Wie wertvoll die Zeit in der „Generation online“ ist

von | 17. September 2014

E-Mails checken, bei Whatsapp chatten, schauen, wann der nächste Bus kommt, Rezepte googeln, online shoppen oder nach dem nächsten Shop suchen. Das Internet ist aus unserem täglichen Leben nicht mehr […]

E-Mails checken, bei Whatsapp chatten, schauen, wann der nächste Bus kommt, Rezepte googeln, online shoppen oder nach dem nächsten Shop suchen. Das Internet ist aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Doch was kann man tun, wenn Handy und Computer zum ständigen Zeiträuber werden? Und sind wir aus der „Generation online“ schon alle internetsüchtig?

Viele kennen es von sich selbst: Die Aufgabe kann ich auch später noch erledigen, die Mails kann ich auch nachher noch beantworten – das Aufschieben von doch eher wichtigen Sachen, auch die allseits bekannte Prokrastination. Sie liegt in der Natur des Menschen. Durch unsere moderne Entwicklung lauert diese Gefahr immer häufiger im Internet, da es uns ablenkt, und das sowohl in den eigenen vier Wänden als auch im Büro. Statt Entspannung beschert uns die Mediennutzung aber häufig ein schlechtes Gewissen, das fanden die Studenten der Universitäten Mainz und Amsterdam in einer Studie heraus. Aber schon viele Berufe setzen den Umgang mit dem Computer voraus, das Ablenkungspotential ist da hoch. Die Grenze zwischen dem, was uns weiterbringt, und dem, was uns aufhält, sei fließend geworden.

Apps zum Abschalten

Der amerikanische Informationswissenschaftler Fred Stutzman hat dieses Problem erkannt: „Was früher Arbeitsgerät war, ist heute Ablenkungsmaschine. Beides fällt immer stärker zusammen“, so Stutzman gegenüber „Zeit Online„. Die von ihm entwickelte Software „Freedom“ schaltet die Ablenkungspotentiale aus und schafft Disziplin und Ordnung, wenn wir sie selbst nicht herstellen können: „Wie viele Minuten Freiheit möchtest du?“, fragt das Programm. Für 10 Dollar schaltet sich der Browser für mehrere Stunden komplett ab. Die App ist kompatibel mit Windows, Mac und Android. Und wenn man den Stunden ohne Internet doch nicht gewachsen ist, lässt sich die Sperre durch einen Neustart umgehen. Bisher gibt es knapp 500.000 Nutzer von „Freedom“, Kunden wären vor allem Studenten mit festen Abgabeterminen und kreative Freiberufler wie etwa Autoren.

Andere Programme blockieren den Zugang zu bestimmten Seiten wie YouTube, Facebook oder diversen zeitraubenden Sünden. Das positive Gefühl, wenn erst nach getaner Arbeit das Internet aufgerufen wird, ist unbezahlbar. Andere Apps kontrollieren, wie effizient und produktiv gearbeitet wird. Das kostenlose Programm „Rescue Time“ erstellt Diagramme darüber, wie viel Zeit für welche Aktivität aufgebracht wurde, wie für das Beantworten von Mails oder für das Stöbern in sozialen Netzwerken. Autor und Zeitmanagement-Experte Martin Krengel stellt auf seiner Seite studienstrategie.de die Top 10 der Produktivitäts-Softwares für mehr Konzentration beim Arbeiten vor.

Das Internet als unsere neue Superdroge?

Aber eigentlich ist es paradox: Erst werden durch das Internet zahlreiche neue Möglichkeiten geschaffen und nun brauchen wir Werkzeuge dafür, um uns nicht von den Verführungen verleiten zu lassen? Doch warum haben wir das Bedürfnis, ständig online zu sein? Prof. Dr. Robert J. Wierzbicki, der für die Onlinemedien der Hochschule Mittweida zuständig ist, hat eine Antwort:

