. Um das ihm verhasste Frankreich zu strafen, belegte er Waren aus dem Land mit so hohen Zöllen, dass den Briten die Lust an französischen Weinen und Schnäpsen verging. An Hochprozentigem blieb ihnen neben dem Rum aus den englischen Kolonien nur der wenig geschätzte Whisky der Schotten – und der mit William III. ins Land gekommene Genever. Nach King Williams Tod 1702 bestieg Queen Anne I. den Thron. Sie setzte die Anti-Frankreich-Kampagne ihres Vorgängers fort und erlaubte außerdem jedem ihrer Untertanen das lizenzfreie Gin-Brennen. Diese Entscheidung sollte den Genever zum Gin machen und England an den Rand des Ruins bringen. Denn durch den Wegfall des bisherigen Monopols der gewerblichen Brenner nahm der „private gin“ überhand: In manchen Stadtteilen von London soll jedes siebte Haus einen Gin-Ausschank betrieben haben. Die alkoholbedingte Sterberate stieg massiv an und soll teilweise höher gewesen sein, als die Geburtenrate.

Die Regierung musste handeln und erlies 1751 den „Gin Act“. Die damit verbundene Einführung von Schank-Lizenzen sowie Steuererhöhungen dämmten den sogenannten „Gin-Wahnsinn“ (engl. „Gin-Craze“) ein. Gleichermaßen wurden strengere Kontrollen und Qualitätsstufen eingeführt, um den Gin bekömmlicher zu machen. In der Zeit entstanden Gins wie Old Tom und London Dry Gin, die zu Meilensteinen auf dem Weg einer soliden und seriösen Spirituosengattung wurden. Über Großbritanniens Grenzen hinaus gewann der Gin aber erst später an Bedeutung mit dem Aufkommen der Bars ab Beginn des 20. Jahrhunderts. In diesem wachsenden neuen Zweig der Gastronomie wurde der Gin als Nachfolger der zunächst als „Dutch Gin“ bezeichneten Genevers bald zur gefragtesten Barspirituose. Diesen Spitzenplatz musste er zwar Zeitweise an immer wieder andere Trendspirituosen abgeben, aber er blieb für die Mixer ein Unentbehrlicher.

Im Gin können bis zu 120 verschiedene Botanicals stecken. Foto: Emily Kalwak

Ein Spiel ohne Grenzen für Brenner

„Kaum eine andere Spirituosengattung lässt den Herstellern derartig großen Spielraum wie der Gin,“ meint Siegbert Henning. Der diplomierte Lebensmitteltechnologe und Destillateurmeister arbeitet als Geschäftsführer in der Meissener Spezialitätenbrennerei Prinz zur Lippe in Meißen und weiß um die Anforderungen an die Herstellung der verschiedensten Spirituosen. „Ob Rum, Wodka oder Whsiky, überall sind Grenzen gesetzt, sei es beim Rohstoff, bei dessen Bearbeitung oder beim Herstellungsverfahren. Je mehr ein Hersteller darf, desto größer ist seine Chance, etwas Individuelles zu schaffen. Die Gin-Vielfalt ist das Ergebnis des Spielraums der Brenner.“

Vom Prinzip her ist die Basis eines Gins hochprozentiger Agraralkohol aus Getreide oder Melasse. In ihm werden neben dem charakteristischen Wacholder weitere Kräuter, Gewürze und Früchte eingelegt. Durch sie erhält jeder Gin einen individuellen Geschmack. Nach einer erneuten Destillation wird er mit Wasser auf Trinkstärke gebracht. „Der besagte Spielraum bei der Gin-Herstellung beginnt nun schon mit dem Rohstoff für den Basisalkohol,“ erklärt Henning. Der Basisalkohol muss „landwirtschaftlichen Ursprungs“ sein. Getreide, meist Weizen, stellt die Mehrheit dar, aber auch aus Kartoffeln, Reis, Mais, Weintrauben und anderen Obst sowie Zuckerrohr und Melasse wird Alkohol gewonnen, der durch verschiedene Verfahren zu einem Gin wird. Damit sei schon eine Grundlage für die Vielfalt geschaffen, wenngleich der Basisalkohol einen vergleichsweise unbedeutenden Einfluss auf das Endergebnis habe, meint der Destillateurmeister.

