Selbstverletzendes Verhalten

Wenn Schmerz zur Sucht wird

von | 13. August 2019

Ritzen ist ein großes Tabuthema. Wie entkommen Betroffene dem Teufelskreis aus Zweifeln, Druck und Narben?

TRIGGERWARNUNG!

Dieser Beitrag behandelt Selbstverletzendes Verhalten und sollte nur in einem psychisch gefestigten Zustand gelesen werden.

 

Strandurlaub, Boxsack, Stereoanlage auf Anschlag: Wenn der Stress zu viel wird, muss ein Druckventil her. Für ein Viertel der Jugendlichen heißt das Mittel ritzen, brennen, gegen Wände laufen. Wenn der Schmerz zur dauerhaften Sucht und die Schnitte in die Haut tiefer werden, reicht das Verbinden der Wunden nicht mehr, es wird lebensgefährlich. Eltern, Freunde, Familie – manchmal sehen alle die Narben. Aber Scham und Angst verhindern den Schritt, sich externe Hilfe zu suchen. Mit selbstverletzendem Verhalten (SVV) aufzuhören, ist schwierig. Die 18-jährige Nina, die in Wirklichkeit anders heißt, hat es geschafft – vorerst.

Mein Zimmer, mein Bett fühlen sich nicht an wie zuhause. Dunkel ist es, ich sollte Licht anmachen, ich schaffe es nicht. Ich fühle mich leer. Eigentlich fühle ich gar nichts, außer mich ignoriert. Ich will nicht so sein, wie ich bin. Aufbrausend und im nächsten Moment leise – unberechenbar eben. Ich blicke runter auf meinen Unterarm: Dünne, rote Linien, deutlich erkennbar. Willkommen zurück, meine bösen Gedanken. Jetzt fangen die Tränen an zu laufen. Der Schmerz verlangt, gespürt zu werden. Die Stimmen in meinem Kopf, sie werden lauter, sie machen mich fertig. Und dann ist es passiert: Eine neue, rote Linie. Es blutet. Ich lebe. Wenn ich mich ritze, fühle ich mich gut, danach geht es mir dreckig. Die Narben wird man wie immer sehen und wie immer wird mich keiner darauf ansprechen. Was sollen sie auch sagen, es ist ja offensichtlich. Es ist mein Hilferuf, laut schreien kann ich nicht. Aber es interessiert eh keinen, deshalb trage ich neuerdings Pullis. Langärmlig versteht sich. Schon krass, was so ein Stück Stoff alles verdecken kann, meine ganze Geschichte. Der Pulli macht mich zu einem normalen Mädchen. Der Pulli versteckt, was ich wirklich bin: einsam.

Wenn Nina von den inneren Monologen während ihrer Schulzeit und den Abenden danach erzählt, klingt es ähnlich wie in der beschriebenen Szene. Nicht nur ihr Zimmer mit der BVB-Bettwäsche, den Mario Götze-Postern und vielen Fotos mit lachenden Gesichtern an der Wand, waren Tatorte, sondern auch die Schultoilette. „Wenn ich mich auf eine bestimmte gesetzt habe, wusste ich, jetzt ist es mit dem Gegenhalten vorbei, jetzt passiert es wieder“, erklärt die 18-Jährige. Inzwischen hat sie die mittlere Reife mit einem Einser-Schnitt. Seitdem ist sie „clean“ wie sie stolz erzählt, seit zwei Jahren ritzt sie sich nicht mehr.

Großer Anteil an Jugendlichen ist betroffen

Ritzen ist nicht die einzige Möglichkeit, sich selbst zu verletzten. Konkret definiert die Selbsthilfe-Plattform „Rote Linien“ dies als eine wiederholte Gewebeschädigung am eigenen Körper durch Schneiden, Verbrennen oder ähnlichem – ohne sich selbst töten zu wollen. Dazu gehören also neben dem Ritzen beispielsweise gegen die Wand rennen, sich Haare auszureißen oder sich zu beißen. Die Zahlen für Deutschland: Die häufigste Methode mit 65 Prozent bei den 15- bis 24-Jährigen ist das oberflächliche Ritzen. Mindestens eine Million und bis zu 5,6 Millionen Jugendliche sind von SVV betroffen. Diese Zahlen hat Kinderpsychater Thomas Lempp für sein 2013 erschienenes Buch über Kinder- und Jugendpsychatrie erhoben. Eine Studie der Uniklinik Ulm, die das Ärzteblatt veröffentlicht hat, bestätigt ähnlich hohe Daten: 25 bis 35 Prozent der Jugendlichen haben sich demnach schon einmal selbst verletzt oder tun dies regelmäßig. Können die Zahlen stimmen?

