Ein Dach über dem Kopf, ein gut gefüllter Kühlschrank und eine Tür, die mit dem eigenem Schlüssel geöffnet oder verschlossen werden kann – das klingt für Viele selbstverständlich. Für ungefähr 417.000 wohnungslose Menschen ist das nicht der Fall, so die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Menschen, die keine vorübergehende Übernachtungsmöglichkeit finden, sind nicht nur wohnungslos, sondern auch obdachlos. Diesen Zustand will das Europäische Parlament ändern und Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen. Das vielversprechende Konzept Housing First soll helfen, diesem Ziel näher zu kommen.
Leben auf der Straße bedeutet harte Arbeit
„Obdachlosigkeit ist Stress pur“, ist sich Sebastian Böwe sicher. Er ist Mitarbeiter der Neue Chancen gGmbH und hat mit medienMITTWEIDA gesprochen. „Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Straße. Sie müssen gucken: Wo ist ein Schlafplatz, wo Sie nachts niemand überfällt, niemand belästigt? Sie müssen gucken, wo Sie am nächsten Morgen etwas zu essen herkriegen, Sie müssen gucken, wo Sie duschen, Sie müssen gucken, wo Sie Ihre Sachen waschen, Sie müssen gucken, wo Sie Geld herkriegen.“
Dabei bringen Obdachlose häufig bereits ein ganzes Paket an Problemen mit. Auch Tino Neufert, Leiter des Leipziger Streetwork-Projekts SAFE (Straßensozialarbeit für Erwachsene) der SZL Suchtzentrum gGmbH, wird damit immer wieder konfrontiert. Oft ist ein Schreiben des Jobcenters der ausschlaggebende Punkt, warum sich obdachlose Menschen an ihn wenden. „Man hat oben aufliegend zum Beispiel so ein Schreiben und wenn ich dann nachkrame, dann kommt eine Hand voll Problematiken. Diese einzelne Person hat so viele Probleme wie sonst fünf verschiedene Menschen, mit denen ich arbeite. (…) Das macht auch etwas mit dem Menschen, wenn es so schwierige Einzellagen sind.“ Für ein paar dieser Menschen konnte die Vermittlung zu Housing First neue Perspektiven schaffen.
Housing First - ein Konzept gegen Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit bedroht schon lange die Würde vieler Menschen. Modellprojekte mit dem Konzept “Housing First” bieten Langzeitwohnungslosen zuerst eine Wohnung und wollen so eine Grundlage schaffen, um die zugrunde liegenden Probleme zu beheben.
Gibt es ein Recht auf Wohnen?
Zwar ist Wohnen nicht im Deutschen Grundgesetz verankert, wohl aber die Würde des Menschen, die nach Artikel 1 GG unantastbar ist. Diese Würde kann zwar für jeden Menschen etwas anderes bedeuten, doch abgesehen von Einzelfällen ist Obdachlosigkeit ein Schicksal und keine frei gewählte Lebensform. Deutschland hat im ersten Satz des Artikels 20 des Grundgesetzes festgelegt, ein sozialer Staat zu sein. Mit der Ratifizierung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat sich Deutschland 1973 dazu verpflichtet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, bürgerliche und politische Rechte umzusetzen. Dazu gehören u.a. ein Recht auf Arbeit mit angemessenen Bedingungen, ein angemessener Lebensstandard und das Recht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen Leben.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat sich der deutsche Staat im Zwölften Sozialgesetzbuch dazu verpflichtet, Menschen mit besonderen Lebensverhältnissen und sozialen Schwierigkeiten in besonderer Weise zu unterstützen. „Die Leistungen umfassen alle Maßnahmen, die notwendig sind, um die Schwierigkeiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten, insbesondere Beratung und persönliche Betreuung für die Leistungsberechtigten und ihre Angehörigen, Hilfen zur Ausbildung, Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes sowie Maßnahmen bei der Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung.”
Ein direktes Recht auf Wohnen gibt es damit nicht, aber indirekt hat sich Deutschland dazu verpflichtet, die nötige Hilfe zu leisten, wenn Menschen aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Wer gar keine Übernachtungsmöglichkeit hat, ist nicht nur wohnungslos, sondern auch obdachlos. – Foto: Franziska Börner
Woran es bisher scheitert
In der klassischen Sozialhilfe gibt es ein Stufenmodell, in dem sich Menschen Stufe für Stufe beweisen müssen, bevor ihnen das Wohnen in den eigenen vier Wänden zugetraut wird. Tino Neufert weiß, dass das ein langer und hürdenreicher Weg sein kann. „Erstmal die Notübernachtung, dann an den Problemen arbeiten, dann geht es eine Stufe höher, dann kommt man vielleicht mal in eine WG, da kann man schonmal ein bisschen üben zu wohnen. Und wenn das dann funktioniert, geht es eine Stufe höher, dann hat man eine eigene Wohnung mit Betreuung und irgendwann hat man dann mal eine eigene Wohnung ohne irgendetwas. Bei jeder Stufe fallen da Menschen wieder runter.“ Auch Sebastian Böwe sieht diese Bewährungsproben problematisch, in denen es zum Beispiel gilt, feste Bürozeiten einzuhalten und auf Alkohol und Drogen zu verzichten. „Das schaffen einfach viele Leute nicht, die suchtkrank sind oder die diverse andere psychische Probleme haben. Die landen einfach wieder auf der Straße.” Normale Hilfsangebote wie Soziale Wohnhilfe würden da oft nicht greifen, denn viele Betroffene seien selbst nicht in der Lage, ihre Rechte einzufordern.
