Eine Flagge für die Welt

„Wir leben in einer Zeit, in der die Leute Sehnsucht nach Einheit haben.“

von | 5. Februar 2021

Weltweite Krisen lassen uns auseinander rücken. Kann eine Flagge Einheit schaffen?

Die Nachmittagssonne strahlt auf die trockene, ewige Weite der Wüste Utahs nahe Salt Lake City. Langgezogene Schatten, sandgraue Böden und mittendrin ein blauer Kreis auf einem Transparent. Was hier von der lauwarmen Luft Utahs an Ort und Stelle getragen wird, ist nicht die Flagge eines einzelnen Bundesstaates, Landes oder Kontinents. Diese Flagge soll die gesamte Welt in sich tragen.

7,8 Milliarden Menschen in 195 Staaten verteilt auf sieben Kontinente. Es resultiert eine scheinbar unendliche Diversität, die sich bereits in diesen Zahlen widerspiegelt. Eine Diversität, die sich auch in Farben und Formen findet: jedes Land der Welt besitzt eine Flagge. Sie repräsentiert und lässt identifizieren. Doch diese Diversität beruht auf einer Gemeinsamkeit, die bisher ohne Flagge dasteht – der Erde. 

Der Fotograf und Aktivist Thomas Mandl verbrachte im Jahr 2016 schlaflose Nächte mit dem Gedanken: „Warum gibt es keine Flagge für unsere Welt?” Nicht um zu repräsentieren, sondern um sich gemeinsam als Menschen der Erde mit diesem Symbol zu identifizieren. Seitdem gibt es die One World Flag, mit welcher Thomas Mandl mehr Einheit in die Welt bringen möchte. Im Interview mit medienMITTWEIDA spricht er über sein Projekt, wo er weltweite Einigkeit vermisst und wieso auch radikale Populisten nicht von seiner Flagge ausgeschlossen werden.

Thomas, die Reise deiner Vision begann im Jahr 2016. Das Jahr, in dem das Brexit-Referendum stattfand und rechtspopulistische Parteien europaweit vor Erfolg jubelten – Ereignisse, die nicht gerade für eine weltweite Einigkeit sprechen. Wie hat sich seitdem der Weg zu mehr Zusammenhalt in deinen Augen entwickelt?

Mandl: Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, dass wir seitdem einen großen Schritt Richtung Einheit gemacht haben. Manchmal denke ich mir aber, krass, wir entfernen uns immer weiter von der Einheit. Während der Corona-Krise hat es Europa nicht geschafft, die Krise einheitlich zu managen und alle Länder haben die Grenzen zugemacht – auf einmal hieß es wieder: „Unser Land ist das wichtigste.“ Ich finde, es gab viel zu wenig Kooperation zwischen den Ländern, weltweit sowieso. 

Auf der anderen Seite gibt es aber auch sehr viele Hoffnungsschimmer für die Einheit. Es gibt die Bewegung um Greta Thunberg, Fridays For Future, die ja erst in den letzten zwei Jahren wirklich groß geworden ist. Auf einmal schafft man es, dass die Leute zusammen auf die Straße gehen – für eine gemeinschaftliche Sache. Für die Welt, für die Erhaltung dieser Welt und für den Schutz dieser Erde. Das hat sehr viel Hoffnung gegeben. Genauso Black Lives Matter, eine Bewegung, die um die ganze Welt gegangen und nicht nur in den Staaten geblieben ist. Auch die letzte Europawahl war erstaunlich positiv, es wurden wenige Spaltungsgruppen gewählt, die Europa auflösen wollten. Der Brexit ist leider passiert, aber ich glaube, wenn man alles auf einer Waage abwiegen würde, dass die Einheit immer noch ein Momentum hat und größer wird. Wir leben in einer Zeit, in der die Leute Sehnsucht nach Einheit haben.

Du bist mit deiner One World Flag nicht der einzige Aktivist, der das Fehlen einer offiziellen Flagge für unsere Welt bemerkt hat. Es gibt mehrere Mitstreiter-Flaggen. Auch die berühmte Flagge der Vereinten Nationen wird teilweise als solche angesehen – ist diese eine Option für dich?