Vom Herzstück bis zum letzten Schliff

„Das A und O des Gins sind seine Botanicals – also die aromengebenden Zutaten,“ erklärt Siegbert Henning. Bis vor der „Wende zur Vielfalt“ wären das kaum mehr als ein Dutzend gewesen, meint er weiter. „Schalen oder Fruchtfleisch von Zitrusfrüchten spielten traditionell tragende Rollen; kaum ein klassischer Gin kam ohne Koriander aus. Die Angelika-Wurzel war omnipräsent und Kardamom, Pfeffer und Zimt waren die gängigen Zutaten.“ In den letzten Jahren stieg die Zahl der Botanicals an: Beeren, Früchte, Kräuter, Rinden, Samen und Wurzeln aus der ganzen Welt werden in unterschiedlichster Zusammensetzung und in individueller Dosierung genutzt, um jedem Gin seinen eigenen Charakter zu geben.

Die Herkunft, also der Herstellungsort des Gins, spielen seit geraumer Zeit eine gewichtige Rolle. „In The Duke Munic Dry Gin aus der Bierstadt München dominieren im Geschmack zum Beispiel Hopfen und Malz,“ so Henning. „ Und die Schwarzwald-Note im Monkey 47 ist hauptsächlich den Fichtensprossen, Preiselbeeren und Brombeerblättern zu verdanken, während im schottischen The Botanist Islay Dry Gin, neben den neun klassischen noch 22 regionale Botanicals beigegeben werden, die es nur auf dieser „Whisky-Insel“ gibt.“

Die Botanicals werden in den Herstellungsverfahren unterschiedlich vorbereitet. Sie können frisch sein oder getrocknet, sie können einzeln oder gruppenweise mazeriert, das heißt, vor der Destillation in Alkohol eingelegt werden. Oder im gewünschten Zustand direkt in den erneut zu destillierenden Basisalkohol gegeben werden oder in einem Destillierkorb in der Brennblase von dem zuerst aufsteigenden Alkoholdampf durchzogen und damit „ausgelaugt“ werden. Hersteller von Distilled Gin können den Basisalkohol für eine zweite Destillation von einem anderen Brenner oder von staatlichen Stellen beziehen oder selbst erzeugen. Es unterscheidet sich ebenfalls, ob die die Brenner den Basisalkohol im sogenannten kontinuierlichen oder klassischen Verfahren (erst Rohbrand, dann Feinbrand) mit den jeweiligen Botanicals nochmal destillieren und welche Größe und Form die dafür benutzten Brennblasen oder -säulen haben.

Danach müsse der fertige Gin ruhen, bis er sich auf Trinkstärke herabgesetzt hat und sich die einzelnen Bestandteile zu einer harmonischen Einheit verbunden haben, erläutert Destilliermeister Siegbert Henning. Für dieses Ruhen werden in der Regel Behältnisse aus Steingut, Glas oder Edelstahl verwendet. „Inzwischen kommen aber immer mehr im Fass gereifte Gin-Varianten auf dem Markt. Die Hersteller orientieren sich am Vorbild des finishings von Malt Whisky. Es ist die erste und einzige Art der Alterung für einen Gin überhaupt. Der ursprüngliche Inhalt des Reifefasses gibt dabei Holzton und zusätzliches Aroma an den Gin ab,“ ergänzt Henning. Diese Gins werden auch Reserve Gin genannt.

Was für ein Gin darf es sein?

Die Europäische Union hat 2008 per Verordnung definiert, was als Gin bezeichnet werden darf. Grundsätzlich muss jeder Gin einen Mindestalkoholgehalt von 37,5 Prozent enthalten. Eine Ausnahme ist der sogenannte Sloe Gin, der jedoch keine „richtige Sorte“ darstellt, sondern ein Likör mit mindestens 25 Prozent Alkoholgehalt ist.

Auf den Karten von Bars und den Etiketten auf Gin-Flaschen findet der Gast trotzdem verschiedenste Bezeichnungen, die durchaus verwirrend sein können. Denn mal geben sie Auskunft über eine bestimmte Herstellungsmethode, mal über die Herkunft, mal über den Geschmack.

Gin-Sorten im Überblick

Distilled Gin – ist ein Oberbegriff für sämtliche Sorten, die durch erneute Destillation ihrer Botanicals gewonnen werden. Diese aromagebenden Zutaten können entweder als Mazerate oder direkt im Basisalkohol destilliert werden. Natürliche oder naturidentische Zutaten und Aromaextrakte dürfen zur Aromatisierung verwendet werden.

