„Spielwelt realer als Realität“

von | 1. Juli 2010

Es ist eine Sucht, die genau wie Alkohol, Drogen und das Glücksspiel das Leben der Betroffenen zerstört: die Sucht nach Online-Rollenspielen. medienMITTWEIDA bekam die Chance, mit einem Betroffenen zu reden.

„Ich spiele seit circa zehn Jahren am PC“, sagt Johannes Müller* gegenüber medienMITTWEIDA nach einem Aufruf in einem Forum für Spielsüchtige. „Zu Anfang waren es gewöhnliche Rollenspiele in Chats. Mit den Jahren baute es sich weiter aus. Als ein Chat nicht mehr gereicht hat, kam ein Forum hinzu. Und irgendwann WoW“, berichtet er über den Beginn seiner Sucht. Er habe kein Problem, über dieses Thema zu reden, da er den ersten Schritt überwunden habe und nun auf der Suche nach einer geeigneten Therapiestelle sei.

Nachdem Müller seine Ausbildung beendete, zog er in eine eigene Wohnung. Das Arbeitsamt gab ihm das nötige Geld für die Ersteinrichtung. Um eine Arbeitsstelle kümmerte er sich jedoch nicht. Dazu war Müller zu faul und damit galt die Devise: „Lass mal chillen“. So begann er im Alter von 20 Jahren Tag für Tag und Nacht für Nacht zu spielen.

Von einer Krankheit kann in diesem Fall jedoch noch nicht gesprochen werden, Computerspielsucht wird von der Medizin noch nicht als Krankheit anerkannt. „Die Einführung in die Klassifikationssysteme ist aber geplant“, gibt Chantal Mörsen, Leiterin der Arbeitsgruppe Spielsucht an der Berliner Charité an. Seit Anfang 2009 beschäftigt sie sich vor Ort „schwerpunktmäßig mit der Erforschung und Therapie der beiden häufigsten Verhaltenssüchte: der Glücksspielsucht und der Computerspielsucht.“

Ursachen der Verhaltenssucht

Doch wie entwickelt sich diese Form der Verhaltenssucht? Laut Mörsen könne kein konkretes Einstiegsalter angegeben werden. Vor allem bei Jugendlichen sollten Eltern aufpassen, ihr Kind nicht voreilig der Computerspielsucht zu bezichtigen und es damit „zu pathologisieren“, also für krank zu erklären. Gerade im Jugendalter sei es eine ganz normale Entwicklung, „dass sie sich ausprobieren und auch mal in allen Lebensbereichen zu exzessiven Handlungen neigen“, so die Leiterin der Arbeitsgruppe.

Ihren Erfahrungen nach gibt es nicht nur eine Ursache für die Sucht, sondern einen Komplex aus Merkmalen der Person und Merkmalen der Umwelt, in welcher sich die Person befindet. Dazu zählen unter anderem ein niedriges Selbstwertgefühl, Schwierigkeiten beim Knüpfen sozialer Kontakte und ein geringer Rückhalt innerhalb der Familie. Befindet sich eine Person zudem in einer schwierigen Lebensphase, wie zum Beispiel in einer Arbeitslosigkeit, Trennung oder verspürt sie soziale Ausgrenzung, dann sei die Gefährdung groß. Zwar handelt es sich bei den Betroffenen zu 95 Prozent um Männer, trotzdem seien auch Frauen potentiell gefährdet, stellt Mörsen im Gespräch klar.

