Erinnerst du dich noch an den Tod von dem ehemaligen südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela? Der Kämpfer für die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung von Schwarzen wurde im Jahre 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch kam er je wieder aus dem Gefängnis heraus? Viele Menschen sind sich sicher, dass er während seiner Haft in den 80er-Jahren ums Leben kam. Die Wahrheit ist aber: Nelson Mandela starb erst Jahrzehnte später — nämlich im Jahr 2013 an den Folgen einer Lungenentzündung. Wie kam es dazu, dass so viele Menschen sich mit ihrer Erinnerung getäuscht haben?
Wenn sich Menschenmassen falsch erinnern
Das Phänomen, dass sich eine Menschengruppe kollektiv falsch an etwas erinnert, wird als Mandela-Effekt bezeichnet. Alles begann damit, dass die britische Autorin Fiona Broome 2010 bei einer Tagung erzählte, dass Nelson Mandela längst verstorben war — dabei war er zu diesem Zeitpunkt noch quicklebendig. Sie meinte sich sogar noch an Szenen seiner Beerdigung im Fernsehen zurückerinnern zu können. Das Verrückte: Nicht nur sie erinnerte sich an seinen Tod, sondern auch andere Teilnehmer der Tagung. Und auch nach der Tagung meldeten sich verschiedene Menschen bei ihr und erzählten von ähnlichen Erinnerungen.
Der Tod von Nelson Mandela ist nur eins von vielen Beispielen des Mandela-Effekts. Auch vermeintliche Zitate pflanzten sich falsch in das Gedächtnis vieler Menschen ein. Ein bekanntes Beispiel ist der legendäre Star-Wars-Satz: „Luke, ich bin dein Vater.“ Millionen Star-Wars-Fans sind sich sicher, dass Darth Vader genau dies gesagt hätte. Dabei kam der Name „Luke“ nie in diesem Zitat vor.
Ein weiteres Beispiel ist die beliebte Pokémon-Figur Pikachu. Die schwarzen Ohren, roten Backen und seine schwarze Schwanzspitze zeichnen ihn aus — oder doch nicht? Auch hier hat sich bei zahlreichen Menschen ein falsches Bild eingebrannt. In Wahrheit hat Pikachu nie eine schwarze Schwanzspitze gehabt.
Wie der Mandela-Effekt entsteht
Es gibt verschiedene Theorien, die versuchen, das Phänomen zu erklären. Eine der bekanntesten Theorien ist die Konfabulation. Unser Gedächtnis lässt sich leicht manipulieren und kann Erinnerungen im Nachhinein verändern. Je weiter gespeicherte Informationen zurückliegen, desto mehr verblassen die Details. Die Konfabulation beschreibt den Vorgang, wenn nun die Lücken in der Erinnerungen vom Gehirn durch falsche Informationen ausgefüllt werden.
Dabei unterscheidet der Gehirnspeicher nicht zwischen wahren oder falschen Erinnerungen, sondern er legt die Informationen einfach ab. Allerdings betrifft die Konfabulation nur einzelne Menschen, keine ganze Gruppe. Wenn aber nun eine Person ihre falsche Wahrnehmung überzeugend darstellt und diese Information von Person zu Person weitergegeben wird, kann der Mandela-Effekt auftreten. Dazu kommen die sozialen Medien, die diesen Effekt um ein Vielfaches befeuern.
Sind auch unsere persönlichen Erinnerungen eine Lüge?
Allerdings gibt es nicht nur kollektiv falsche Erinnerungen, die eine Menschenmasse betreffen, sondern auch Erinnerungsfälschungen im Alltag. Unterhält man sich beispielsweise mit einem alten Freund über ein gemeinsames Erlebnis, kommt es immer wieder vor, dass wir uns anders erinnern. Da verbringt man gemeinsam einen Kurztrip und schon einige Monate später wird diskutiert, wo genau die Route entlanggeführt hat. Oft sind es Kleinigkeiten, die wir uns unterschiedlich in Erinnerung haben. Beide Parteien sind davon überzeugt, dass das Ereignis anders stattgefunden haben muss. Alte Fotos, die beweisen, dass man sich getäuscht hat, sorgen dann schnell für Erstaunen.
Diese „Pseudoerinnerungen“ entstehen nicht absichtlich, sondern automatisch. Sekündlich prasseln unglaublich viele Eindrücke auf das Gehirn ein. Von dieser Masse an Informationen selektiert das Gehirn die scheinbar relevantesten heraus, um nicht zu überlasten. Diese groben Erinnerungen entsprechen mal mehr und mal weniger der Wahrheit.
Welche Rolle Gefühle beim falschen Erinnern spielen
Wichtig ist außerdem, wie emotional das Erlebte für uns ist. Starke Emotionen können die Entstehung von falschen Erinnerungen begünstigen. Da das Gedächtnis durch subjektive Empfindungen und Meinungen beeinflusst wird, können sich die Erinnerungen im Nachhinein verändern.
Dies ist auch der Grund, warum wir eine Beziehung nach einer schmerzhaften Trennung manchmal schöner in Erinnerung haben, als sie eigentlich war. Generell erinnern wir uns an emotionale Erlebnisse deutlich länger und nehmen sie zum Teil lebendiger wahr.
Stress hingegen wirkt sich nachhaltig auf das Erinnern aus. In stressigen Situation kann ein „Tunnelblick“ entstehen, der dazu führt, dass wir uns Details nicht richtig merken können. Sobald die gespeicherten Informationen nun erneut im Gehirn abgerufen werden, füllt das Gehirn die Wissenslücken mit vorhandenen Informationen, die zu den Erinnerungsstücken passen —, jedoch mit minimalen Abweichungen. Dadurch können sich schnell Fehler einschleichen, die zum Beispiel dazu führen, dass wir das Wissen in Prüfungssituationen nicht richtig abrufen können.