„Bei einmaligem Ritzen ergeben die 25 Prozent schon Sinn. Dass jeder Vierte Jugendliche sich wirklich über einen längeren Zeitraum verletzt und süchtig wird, das kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Helga Raab. Die 58-Jährige ist Sozialpädagogin und arbeitet seit 19 Jahren bei der psychologischen Beratungsstelle der Diakonie Bayreuth.

Im freundlich wirkenden, hell gestrichenen Raum eines roten Backsteinhaus empfängt und berät sie Menschen, die zu ihr kommen – kostenlos und nach vorheriger Anmeldung. Dort befinden sich neben einer Sitzecke ein Baoxsack, Kuscheltiere und ganz viele Spielfiguren. Damit werden verzwickte Situationen nachgestellt. Konfession, Alter, Herkunft sind ganz egal. Ab zwölf Jahren können sich Kinder in der Beratungsstelle eigenverantwortlich anmelden, auch anonym, ohne das Wissen der Eltern. 390 Jugendliche befanden sich laut dem Jahresbericht der Diakonie Bayreuth 2017 in Einzelberatung, 45 davon ausschließlich wegen autoaggressiven Verhaltens.  Ihre 20 Arbeitsstunden pro Woche seien voll ausgenutzt, erzählt sie, und die Nachfrage werde immer größer. „Früher war der Scham, sich extern Hilfe zu holen, noch mehr vorhanden. Wobei das hier für viele der erste Schritt ist. Beratung klingt nicht so heftig wie Therapie.“ Immer mehr Jugendliche würden sich selbst anmelden, erzählt Raab.

Expertin: „Ritzen ist an sich nicht lebensgefährlich, aber …“

Nina, die inzwischen „clean“ ist, musste sich ihre Therapeutin auch selbst suchen, als sie irgendwann merkte, dass sie es nicht mehr allein schafft, vom Ritzen wegzukommen. Geholfen habe ihr bei dem schweren Schritt der Vertrauenslehrer ihrer Schule, auch wenn ihre Eltern strikt dagegen waren. „Die haben gesagt: ‚Wir brauchen das nicht‘, aber ich wollte das. Ich habe mir dann eine Adresse im Internet gesucht und habe meine Eltern kurz vor der ersten Stunde gefragt, ob sie mich zumindest hinfahren. Sie haben ‚nein‘ gesagt. Ich kam eine halbe Stunde zu spät, weil ich noch ewig diskutieren musste und hatte Schiss, dass meine Therapeutin den Termin dann sausen lässt.“ Es sei sehr schwer gewesen, eine zu finden. „Bei Vielen war nur ein Platz nach einem halben Jahr oder später frei“, erinnert sie sich.

Die Krankenkasse zahle ihr die Therapiestunden, in der Hochphase seien es zwei pro Woche gewesen, inzwischen zwei im Monat. Zuerst der Realschulabschluss und jetzt das Fachabitur laufen nebenbei. Und sie traut sich endlich wieder, kurze Sachen zu tragen. „Ich wollte meine Narben vor meinen Eltern und Freunden verstecken. Ich spiele ja Tennis und im Sommer war das mit langen Klamotten einfach zu heiß und dauernd Pullis anzuziehen, war auf lange Sicht auch nervig.“ Funktioniert habe das Versteckspiel nur begrenzt, die Geschwister und Eltern von Nina bekamen es heraus – gehandelt haben sie jedoch nicht.

Ein Fehler, wie Sozialpädagogin Raab meint. Zwar sei Ritzen an sich nicht lebensgefährlich, außer man schneidet zu tief und erwischt die Pulsader, „aber seelisch macht es dich auf Dauer kaputt und oftmals steckt mehr dahinter, dass besprochen und eventuell dringend behandelt werden muss.“ In der Tat: Die Selbsthilfe-Plattform „Rote Linien“ bezeichnet SVV nicht als Krankheit, sondern als Symptom. Es tritt also meistens in Kombination mit einer anderen psychischen Erkrankung auf, psychische Komorbidität sagen die Experten dazu. Depressionen, Essstörungen, Angst- und Zwangsstörungen, Alkohol- und Drogensucht sowie Traumatisierungen können Hintergründe von SVV sein. Nicht selten endet eine Kombination tödlich: Selbstverletzungen mit Todesfolge stehen, laut Daten des Statistischen Bundesamtes zum Verletzungsgeschehen 2017, bei den 15- bis 17-Jährigen an zweiter Stelle.