Mandl: Das Problem ist, dass diese Flagge auf Uniformen von Soldaten klebt, die Leid bringen. In Kamerun habe ich miterlebt, dass Blauhelme, also Soldaten der Vereinten Nationen, ihr Unwesen treiben und der Bevölkerung Leid antun. Da habe ich gemerkt, dass die Vereinten Nationen nicht immer die Friedensbringer sind, die sie sein sollten. Die Vereinten Nationen sind zudem immer noch geführt von den Großmächten mit Veto-Rechten. Das heißt, es wird immer im Interesse von großen Mächten entschieden und es geht nicht um die Interessen der ganzen Weltgemeinschaft. Wenn zudem Soldaten andere Menschen töten – mit der Flagge der Vereinten Nationen auf der Uniform – was ist das dann für eine Weltarmee? Irgendwie funktioniert das nicht.

Und sind andere Mitstreiter eine Option, die unsere Welt repräsentativ darstellen könnten?

Mandl: Die Flagge von John McConnell finde ich extrem hübsch. Das ist auch die erste, die je entworfen wurde. Diese Flagge ist entstanden, als das Foto von der Welt, auf der sie komplett erhellt ist, aus dem Weltraum geschossen wurde. John McConnell, der schon eine abstrakte Flagge entworfen hatte, hat seine Entwürfe dann durch dieses Foto ersetzt. Damit war er wie ein Vorreiter für diesen Gedanken. Allerdings ist bei dieser Flagge auch das Problem, dass der Hintergrund sehr, sehr dunkel ist. Es ist zudem ein Foto zu sehen, das nur einen Teil der Erde abbildet und deswegen glaube ich, dass auch diese Flagge an ihre Grenzen kommt.

Die One World Flag in der jordanischen Wüste Wadi Rum. Foto: Lars Hermsen

Deine One World Flag besteht aus einem blauen Kreis und einem transparenten Umfeld. Wieso hast du dich für diese Transparenz entschieden, wenn unser Planet doch so viele Farben, Kulturen und Ansichten bietet?

Mandl: Ich habe lang gebraucht, um zu diesem Design zu kommen. Der Gedanke war: blauer Kreis steht fest. Aber was nehme ich als Hintergrund? Eine Flagge benötigt immer einen Hintergrund, um sie aufzuhängen. Du kannst keinen blauen Kreis aufhängen, leider. Dann gab es verschiedene Zwischenschritte, zum Beispiel einen Spiegel, der reflektiert und worin man sich selbst sehen kann. Ganz am Anfang hab ich monatelang gedacht, ich nehme einen Stoff, der changiert, also sich immer verändert mit den Lichtverhältnissen. Aber auch da ist das Problem, dass man immer nur bestimmte Farben darstellen kann und nicht alle, die die Welt zu bieten hat.  Doch wir brauchen irgendwas, das sich verändert, weil sich die Welt auch immer verändert. Und dann bin ich zu dem Punkt gekommen, den blauen Kreis und einen transparenten Hintergrund zu nehmen. Durch ihn sieht man die Welt hindurch. Dadurch verändert sich die Flagge immer. Das Schöne ist, dass man seine eigene Heimat, da wo man gerade ist, einfach durchsieht und gleichzeitig den blauen Planeten stets erkennt. Der Fokus liegt mehr auf dem zentralen Element, auf der Welt, auf der Erde, auf dem, das uns alle verbindet.

Die Menschheit ist ein fester Bestandteil unserer Erde, auch wenn damit nicht immer die perfekte Symbiose einhergeht. Zielt die Vision deines Projektes auch auf mehr Einigkeit zwischen Mensch und Umwelt ab?

Mandl: Auf jeden Fall, das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt. Schon bevor auch die Bewegung um Greta Thunberg losgegangen ist, war für mich ganz klar: Wir müssen unseren Planeten für die nächsten Generationen bewahren. Wir haben nur diesen einen Planeten und deshalb ist auch der Umweltaspekt extrem wichtig. Bevor es Corona gab, hatten wir noch keinen gemeinsamen Gegner, außer den Klimawandel. Der Klimawandel ist so ein gemeinsamer Gegner, bei dem wir gemerkt haben, wir müssen zusammenhalten. Kein Nationalstaat alleine kann den Klimawandel bekämpfen. Klima und Erhalt der Erde sind ganz wichtige Aspekte für die One World Flag.