Neben individuellen Problemen sieht Tino Neufert mangelhaften sozialen Wohnungsbau als hauptsächlichen Hinderungsgrund für die Beseitigung von Obdachlosigkeit. Bezahlbarer Wohnraum sei knapp. „Wir wollen, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, Wohnraum zu haben und eigenverantwortlich in Wohnungen zu leben”. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes steigen die Mieten kontinuierlich. Damit wird Wohnungsnot für immer mehr Menschen zum Problem.
Das Konzept Housing First richtet sich an obdachlose Menschen, die auf der Straße leben, die eigentlich durch alle Raster gefallen sind.
Sebastian Böwe gibt Obdachlosen mit der Vermittlung von Wohnungen eine neue Chance. – Foto: Jan-Erik Nord
Housing First – Schluss mit der Obdachlosigkeit
Die Idee hinter Housing First ist so simpel wie einfach: Wohnen zuerst. Damit unterscheidet sich Housing First grundlegend von vorhergehenden Modellen, die Menschen zunächst dazu befähigen wollen, „housing ready“ zu werden, also ihre Wohnfähigkeit zu beweisen. Es ist demnach der Beginn einer Veränderung, nicht erst das Ziel. Dieser revolutionäre Ansatz wurde 1992 als „Pathways to Housing“ von Dr. Sam Tsemberis entwickelt. Seiner Ansicht nach ist Wohnen ein grundlegendes Menschenrecht.
Seit 2018 gibt es auch in Deutschland mehrere Modellprojekte, die Housing First in der Praxis überprüfen. Das erste Projekt dieser Art war Housing First Berlin, eine Projektpartnerschaft der Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH. Sebastian Böwe kümmert sich in Berlin bei der Neue Chance gGmbH um die Wohnungsvermittlung für Obdachlose. „Das Einzige, was Sie bei Housing First mitbringen müssen, ist ein Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland. Das heißt, die Miete muss irgendwie bezahlt werden, bei unseren Leuten machen das meistens die Jobcenter, Sie brauchen einen Personalausweis, Sie müssen den Wunsch und den festen Willen äußern, in einer Wohnung leben zu wollen und diese auch dauerhaft halten zu wollen. Und wenn das erfüllt ist, dann sagen wir: „Okay, wir geben dir jetzt eine Wohnung und den Rest gucken wir uns später an“.
Auch die Stadt Leipzig kümmert sich mit dem Projekt “Eigene Wohnung” um die Integration von Langzeitwohnungslosen. Tino Neufert setzte sich im Vorhinein politisch dafür ein, dass ein solches Projekt auf den Weg gebracht wird und hat für die Umsetzung einen Teil der wohnungslosen Menschen vorgeschlagen. Dabei gelte die Negativauswahl und damit die Bevorzugung der Menschen mit den meisten Schwierigkeiten und der geringsten Chance auf eine Wohnung außerhalb des Projekts, so Tino Neufert gegenüber medienMITTWEIDA. Dabei ist es ihm besonders wichtig, eines zu betonen: „Das Vorurteil, dass jeder Mensch selber Schuld ist, es ein persönlicher Makel ist, ein Mangel an Wissen und an Fähigkeiten, eine Wohnung zu bekommen und zu halten, ist nicht der Fall. Davon bin ich fest überzeugt.“
Jeder Mensch kann in Wohnraum wohnen, ist dazu in der Lage. Es müssen im Prinzip nur die Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
Lohnt sich Housing First?
Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt von Prof. Dr. Susanne Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Universität in Berlin. Die Untersuchungsergebnisse belegen: Housing First funktioniert. „Die sehr erfolgreiche Modellphase von Housing First Berlin (sowie vom ebenfalls evaluierten Projekt Housing First für Frauen Berlin) hat gezeigt, dass dieser Ansatz nicht nur funktioniert, sondern eine Lücke im bereits sehr differenzierten Angebot der Berliner Wohnungsnotfallhilfe schließt. Dem Drehtüreffekt bei langzeitwohnungslosen Menschen mit multiplen Problemlagen, die im traditionellen Hilfesystem bisher gescheitert sind, kann mit dem Ansatz Housing First begegnet werden.“
Natürlich ist Housing First auch mit Kosten verbunden. Doch Kosten entstehen so oder so, wenn sich ein Staat um seine Bürger kümmert. Sebastian Böwe ist der Meinung, dass ein ordentlicher Mietvertrag durchaus Kosten sparen kann. „Wir hatten jemanden, der hat sich immer über irgendwelche Portale Schlafstellen gesucht. Das Bezirksamt hat das bezahlt, bis zu 50 Euro. Das sind 1500 Euro im Monat. Dem habe ich eine Wohnung besorgt für um die 300 Euro warm.“ Wer eine eigene Wohnung besitzt, ist auch vor wetterbedingten Gefahren oder tätlichen Übergriffen auf der Straße geschützt. Riskante und kostenintensive Rettungseinsätze werden so seltener nötig.
Abgesehen von NPD, DKP und Unabhängige haben alle Parteien das Thema Wohnen in ihren Wahlprogrammen aufgegriffen. Die Humanisten wollen Housing First explizit als Methode gegen Obdachlosigkeit einsetzen, VOLT sieht das Potential des Konzepts und fordert eine umfangreichere Auswertung der bestehenden Modellprojekte. Ob es das Konzept Housing First in die Regelfinanzierung schafft oder es bei einigen Modellprojekten bleibt, wird sich noch zeigen.
Text: Franziska Börner
Bilder: Franziska Börner, Jan-Erik Nord