Anfang Oktober hat der Streamingdienst Netflix sein Anime-Programm wieder fleißig aufgestockt. Mit dabei war auch ein besonderes Highlight: „Der Junge und der Reiher“ vom japanischen Studio Ghibli, gekennzeichnet durch den unverwechselbaren Stil des Regisseurs Hayao Miyazaki.
Hervor sticht dabei vor allem die Tatsache, dass es sich zwar um einen Animationsfilm handelt, dieser jedoch klassisch in 2D animiert ist. Von dieser Art des Filmemachens hat sich der Animationsriese Disney bereits im Jahr 2009 mit „Küss den Frosch“ verabschiedet. Einer der Hauptgründe dafür waren die besseren Einspielergebnisse der dreidimensionalen Titel. „Rapunzel – Neu verföhnt“ spielte 2010 mit über 582 Millionen US-Dollar mehr als doppelt so viel Umsatz ein wie sein zweidimensionaler Vorgänger. Offensichtlich haben sich die Zuschauerpräferenzen Anfang der 2000er-Jahre deutlich in Richtung plastischer Texturen und räumlicher Tiefe verschoben, die ein bisher unbekanntes, immersives Seherlebnis boten. Diese Strategie verfolgt der Konzern bis heute und ist damit kommerziell sehr erfolgreich.
Demnach könnte man fast in Versuchung geraten, Hayao Miyazaki zu unterstellen, dass er sich mit seinen mehr als 80 Lebensjahren aus reiner Bequemlichkeit und einer kräftigen Prise gutem alten Konservatismus dagegen wehrt, mit der Zeit zu gehen und lieber auf seinen vermeintlich veralteten Methoden beharrt. In einem Interview aus dem Jahr 2014 antwortete er auf die Frage, ob er jemals daran gedacht habe, in 3D zu animieren: „Ich kann nur Animationen in 2D erstellen. Es gibt für mich keine andere Wahl. Ich weiß nicht einmal, wie man ein Smartphone benutzt.“ Etwas Besseres konnte der Filmbranche wahrscheinlich nicht passieren.
Die einzigartige Magie handgemachter Animation
Der visuelle Stil von Miyazaki und des Studio Ghibli, bekannt für Filme wie „Mein Nachbar Totoro“ und „Chihiros Reise ins Zauberland“, bringt einen Zauber und eine Tiefe mit sich, die wohl nur handgezeichnete Animationen leisten können. Befürworter dieser Methode betonen oft, dass die handgefertigte Optik nicht nur ästhetischer, sondern auch emotional ausdrucksstärker ist als moderne 3D-Animationen. Man kann die Hingabe und die Handarbeit in jeder Linie und jedem Bild spüren – eine Qualität, die den Zuschauer näher ans Geschehen heranbringt und eine intime Verbindung zu den Charakteren und ihrer Welt schafft.
Miyazakis Filme erinnern an eine Zeit, in der Geschichten für das Herz erzählt wurden, und genau das scheint in der modernen Animation zunehmend verloren zu gehen. Die frühen Disney-Klassiker wie „Pinocchio“, „Susi und Strolch“ oder „Robin Hood“ sind Beispiele dafür, wie handgezeichnete Animation Emotionen auf eine ungefilterte, beinahe rohe Art und Weise zum Ausdruck bringt. Der Schritt zum 3D, wie ihn Disney und Pixar gemacht haben, mag technische Meilensteine gesetzt haben, doch viele dieser Filme wirken glatter und polierter – oft jedoch auch seelenloser.
Ambivalenz und emotionale Tiefe als Erfolgsrezept
Es stellt sich die Frage, warum so viele Studios den Charme und die Wirkung der 2D-Animation aus den Augen verloren haben. Sicherlich bieten 3D-Animationen mehr Flexibilität und Effizienz, doch dies geschieht oft auf Kosten des emotionalen Ausdrucks. Ein handgezeichneter Strich kann, so unregelmäßig er auch sein mag, das Widersprüchliche und Menschliche einfangen – etwas, das in synthetischen 3D-Modellen selten zu finden ist.
Genau dort kann Miyazaki wiederum seine wohl größte Stärke ausspielen und seine Geschichten mit Komplexität und Tiefgang transportieren. Anstatt wie viele westliche Animationsfilme häufig auf actiongeladene Szenen, Humor und klare moralische Botschaften zu setzen, laden Ghibli-Filme dazu ein, die Grenzen von Gut und Böse zu hinterfragen und sich auf eine Entdeckungsreise durch die Natur, Spiritualität und das Menschliche zu begeben. Miyazakis Welten sind durchdrungen von einer tiefen Liebe zur Umwelt und einer Sensibilität für die Verflechtung von Mensch und Natur, aber auch wiederkehrende Themen wie Krieg und Verlust.
In Filmen wie „Prinzessin Mononoke“ oder „Das wandelnde Schloss“ verschmelzen Fantasie und Realität auf eine Weise, die sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht und eine lebensnahe Komplexität bietet, die vielen modernen Animationsfilmen fehlt. Die Charaktere in Studio Ghiblis Universum wachsen nicht durch die Bewältigung großer Abenteuer, sondern durch innere, oft stille Wandlungsprozesse. Dieser Fokus auf emotionale Nuancen und die philosophische Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen macht die Werke von Studio Ghibli einzigartig und hebt sie deutlich von der oft glanzvoll polierten, aber inhaltlich flachen Welt vieler 3D-Produktionen ab.
Ehre, wem Ehre gebührt
Ähnlicher Ansicht scheint auch die Academy of Motion Picture Arts and Sciences zu sein. Immerhin konnte sich das japanische Studio gegen Giganten wie Disneys „Elemental“ und „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ aus dem Hause Sony Pictures Animation durchsetzen und den wichtigsten Preis der Filmindustrie nach Japan holen.
Mit „Der Junge und der Reiher“ hat uns Miyazaki zum wiederholten Mal eindrucksvoll bewiesen, dass 2D-Animation mehr als nur eine Technik ist. Sie ist eine Kunstform, die Gefühle vermittelt, Nähe schafft und dem Publikum Raum für eigene Interpretationen lässt. Klassische Animation bietet eine Alternative zur schnelllebigen, oft reißerischen 3D-Welt, die sich zunehmend auf Effekte und Perfektion konzentriert, statt auf den Kern der Erzählung.
In einer Zeit, in der computeranimierte Filme dominieren und 3D-Technologie zum Standard geworden ist, ragt Miyazakis handgezeichnete Kunst wie ein Leuchtturm in einem Meer digitaler Effekte heraus. Es ist zu hoffen, dass er damit eine neue Generation inspiriert, die Schönheit und Tiefe handgezeichneter Animation wiederzuentdecken. 2D-Animation ist nicht veraltet – sie ist zeitlos.
Text, Titelbild: Antonio Friese da Silva