Die Gründe sind simpel und kompliziert zugleich

Dass das Ritzen wenige Grenzen kennt, kann Nina bestätigen: „Ich hatte keine Angst, die Pulsader zu erwischen. In dem Moment ist es dir wirklich egal, du willst einfach nur, dass dieser Druck aufhört. Mir war klar, dass es so nicht weitergehen kann.“ Sie habe an sich arbeiten wollen, das sei der Grundstein für eine erfolgreiche Therapie, sagt Helga Raab. „Nur wenn der Betroffene wirklich aufhören will, können wir gemeinsam arbeiten. Gerade im Anfangsstadium, kann das mit dem Aufhören echt schnell gehen und mit wenigen Sitzungen beendet sein“, sagt die Expertin. Konkrete Wochenangaben will sie nicht machen, die hingen von der Situation und dem Umfeld ab. Und den Ursachen, die facettenreich sein könnten.

„Vor allem im Teenageralter sind junge Menschen anfällig, sich selbst zu verletzten“, so Raab. Die Gründe seien simpel: Die gescheiterte Liebe, die Trennung der Eltern, schlechte Noten in der Schule, Stress mit der besten Freundin oder Mobbing. „Das sind aber alles Dinge, die man hier besprechen kann. Wenn ich merke, dass es kompliziertere psychische Hintergründe hat, muss ich die Jugendlichen dann an Kollegen verweisen“, erzählt die 58-Jährige. Dafür könnten die Leute zu ihr anonym kommen, wenn sie mögen auch ohne Eltern. „Wobei ich natürlich, sobald ich Vertrauen aufgebaut und die Lebenssituation verstanden habe, schon mit dem Betroffenen überlege, wem man sich noch anvertrauen kann. Im Idealfall erzählt er es den Eltern dann und wenn nötig machen wir die Gespräche auch mit ihnen gemeinsam, oder beide separat“, erklärt Raab.

Ninas Eltern haben genau eine Therapiestunde mitgemacht, weil die 18-Jährige sie ausdrücklich darum gebeten habe, erinnert sie sich. „Danach war aber die einstimmige Meinung, das bringt nichts, das ist nicht unser Ding. Das war enttäuschend für mich, weil ich das Gefühl hatte, dass es meine Eltern nicht mal interessierte, dass es mir schlecht geht“, erzählt Nina und senkt den Blick.

Sie habe mit dem Ritzen angefangen, weil es fünf Klassenkameraden machten und offen mit einem gewissen Stolz zur Schau trugen – so nahm es Nina zumindest wahr. Die Aufmerksamkeit war ihnen sicher, Nina wollte das auch haben. „Dadurch, dass ich die Narben eben bei ihnen gesehen habe, war es nichts Schlimmes mehr für mich. Nach meinem Schulwechsel zuvor hatte ich das Problem, dass ich nie so wirklich Anschluss an meine Klasse gefunden habe, weil ich nicht der Typ bin, der sich zu bestehenden Gruppen dazustellt. Ich wollte wer sein. Dadurch habe ich mir in der Schule enormen Druck gemacht.“

„Manchmal hält mich mein Freund eine Stunde lang fest“

Druck machte sich nicht nur Nina, er ist unter den 16- bis 18-Jährigen weit verbreitet. Eine Umfrage der Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen forsa im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover (KKH) zeigt, dass Leistungsdruck unter den 16- bis 18-Jährigen mit 31 Prozent der mit Abstand häufigste Grund für Stress in der Schule ist. Die KKH-Studie verdeutlicht außerdem, dass sich von 2007 bis 2017 die Betroffenenzahlen von Burnout und Depressionen bei den 13- bis 18- Jährigen mehr als verdoppelt hat. Insgesamt rechnet die Studie mit über einer Millionen betroffener Schüler und Schülerinnen deutschlandweit, was psychische Erkrankungen betrifft.