Die Polarforscherin Frederike Krüger schwenkt die One World Flag in der Arktis. Foto: Frederike Krüger

Im Jahr 2020 ging der Tod des Afroamerikaners George Floyd um die Welt, die Gesellschaft der USA wurde politisch gespalten. Lassen dich solche Ereignisse an deiner Hoffnung nach einer vereinten Welt zweifeln?

Mandl: Klar, es ist immer wieder so, dass man sich denkt: „Mann, wieso kriegen wir es nicht hin? Warum schaffen wir es nicht, dass wir Menschen als Menschen sehen?” Die ganze Black-Lives-Matter-Bewegung hat mich überhaupt nicht kalt gelassen. Ich habe trotzdem viel Hoffnung, weil ich gesehen habe, dass sich viele Leute mit dem Thema beschäftigt haben. Leute, die auf die Straße gegangen sind, weil sich in ihnen etwas bewegt hat. Eigentlich ist daraus auch etwas Positives entstanden, weil viele Leute gemerkt haben, dass wir eine Veränderung brauchen und Lust haben, Teil der Veränderung zu sein. Ich fand und ich finde es immer noch erschreckend, aber ich sehe auch sehr viel positives, was daraus entstanden ist. Ich hoffe nur, dass das eine Entwicklung ist, die weiter geht, die nicht leise wird. Es wird ein schwieriger Kampf, aber wir müssen dran bleiben, um zu sehen, dass Menschen Menschen sind – egal wo sie herkommen, egal wie sie ausschauen.

Wie trittst du Menschen entgegen, die deine Vision als zu idealistisch oder zu optimistisch empfinden?

Mandl: Ja, da gibt es viele und es gibt auch viel Hass. Manchmal denke ich mir „Thomas, was machst du hier eigentlich? Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, den du führst.“ Aber ich habe wirklich diesen Glauben, dass wir als Menschheit noch viel, viel näher zusammenrücken könnten. Dass wir wirklich schaffen können, eine Einheit zu bilden, in der wir zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. In der wir Nationalstaaten ausblenden und Grenzen nicht so ernst nehmen – ja, ich habe diesen Traum. Ich will weiter dran bleiben, weil ich glaube, es kann funktionieren und dass ein Symbol helfen kann, um Einheit voranzutreiben und diese zu fördern. Deswegen ist es auch wichtig, ein gemeinsames Symbol zu finden; damit Leute zeigen können, dass sie der Bewegung angehören und Lust haben, in großem Maßstab zu denken und nicht in Nationalstaaten.

Flaggen repräsentieren zwar immer die Einheit einer Gruppierung, schließen gleichzeitig aber eine andere aus – ein Widerspruch in sich. Findet sich dieser auch bei der One World Flag? 

Mandl: Das ist spannend bei der One World Flag, weil es eine Flagge für alle ist. Dennoch gibt es immer eine In-Group und eine Out-Group. Man kann sich immer entscheiden, ob man bei der In-Group sein will oder bei der Out-Group. Und ich glaube auch bei der One World Flag wird es Leute geben, die keine Lust haben, sich damit zu identifizieren, die lieber bei ihren Nationalsymbolen bleiben oder die sich gar nicht identifizieren wollen. Das ist auch okay. Es soll eine Flagge für alle sein. Es soll auch eine Flagge sein für Leute, die gar keine Lust haben auf Einheit und vielleicht auch irgendwelche radikalen Ideen haben – leider ist es auch eine Flagge für diese Personen, weil ich niemanden ausschließen möchte. Es geht darum, dass jeder Teil davon sein kann und dann entscheidet, ob er oder sie Teil sein will oder nicht.

Als Aktivist bist du weltweit unterwegs und warst zuletzt in afrikanischen Entwicklungsländern. Wie reagieren Menschen, die durch Kapitalismus und Globalisierung „untergeordnet“ werden, auf dein Projekt, welches von weltweiter Einigkeit und Zusammenhalt schwärmt?

