Nazis, Stasi und Corona-Leugner. Die Lebensrealität vieler Ostdeutscher wird oft auf wenige Stereotype beschränkt. Dies hat Folgen für unsere Demokratie. Nach über 30 Jahren nach der Wende fühlen sich die Ostdeutschen immer noch unterrepräsentiert und benachteiligt. Über ein diffuses Gefühl, welches über Generationen hinweg weitergegeben wird.
Die eigene Geschichte verstehen
Die Wende ist nun seit Jahrzehnten vergangen und die innere Einheit Deutschland sollte schon abgeschlossen sein. Trotzdem bestimmen Stereotype und Vorurteile weiterhin das Bild der Ostdeutschen im eigenen Land. 66 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland fühlen sich laut dem Deutschland-Monitor der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit “ im Jahr 2020 als Menschen zweiter Klasse. Laut einer Bertelsmann-Studie liegt der Ursprung dieses Verständnisses in der Wendezeit als prägendes Erlebnis. Es veränderte die gewohnte gesellschaftliche Ordnung, ging meist mit dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes sowie das Zurechtfinden in einer neuen politischen und wirtschaftlichen System einher. Des Weiteren wird in der Studie deutlich, dass bis heute erfahren wenig Ostdeutsche Wertschätzung für ihre Lebensleistung und die friedliche Revolution, die die Wende erst möglich gemacht hat. Dr. Kai Unzicker beschreibt das fehlende Verständnis wie folgt: „Die deutsche Einheit ist im Osten die Geschichte der friedlichen Revolution und der Montagsdemonstrationen, durch die schließlich die Wende herbeigeführt wurde. Die Geschichte im Westen dagegen handelt vom Scheitern der DDR an ihren wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten, woraus zwangsläufig die Wiedervereinigung folgen musste.“ Diese als unvollendet und ungleich empfundene Wende, zieht sich bis heute wie ein großer Riss im gemeinsamen deutschen Verständnis der Wendejahre. Jana Faus vom Berliner Forschungsinstitut pollytix, die die Bertelsmann-Studie durchgeführt hat, erläutert die Problematik: „Die Befragten im Osten empfinden es vielfach so, dass damals keine neue gemeinsame Gesellschaft entstanden sei. Vielmehr sei ihnen mit der Einheit nur das westdeutsche System übergestülpt worden, an das sie sich anpassen mussten“.
Unterschied zwischen Theorie und Praxis
In der aktuellen Bundesregierung ist das Problem zumindest auf dem Papier angekommen. Dazu steht im aktuellen Koalitionsvertrag: „Wir verbessern die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien in allen Bereichen. Für die Ebene des Bundes legen wir bis Ende 2022 ein Konzept zur Umsetzung vor.” Als Prestigeprojekt der Ampelkoalition solle das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ die Perspektiven der Ostdeutschen und die Rahmenbedingungen für eine gelungene Transformation der neuen Bundesländer entwickeln. In der Praxis der Bundesregierung zeigt sich eine andere Realität: In der aktuellen Ampelregierung gibt es mit Clara Geywitz und Steffi Lemke nur zwei ostdeutsche Minister*innen von insgesamt 17 Kabinettsplätzen. Damit ist der Anteil von Ostdeutschen mit neun Prozent aber niedriger als in den meisten Bundesregierungen nach 1990. Auch in der Entstehung des Koalitionsvertrages gibt die neue Ampelkoalition kein gutes Bild ab. In den 22 Arbeitsgruppen mit über 300 Mitgliedern der Regierungsparteien gab es nur 27 Abgeordnete, die als „primär ostdeutsch sozialisiert wurden“ gelten. Damit waren Abgeordnete mit nur neun Prozent an dem Entwurf des Koalitionsvertrages beteiligt, welche selbst eine ostdeutsche Perspektive einnehmen können. Dazu wurden nur drei ostdeutsch sozialisierte Staatsminister benannt, wovon einer als Ostbeauftragter im Kanzleramt für die neuen Bundesländer ernannt wurde. Er soll bei allen Gesetzesänderungen und Vorhaben die Auswirkungen auf die Ostdeutschen achten. Carsten Schneider (SPD) möchte seine eigenen Erfahrungen als Beauftragter für Ostdeutschland einbringen und fordert, dass die „die Lebensleistungen der Ostdeutschen sichtbarer und besser anerkannt werden.“ Um dies zu erreichen soll in allen öffentlichen Institutionen in Entscheidungspositionen mehr Menschen mit ostdeutscher Sozialisation ernannt werden.