Inzwischen hat Nina die Schulzeit hinter sich und beginnt ihre Ausbildung. Sie beschreibt sich als sehr ehrgeizig und anders, weil sie eben selten Make-Up trage und „Jungssachen“ wie Motorradfahren und Fußball mag. Aber sie sei auch begeisterungsfähig und seit sie einen „echten“ festen Freund und ihren Schulabschluss hat, ginge es ihr enorm besser. „Ich mache noch mehr Sport und wenn es mir schlecht geht, gehe ich einfach raus in die Natur. Wir haben einen wunderschönen Aussichtsturm und der Blick über meine Heimatstadt lässt mich ruhiger werden. Manchmal, wenn es gar nicht mehr geht, rufe ich meinen Freund an. Er kommt sofort und hält mich eine Stunde lang fest. Das hilft und ist gleichzeitig wunderschön.“

Der Blick vom Aussichtsturm mitten im Wald auf ihre Heimatstadt beruhigt Nina. Foto: Jonas Braun

Auf Ersatz-Methoden, sogenannte „Skills“, greift Nina also nicht zurück, die gibt es aber, wie Helga Raab weiß. „Viele schnalzen sich mit einem Gummi an den Arm, essen Eiswürfel, schlagen gegen den Boxsack, machen die Hausarbeit oder gehen raus“, erzählt sie. Nina ergänzt, man dürfe nur nicht den Fehler machen, sich „Depri-Musik“ anzuhören, wenn es einem eh schon nicht gut ginge. „Ich habe mich eine Zeit lang mit anderen Betroffenen ausgetauscht – ganz schlechte Idee, das triggert und zieht runter.“ In einem Forumsbeitrag auf der „Rote Linien“-Plattform sind noch weitere Methoden aufgelistet: Gedanken und Gefühle in einem Tagebuch aufschreiben, laut Musik anmachen und durchs Zimmer tanzen, eine Peperoni oder Chilischote essen oder Kaugummi kauen.

Eines dürfe dennoch nie vergessen werden: „Mir hat das Reden am meisten geholfen, vor allem mit meiner Therapeutin. Natürlich ist es wichtig, dass du ihr vertrauen kannst. Mit dem Ritzen habe ich aufgehört, aber ich finde es immer noch super wichtig, zu ihr zu gehen. Einfach, um Probleme anzusprechen, die im Alltag auftreten“, erzählt Nina.

Was passiert in der ersten Beratungsstunde?

Helga Raab kennt solche Geschichten zuhauf, auch durch ihre beiden Kinder. Die Erfahrungen der Erziehung sind die Basis für ihre Arbeit. Ihr entscheidender Vorteil sei, dass sie nichts mehr erschrecke und es deswegen für Viele leichter sei, sich ihr gegenüber zu öffnen. „Ich werde, wenn ich jemanden vor mir habe, der sich ritzt, denjenigen immer darauf ansprechen. Aber so, dass es nichts Unnormales ist und dass mein Gegenüber sich nicht dafür schämen muss.“

Apropos Sitzung: Keiner müsse vor der ersten Stunde Angst haben. Die Länge variiere bei ihr je nach Bedarf, von 45 Minuten bis 1,5 Stunden. „Genauso wie der Betroffene selbst, muss ich erstmal checken: Passen wir zueinander? Die meisten wollen Fragen gestellt bekommen. Und da geht es tatsächlich erst mal darum, wer sie sind, wo sie leben, was ihre Hobbys sind, was ihnen Freude macht. Und darüber kommt man dann meistens sehr schnell und gut ins Gespräch“, sagt Raab.

Das kann Nina bestätigen, ihre erste Stunde sei ähnlich verlaufen. Inzwischen ist sie seit knapp drei Jahren in Therapie und „clean“, fühle sich wohl. Die Narben gehen trotzdem nicht mehr weg, weil sie zu tief sind. Wäre eine Lasertherapie zum Kaschieren der Wunden eine Option für sie? „Da habe ich tatsächlich kurz drüber nachgedacht“, sagt die 18-Jährige, „aber ich möchte das nicht. Die Narben gehören zu mir, sie erzählen meine Geschichte und dass ich dadurch stark geworden bin. Und das kann und soll jeder sehen.“

Text und Titelbild: Annika Braun, Foto: Jonas Braun

<h3>Annika Braun</h3>

Annika Braun

studiert Medienmanagement an der Hochschule Mittweida in der Vertiefung Journalismus und ist 21 Jahre alt. Als Chefredakteurin bei medienMITTWEIDA ist sie in diesem Semester für die inhaltliche Leitung der Redaktion verantwortlich. Erste journalistische Erfahrungen machte Annika zwischen Abitur und Studium im Lokalradio und -redaktion in ihrer Heimat Bayern. In Mittweida ist sie derzeit noch beim Radio in der Sportsendung zu hören, außerdem hat sie mit sieben Kommilitonen ein Journalismus-Startup gegründet, das Nachrichten für soziale Netzwerke aufbereitet.