Der Blick in den Spiegel

von | 5. Juni 2012

Täglich berichten deutsche Medien über Zensur in Ungarn. Thilo Tiede war vor Ort: Bei dem Dauercamp der gekündigten kritischen Medienmacher des Senders „MTV“.

Im Wohnwagen vor dem ungarischen öffentlich-rechtlichen Sender „MTV“, ausgeschrieben „Magyar Television“, versucht Aranka Szávuly Wasser zu kochen. Sie beugt sich über die Gas-Herdplatten und versucht konzentriert ein Feuer mit einem Streichholz anzuzünden. Seit 152 Tagen wohnt sie in einem provisorischen Dauercamp, direkt am Eingang des Senders. Das Camp besteht nur aus einem kleinem Pavillon und zwei Wohnwagen. Strom gibt es keinen, Gasflaschen müssen reichen.

Beim zweiten Versuch hat es Szávuly schließlich geschafft. Die 32-Jährige strahlt: „Das nächste Mal mache ich Pancakes!” Ihren Humor hat die Reporterin nicht verloren, ihren Job dagegen schon. Der Grund: Sie rebellierte – gegen Massenentlassungen im Sender, gegen immer größere Korruption und Einflussnahme der Regierung. Trotzdem wirkt sie erleichtert, fast glücklich. „Wichtig ist, dass ich am Ende des Tages in den Spiegel schauen kann“, meint Szávuly.

„Unabhängige Berichterstattung ist unmöglich geworden“

Es war Dezember letzten Jahres, als dieser Blick in den Spiegel immer schwieriger wurde und Szávuly die Entwicklungen im eigenen Land und auch im eigenen Sender nicht mehr mit ansehen wollte. Die Mediengesetze wurden verschärft, Nachrichtenagentur und Rundfunkanstalten wurden immer weiter zusammengelegt und in zwei großen Entlassungswellen wurden kritische Journalisten auf die Straße gesetzt. Der Tropfen auf den heißen Stein war ein Fernsehbeitrag von „MTV“ von Anfang Dezember 2011. „Dort wurde der ehemalige und unliebsame Richter Zoltán Lomnici einfach wegretuschiert“, erklärt Szávuly. Seitdem sei ihr das Ausmaß der Zensur erheblich klarer geworden. „Es wäre naiv zu glauben, die Medien in Ungarn wären absolut unabhängig. Aber das war das erste Mal, dass Nachrichten wirklich manipuliert wurden“, stellt Szávuly fest.

Danach entschloss sie sich mit Balázs Nagy-Navarro und weiteren Journalisten in einen Hungerstreik zu treten. Die Medien bissen an. Allein aus Deutschland berichteten „Die Zeit“, „Der Tagesspiegel“, „dpa“ und viele weitere Medien über den Hungerstreik im Dezember des letzten Jahres.

„Der Sandwich-Fall“: Die Zermürbungstaktik des Senders

Die Verantwortlichen versuchten mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen. „Kollegen von Nagy-Navarro haben in seinem  Büro ein angebissenes Sandwich versteckt und den Bericht ‚Die Wahrheit über den Hungerstreik‘ veröffentlicht”, erzählt Reporterin Szávuly und muss aufpassen, dass sie dabei nicht laut loslacht. Der sogenannte „Sandwich-Fall” sorgt  heute noch oft für Erheiterung im Camp.

Seitdem hat der Sender viele Versuche gestartet, um die unliebsamen Camper in die Knie zu zwingen: An den Feiertagen im Dezember wurden sie mit zwei Weihnachtsliedern in Dauerschleife beschallt. Ein paar Wochen später kam der Architekt vorbei, angeblich nur aus „privaten Gründen”. „Wenig später erfuhren wir von ihm, dass er die Anweisung hatte einen Zaun für das Camp zu planen”, erzählt Szávuly. Der Zaun allerdings steht bis heute nicht. Dafür wurden undurchsichtige Reflektor-Folien an den Fenstern des Gebäudes angebracht. „Wir rätseln, welcher Sinn dahinter steht”, zeigt sich Szávuly leicht irritiert. Aber sie nimmt es mit Humor: „Immerhin hat es den Vorteil, dass ich mich jetzt immer im Spiegel anschauen kann.”

Schwindendes Interesse von Medien und Bevölkerung

Der Sender hat mittlerweile aber anscheinend aufgehört, sich Finessen für die Dauer-Protestler zu überlegen. „Sie wollen wahrscheinlich keinen Anlass für neue Schlagzeilen bieten und hoffen, dass wir irgendwann aufgeben”, glaubt Szávuly. Die Taktik scheint aufzugehen. Es kommen immer weniger Menschen am Camp vorbei, das mediale Interesse ist scheinbar erloschen. Aber Szávuly und ihre Kollegen denken nicht daran, aufzugeben. „Wir bleiben hier sitzen bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und gekündigt werden”, sagt die Journalistin mit Nachdruck. Doch das kann noch einige Zeit dauern.

Vor dem Camp hängt die „Feindesliste” mit all den Namen der Senderchefs, die die Journalisten für die Korruption und Manipulation verantwortlich machen. Erst zwei Namen sind durchgestrichen, sechs bleiben noch. Eine ernüchternde Bilanz nach fünf Monaten. Neben der Feindesliste steht auf einem Banner in Großbuchstaben: „ Érted isi Érted?” Reporterin Szávuly übersetzt: „Es ist ein Wortspiel und bedeutet sowohl ‚auch für dich?‘ und ‚verstehst du?‘ – doch ich habe den Eindruck, die meisten Ungarn verstehen das gar nicht.” Sie lacht wieder, nur diesmal mit etwas Verzweiflung in der Stimme.

<h3>Thilo Tiede</h3>

Thilo Tiede