Vierte Gewalt
Neben der politischen Landschaft nimmt auch die Medienbranche großen Einfluss auf die Meinungsbildung sowie die Repräsentation von Perspektiven. Lutz Mükke thematisiert in seiner Publikation „30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung“ die Eigentumsverhältnisse in der deutschen Medienbranche nach der Wiedervereinigung kritisch und geht auf die heutige Berichterstattung über Ostdeutschland ein. Mit der Eingliederung der DDR 1989/1990 in die BRD ging auch der SED-Medienbesitz in die Treuhand über. Damit begann das, was Lutz Mükke als „verheerenden Exodus intellektuellen Lebens“ bezeichnet – nämlich die Privatisierung der Ost-Medien. Nahezu alle Regionalzeitungen, die im Osten erscheinen, wurden nach der Wiedervereinigung von westdeutschen Medienunternehmen aufgekauft. Als gutes Beispiel dient dafür der Verkauf der Freien Presse, die in der DDR als auflagenstärkste Zeitung galt. Der Spiegel veröffentlichte damals eine Recherche, nachdem die Freie Presse auf Intervention von Helmut Kohl ohne Ausschreibung an die CDU-nahen Medien Union GmbH in Ludwigshafen verkauft wurde. Durch die fehlende Partizipation und ostdeutsche Perspektive in den Medienhäusern entstand das Phänomen, welches sich bis heute in der Medienlandschaft beobachten lässt: „Nach der Wiedervereinigung publizierten die westdeutschen Meinungs- und Debattenführer weiter exklusiv für die gebildeten Mittel- und Oberschichtenmilieus Westdeutschlands und trugen dadurch kräftig zur Verstetigung von ‚Ost‘ und ‚West‘ bei.“ Das „Sich-nicht-verstanden-fühlen“ vieler Ostdeutscher erhärte sich durch die vorherrschenden Stereotype und die fehlende Abbildung der gesamten Lebensrealität vieler Ostdeutschen. Wenn sich die Medien bei Themen über den Osten immer wieder auf „Stasi, Doping, DDR-Misswirtschaft, Unrechtsregime, PDS, Umweltkatastrophe, Mauertote, Rechtsradikalismus“ beschränken, erklärt Lutz Mükke, verstärke man so die Vorurteile, Stereotype sowie Narrative. Auf dieser Basis können dann populistische Bewegungen und rechte Partei, wie die AfD in den letzten Jahren große Erfolge erzielen, so Lutz Mükke.
Kollektive Erfahrungen prägen eigene Meinungen
Das Misstrauen gegenüber der Demokratie zeigt sich auch in anderen Erhebungen wie der ALLBUS der Allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften in Westdeutschland. Im Jahr 2018 gaben hier 83 Prozent der Befragten in Westdeutschland an, mit der Demokratie zufrieden zu sein. In Ostdeutschland dagegen nur 67 Prozent. Zusätzlich beeinflusse auch die individuelle soziale Lage der Befragten die Zustimmung zur Gesellschaftsordnung. Menschen, welche die Folgen der Wiedervereinigung für den Osten positiver wahrnehmen, zeigen auch mehr Vertrauen und höhere Zufriedenheit mit der demokratischen Ordnung. Daran zeigt sich die immense Bedeutung kollektiver Erfahrungen und Wahrnehmungen, die mit der gesellschaftlichen Transformation nach 1990 einhergehe. In den letzten Jahrzehnten sei die Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland signifikant gestiegen, ohne aber jemals das Niveau Westdeutschlands zu erreichen.
Aus Unverständnis wird Wut
Die beschriebenen dauerhafte und strukturelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen hat verschiedene Auswirkungen auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Historisch gesehen war Ost und West auch immer sehr eigenständige, wirtschaftliche, politische und gesellschaftlichen Entwicklungen ausgesetzt. Die Folgen sind auch mehr als 30 Jahre nach der Wende durch ein gemeinsames Wirtschaftssystem, politisches System und der Spaltung der Gesellschaft herausgefordert. Die sogenannte „innere Einheit“ Deutschlands ist nach all den Jahrzehnten nicht abgeschlossen. Dies werde immer wieder durch die Wahlergebnisse der AfD und das Aufkommen rechter Bewegungen wie bei PEGIDA oder als Reaktion auf die Corona-Maßnahmen sichtbar. Dieses Phänomen bildet nicht die Mehrheit in Ostdeutschland ab, aber bestimmen als Minderheit trotzdem die öffentliche Deutungshoheit über das Bild Ostdeutschlands. Viele Experten sind sich einig darin, dass mehr Stimmen aus dem Osten in den politischen Diskurs integriert werden müsste, um die Lebensrealität aller Ostdeutschen abseits der typischen Stereotype abzubilden. In aller Regelmäßigkeit bekennen sich Politiker, Wissenschaftler und Intellektuelle zu diesem Ziel, aber die Umsetzung bleibt meist aus. Es bleibt abzuwarten, ob die wirtschaftlichen und politischen Rissen in der Gesellschaft nach über 30 Jahren überwinden werden können und die Perspektive sowie die Lebensleistung der Ostdeutschen anerkannt werden.
Text, Titelbild: Emin