Dry Gin – darf ein Gin laut Zusatz in der EU-Verordnung aus dem Jahr 2014 nur dann heißen, wenn er an zugesetzten süßenden Erzeugnissen nicht mehr als 0,1 g Zucker je Liter des fertigen Produktes enthält. In puncto Süße ist diese Sorte mit dem London Gin gleichgestellt.

London (Dry) Gin – muss nicht in London hergestellt worden sein. Egal, ob er mit oder ohne Zusatzangabe „Dry“ gehandelt wird, er ist den strengsten Vorschriften unterworfen. Er darf z.B. außer Wasser keine anderen zugesetzten Zutaten enthalten. Wenn den Destillaten nachträglich (nicht mitdestillierte) Aromen zugesetzt werden, dann darf dieser Gin nicht mehr unter dem Namen London (Dry) Gin etikettiert werden.

Plymouth Gin – ist (auch) eine geschützte Herkunftsbezeichnung und damit in gewisser Weise eine Sorte für sich. Die ist weniger stark von Wacholder geprägt, dafür aber von dezent-fruchtiger Süße.

Des Weiteren gibt es auch „inoffizielle“ Sorten, die zwar keine festgeschriebenen Kategorien darstellen, aber verwendet werden, um der Vielfalt des Gin Struktur zu geben: So gibt es den Old Tom Gin, der mehr oder weniger stark gesüßt ist. Dieser Typ gilt als ursprüngliche Gin-Sorte überhaupt. Der New Western (Dry) Gin unterscheidet sich von den traditionellen Sorten vor allem dadurch, dass nicht mehr der Wacholder die Hauptrolle im Aroma spielt, sondern eine oder mehrere andere Zutat/en. Und beim Compound Gin oder auch Bathtube Gin, wurden die geschmacksgebenden Zutaten ggf. zeitversetzt in den Alkohol eingelegt und ziehen darin, bis sie ihre Aromen abgegeben haben. Eine Destillation findet nicht statt.

Die Folgen der Vielfalt

Die Herstellung von Gin kann als „Spiel ohne Grenzen“ bezeichnet werden. Damit sind neuen Marken, Sorten und Abfüllungen die Türen geöffnet. Traditionelle Gin-Genießer und -Mixer kritisieren das Abkehren vom Klassischen, also dem wacholdergeprägten Gin-Stil und setzen auf Traditionsmarken oder konzentrieren sich gleich auf pure Wacholderbrände.

Für den aufgeschlossenen Konsumenten hat das weite Gin-Angebot aber durchaus seine Reize: Kaum eine andere Spirituosengattung kann mit einer solchen Auswahl zum Probieren und Vergleichen aufwarten. Für die Barkeeper, die mit Gin mischen oder mixen, tun sich unzählige Möglichkeiten auf.

Ein „Martini“ auf der Basis des klassischen Gin kann trotz gleicher Mengenverhältnisse und identischer Zubereitungsart völlig anders schmecken, als der Cocktail, der mit dem trendigen neuen Gin der Marke X zubereitet wurde. Das gilt nicht nur für den „Martini“, sondern für viele klassische Gin-Cocktails und Drinks, allen voran dem „Gin and Tonic“. Viele Bars haben sich inzwischen eigens darauf spezialisiert – zum Wohl oder Übel der vielfältigen Barkultur, je nachdem aus welcher Sichtweise es betrachtet wird. Doch egal wie man es wendet, unter solchen Voraussetzungen hat der zur Trendspirituose gewachsene Gin beste Chancen dies auch noch längere Zeit zu bleiben.

Text: Emily Kalwak; Fotos: Laura Fischer, Lydia Pappert und Emily Kalwak
<h3>Elisa Raßmus</h3>

Elisa Raßmus

ist 24 Jahre alt. Sie studiert im 5. Semester Medienmanagement mit der Vertiefung Journalismus. Seit 2016 arbeitet sie nebenbei in der Onlineredaktion bei der Freien Presse in Chemnitz. Außerdem hat sie sich für ein Volontariat bei der Mitteldeutschen Journalistenschule entschieden. Dieses läuft seit dem Sommersemester 2018 parallel zum regulären Studium. Seit April 2018 betreut sie das Ressort Story als Ressortleiterin bei medienMITTWEIDA.