„Ich empfand den Alltag als langweilig“

Johannes Müller erklärt: „Da ich mein Leben beziehungsweise den Alltag als langweilig empfand, konnten mich damalige Online-Games ziemlich schnell in ihren Bann ziehen. Man konnte dort Sachen machen, die im realen Leben nicht möglich waren.“ Nach eigenen Angaben begann er, sich jeden zweiten Tag ein neues Spiel herunterzuladen, da ihn das alte schnell langweilte. Binnen eines halben Jahres spielte er circa einhundert Online-Games. Dieses Spielverhalten hatte enorme Auswirkungen auf seinen Körper. „Meine Schlafenszeiten waren so sehr eingeschränkt, dass ich gelegentlich vor dem PC beim Spielen von einem Moment auf den anderen in Tiefschlaf versunken war. Manchmal habe ich dann den ganzen Tag durchgeschlafen. Meist mit dem Gesicht auf der Tastatur.“

Jedoch waren die Folgen seiner Sucht nicht nur auf seinen Körper beschränkt. Wegen Mietschulden musste er aus seiner Wohnung ausziehen, kam bei einem Freund unter. Wahrscheinlich lag darin jedoch seine große Chance, sein Freund hatte keinen Internetanschluss: Gezwungen Offline.

Heute sagt er von sich, dass sein Leben „versaut“ sei. „Das Leben ist in meinen Augen so langweilig und mir so gleichgültig geworden, dass ich mir manchmal wünsche, meinen Geist in ein virtuelles Spiel zu transferieren – nur um dem langweiligen Alltag zu entkommen.“ Freunde habe er im realen Leben auch kaum. Er muss in das Spiel eintauchen, um die für ihn wichtigen Menschen zu spüren. Von weltpolitischen Ereignissen hört er nur zufällig im Chat – ansonsten würde er das nicht mitbekommen.

Ein schleichender und langsamer Prozess

„Im realen Leben bin ich sehr schüchtern und kann den Leuten nicht in die Augen schauen. Im Spiel kommt mein wahres Ich zum Vorschein“, schildert er. In World of Warcraft sei er ein sogenannter Paladin, quasi ein Allrounder, der Müllers Charakter sehr ähnlich sein soll. Weiterhin beschreibt er, dass es ein gutes Gefühl sei, wenn andere Spieler ihn beispielsweise wegen seiner Rüstung oder der Waffe bewundern. „Wenn ich ihnen dann helfe, verspüre ich ein Glücksgefühl,“ berichtet Müller freudig. So wurde das Spiel für ihn realer als die Realität.

Generell warnt Mörsen: „Je größer und je stärker die virtuelle Welt ausgebildet ist, umso mehr Möglichkeiten hat man, sich dorthin zurück zu ziehen.“ Des Weiteren sei man umso gefährdeter, sich von der realen Welt zunehmend zu entfernen, je mehr kommunikative Tätigkeiten im Rahmen des Spiels vorhanden seien.

In Deutschland weisen knapp zehn Prozent der regelmäßigen Onlinespiele-Nutzer ein problematisches Spielverhalten auf. Etwa fünf Prozent dieser Spieler sind tatsächlich von einer Spielsucht betroffen. Trotzdem sei die Gesellschaft vorher nicht zu blind gewesen, um die Probleme, welche derartige Spiele mit sich bringen, zu erkennen. „Die Betroffenen brauchten auch erst eine Zeit, bis sie sich meldeten, sodass man verzögert mitbekommen hat, wenn Probleme in dem Bereich entstanden sind“, gibt Mörsen zu bedenken.

Auf die Frage, wie er sich sein Leben in zehn Jahren vorstellt, antwortet Müller zögerlich. Wenn ihm echtes Glück widerfahren würde, dann hätte er wahrscheinlich eine Familie und eine eigene Wohnung, vielleicht einen Job. Jedoch schränkt er dies ein: „Ich bin froh, wenn ich in zehn Jahren überhaupt noch lebe. Mir ist Leben nicht so wichtig, weil mir schon so viele Sachen widerfahren sind, dass ich mir deswegen keine Gedanken mehr mache.“

Das vollständige Interview mit Chantal Mörsen, Leiterin der Arbeitsgruppe Spielsucht an der Berliner Charité, finden Sie als Audio unter dem Spielsucht Selbsttest.

*Name von der Redaktion geändert

<h3>Bianca Schmidl</h3>

Bianca Schmidl