Mandl: Eine Flagge ist gerade in Ruanda. Ruanda ist wohlhabender und den Leuten geht es besser, als in anderen afrikanischen Ländern. Das ist spannend, denn ich durfte in Kigali (Hauptstadt von Ruanda, Anm. d. Red.) ausstellen und habe dort die One World Flag und auch meinen Reisepass gezeigt. Ich war erstaunt, wie viele Leute das mutig fanden und wie viele Diskussionen und Gespräche sich aus dieser Symbolik ergeben haben. In der Beschreibung stand, dass der Reisepass für mich einfach nur ein Stück Papier und Plastik ist, er aber leider darüber entscheidet, wie ich mich bewegen kann und was für Privilegien ich habe. Viele Leute haben einfach nicht die Chance, die Welt als Einheit zu sehen, weil sie nicht die Möglichkeit haben, so wie ich zu entscheiden „Hey, ich buche einen Flug.“ Den Leuten werden leider so viele Steine in den Weg gelegt, wodurch sie in fast gar keine Länder reisen können. Trotzdem habe ich gemerkt, dass auch in Ruanda viele Leute von der Idee einer gemeinsamen Flagge und Symbolik begeistert waren. Ich glaube, es gibt in allen Ländern der Welt Leute, die verstanden haben, dass es immer noch eine Welt ist. Eine Welt, die zusammenhängt und genau wie das Wetter keinen Halt macht vor Nationalgrenzen.

Dennoch läuft leider viel schief und deswegen kann ich auch sehr gut verstehen, dass Leute, die sich von reichen, westlichen Ländern ausgenutzt fühlen, sagen: „Ich kann mich damit nicht identifizieren, weil für mich diese weltweite Gemeinschaft nicht existiert.“ Deswegen hoffe ich, dass wir da hinkommen und darauf schauen, welche Länder unsere Unterstützung brauchen. Auch Deutschland hat eine große Verantwortung, denn wir entnehmen so viel von anderen Ländern, beuten sie aus und geben nur wenig zurück. Wir haben eine große Verantwortung als reiches Land, dass wir diese Unterstützung fördern.

Noch ist keine Flagge weltweit als offizielle Flagge unseres Planeten anerkannt, das Rennen läuft also noch. Wie geht der Weg deines Projektes weiter?

Mandl: Ich versuche einfach nach wie vor, meinen Vorschlag voranzubringen, vor allem mit dem Hauptfokus auf Social Media, sodass noch mehr Leute etwas davon mitbekommen. Letztendlich ist mein Ziel, dass der Diskurs um eine Flagge für die Welt wieder neu angeregt wird und vielleicht gibt es dann eine offizielle Entscheidung – ob es dann meine ist oder nicht, das ist dann dahin gestellt. Doch umso mehr Leute das sehen und sagen: „Stimmt, es gibt gar keine Flagge für die Welt“, desto besser.

Bei der ersten Mondlandung im Jahr 1969 sah man die US-Flagge im Gestein stecken – sehen wir zusammen mit dem ersten Menschen auf dem Mars deine One World Flag?

Mandl: Ja, ich fände es extrem spannend (lacht). Lustiger Fun-Fact ist, dass die US-Flagge, die von den ersten Menschen auf dem Mond reingesteckt wurde, inzwischen durch das Sonnenlicht so verblichen ist, dass sie einfach nur noch weiß ist. Wenn ich herausfinde, wie man es machen kann, dass das Blau auch im Weltraum gut zu sehen ist und nicht kaputt geht – dann, why not? Klar, es wäre cool, wenn man sie auf den Mars stellt, gleichzeitig glaube ich aber, dass diese Flagge die meiste Power tatsächlich hier auf der Erde hat.

Text: Anton Baranenko, Titelbild: Lars Hermsen

Einen tieferen Einblick in das Vorhaben von Thomas Mandl gibt es in seinem TEDxMünchen-Talk.

<h3>Anton Baranenko</h3>

Anton Baranenko

ist 22 Jahre alt, studiert Medienmanagement und liebt es, etwas tiefer in spannende Themen einzutauchen und zu recherchieren. Durch seine Leidenschaft zur Fotografie unterstützt er dazu die Bildredaktion von medienMITTWEIDA.