„Es ist oft das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn man nicht online ist. Man will interaktiv sein, im Netz mitwirken, Präsenz zeigen, eine Stimme haben. Vor allem dann, wenn diese im realen Leben fehlt. Online sein ist sowas wie ein Kick. Das Gehirn ‚belohnt‘ uns bei Aktivitäten, die wir als angenehm empfinden, durch einen Ausstoß des Botenstoffs Dopamin im sogenannten Belohnungszentrum des Gehirns. Dafür werden wir empfänglich. Was folgt, ist eine Art Sucht.“

Das Internet als Sucht? Vor allem bei Jugendlichen scheint dieses Problem präsent zu sein. Laut der JIM-Studie 2013 des Medienpädagogischen Forschungsverbandes Südwest sind 12- bis 19-Jährige im Durchschnitt täglich 179 Minuten online. Jeder zweite Jugendliche nutzt ein Smartphone mit Internetzugang. Forscher der Universität Chicago sind der Meinung, dass Medien ein höheres Suchtpotential als Alkohol oder Nikotin haben. Aber die Zeit, die mit einem Medium verbracht wird, ist noch kein zuverlässiger Indikator für eine Sucht. Erst wenn sich bestimmte Auswirkungen bemerkbar machen, kann von einer Internetsucht gesprochen werden, dazu zählen beispielsweise die Vernachlässigung von Hausaufgaben, von anderen Freizeitaktivitäten und von realen Freunden.

Selbstversuch: Internetentzug – erholsam oder quälend?

Vielleicht ist es an der Zeit, das Internet ab und zu auszuschalten und das wahre Leben zu genießen. Medientechnik-Student Christian Böning hat für einen Festivalbesuch das Handy zuhause gelassen und positive Erfahrungen gemacht: „Für mich waren die fünf Tage Erholung pur. Es war wie eine andere Welt. Ich konnte komplett abschalten, da ich mir nicht Gedanken über Kriegsberichte, tote Promis oder sonstige Themen machen musste.“ BWL-Student Tobias Nagel hat für einen Selbstversuch drei Tage internetabstinent gelebt: „Ein wirklich positiver Effekt wäre wahrscheinlich erst eingetreten, wenn man sich eine Zeit lang voll und ganz vom Rechner entsagen würde. Dann hätte man viel mehr Zeit für andere Dinge. Aber gefehlt hat mir eigentlich nicht wirklich etwas. Und ich konnte nicht alle fünf Minuten auf Facebook schauen, obwohl ich weiß, dass es eh nichts Neues gibt. Das war irgendwie auch entspannend.“ Für diese Studenten hat sich die Zeit ohne Smartphone eher als Erholung angefühlt.

Zeit ist das kostbarste Gut

Über ein digitales Zeitalter reden wir etwa seit Ende der Siebzigerjahre, als die damals noch jungen Mikrochips in die ersten Computer eingebaut wurden. Am Wert der Zeit hat sich nichts geändert, nur an unserer Wahrnehmung, da Medien immer schnelllebiger werden. Medienhistoriker behaupten, wer heute einen Tag im Internet surft, hat mehr Bilder gesehen als ein Mensch des 12. Jahrhunderts in seinem ganzen Leben. Das sind also trotzdem noch genug Informationen, auch wenn wir mal für ein paar Tage offline sind, draußen in der Natur und etwas mit Freunden unternehmen. Prof. Wierzbicki rät das auch: „Wir brauchen Medien. Aber vor allem brauchen wir das Verständnis dafür, wie Medien genutzt werden und welche Auswirkungen sie haben können. Unser Wissen darüber ist immer noch sehr begrenzt. Mein Rat wäre wirklich, Medien mal abzuschalten, dem Schwarm nicht immer gedankenlos zu folgen, und über die Zeit nachzudenken, die einem noch bleibt.“ Denn Zeit ist das kostbarste Gut, das wir besitzen. Warum sollten wir stundenlang in einer virtuellen Welt verbringen, wenn wir auch die reale Welt erleben können?

Text: Natalie Scheffler. Beitragsbild: Hans-Jörg Aleff, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0, Bearbeitung: Thomas Kraftschenko.

<h3>Natalie Scheffler</h3>

Natalie Scheffler