Verschiedene Experimente haben gezeigt, dass auch durch Suggestivfragen und Suggestion bestimmte Inhalte bewusst in den Erinnerungen verankert werden können. Wenn beispielsweise gefragt wird „War die Frau blond oder schwarzhaarig?“, impliziert diese Frage, dass die Frau nur blond oder schwarzhaarig gewesen sein kann und nicht grau oder rothaarig. Das Resultat: wir schließen andere Haarfarben aus und erinnern uns nicht mehr an die ‚echte‘ Haarfarbe.
Durch Scheinerinnerungen unschuldig verurteilt
Besonders bei Gerichtsverfahren sind falsche Erinnerungen gefährlich. In der Vergangenheit geschah es bereits öfter, dass Verbrechensopfer Unschuldige als Täter identifizierten haben, weil sie sich falsch erinnerten. Das Gehirn hatte einige Informationen gespeichert, wie die Größe und Haarfarbe des Täters. Wird dem Opfer nun ein möglicher Täter gezeigt, werden die originalen, oftmals schwammigen Erinnerungen mit neuen Informationen vermischt. Wie ein Puzzle setzt das Gehirn diese zu einem vollständigen Bild zusammen, das jedoch nicht der Realität entspricht.
Im Fall des Amerikaners Kirk Bloodsworth wurde der Beschuldigte im Jahr 1984 zum Tode verurteilt — zu Unrecht. Der Grund dafür war, dass Augenzeugen ihn als den Vergewaltiger und Mörder eines neunjährigen Mädchens erkannt haben wollten. Fast neun Jahre wartete Kirk Bloodsworth in der Todeszelle auf seine Hinrichtung. In dieser Zeit las er 6.000 Bücher, darunter auch eines über die Möglichkeit der DNA-Analyse, um die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen nachzuweisen. Zu seinem Glück ließ der Richter den Fall wieder aufrollen und die teuren Untersuchungen durchführen. Als die Polizei dann Bloodsworths DNA mit der Erbsubstanz der am Tatort gefundenen Spermaspuren verglich, stellte man fest, dass beide nicht identisch waren. So wurde Bloodsworth 1993 wieder aus der Haft entlassen. Dieser ist nur einer von mehreren Fällen, der zeigt, wie falsche Erinnerungen zu fatalen Fehler in Strafverfahren führen können.
Erfinden statt Erinnern: das Experiment „lost in the mall“
„Lost in the mall“ war ein Experiment zu der Entstehung von falschen Erinnerungen. 24 Studierende nahmen an diesem Versuch teil. Mit dem Einverständnis der freiwilligen Versuchspersonen wurden die Familien kontaktiert und nach jeweils drei Ereignissen aus der Kindheit befragt.
Nun wurden die Studierenden beauftragt, ihre Erinnerungen zu den Kindheitserlebnissen wiederzugeben. Dazu erhielten sie einen Fragebogen sowie die Kurzbeschreibung der drei von der Familie mitgeteilten Ereignisse. Was sie jedoch nicht wussten: Neben den drei wahren Ereignissen erhielten sie zusätzlich ein viertes, fiktives Ereignis. Die Versuchspersonen sollten sich daran erinnern, dass sie als Kinder in einem Einkaufszentrum verloren gegangen waren — obwohl das nie der Fall war.
Es stellte sich heraus, dass sich ein Viertel tatsächlich an dieses frei erfundene Ereignis zu erinnern glaubten und es sogar im Detail beschreiben konnten. Im Anschluss teilte man den Probanden mit, dass eines der vier Ereignisse erfunden wurde und bat sie, die falsche Erinnerung zu benennen. Doch anstatt das fiktive Ereignis als solches zu erkennen, benannten fünf der sechs Studierenden eine der wirklich stattgefundenen Geschichten.
Wie wir Scheinerinnerungen entlarven können
Wie unterscheiden wir, ob unser Gedächtnis uns einen Streich gespielt hat? Es ist nicht immer leicht, zwischen Fantasie und Erinnerung zu unterscheiden und Erinnerungsfälschungen zu erkennen. Als betroffene Person empfindet man die falsche Erinnerung als wahr und kann sie in ihrer Struktur nicht von realen Erinnerungen unterscheiden.
Um der Erinnerungsfälschung auf die Schliche zu kommen, eignen sich handfeste Beweise wie Fotos oder Videos, die zeigen, wie etwas wirklich stattgefunden hat. Gibt es keine Beweise, so ist es wichtig, nachzuvollziehen, wie die Erinnerungen entstanden sind.
Wenn eine Erinnerung einen plötzlich extrem belastet, die bisher noch keine Rolle gespielt hat, sollte man diese unter die Lupe nehmen — insbesondere dann, wenn sie immer detaillierter wird. Der Grund dafür ist, dass das Gedächtnis sich erst an die unbekannten Informationen gewöhnen muss, die zu der Scheinerinnerung geführt haben (zum Beispiel durch äußere Beeinflussung). Erst mit der Zeit kann das Gedächtnis die neuen, zusammengesponnen Erinnerungen schneller abrufen.
Auch absurde und faktisch widersprüchliche Informationen können Hinweise sein, dass wir uns falsch erinnern. Erinnern wir uns allerdings ohne große Mühe und Einflüsse von Außen, ist die Erinnerung wahrscheinlich wahr.
Die Forschung zu falschen Erinnerungen ist noch immer nicht abgeschlossen. Forscher auf der ganzen Welt untersuchen neue und andere Aspekte dieses Phänomens. Es bleibt daher abzuwarten, welche Informationen in der Zukunft noch ans Licht kommen werden.