Unliebsam werde ich vom Schreien meines Weckers geweckt. Die Ziffern auf meinem Smartphone-Display zeigen 6 Uhr. Verschlafen braucht es einen kurzen Moment, bis ich realisiere, warum das verfrühte Erwachen meinen Samstagmorgen auf radikale Weise beginnen lässt. Ich greife nach meinem Telefon, suche den optimalen Winkel für eine Aufnahme. Der erste Tag als „that girl” beginnt.
Who is „that girl“?
6 Uhr aufstehen und ein Foto für Instagram machen. 30 Minuten Sport auf der Oceans Apart Yoga-Matte – Klick auf Aufnahme. Die Zubereitung des frischen, grünen Smoothies wird live mit den Followern geteilt. Ihre Wohnung ist 24/7 im Top-Zustand und erstrahlt in weißem Glanz. Während andere noch schlafen, ist sie bereits produktiv, führt ihr Bullet-Journal und genießt ihren aufgeschäumten Kaffee bei einem gesunden Frühstück.
Für alle, die noch nichts von dem viralen Social-Media-Phänomen gehört haben: Das „that girl” ist der Stereotyp einer erfolgreichen, produktiven Frau ist – zumindest erweckt Social Media den Anschein. Es handelt sich um Kurzvideos, welche vor allem auf Tik Tok und Instagram unter dem Hashtag #thatgirl zu finden sind. Überwiegend junge Frauen dokumentieren darin ihren Lifestyle-geprägten Alltag. Sie geben Einblick in ihre Morgen-, Tages- oder Abendroutine, begleitet durch den Klang angesagter Musik. Doch fern von Oberflächlichkeit konzentriert sich das Mädchen nicht rein auf körperliche Selbstoptimierung: Sie ist motiviert, belesen und ausgeglichen.
Um zu testen, wie realistisch der Trend ist, hat Co-Autorin Lena einen dreitägigen Selbstversuch gestartet. Für ihre Morgenroutine bedeutete das: 6 Uhr morgens aufstehen, Bett machen, 30 Minuten Workout, gesundes Frühstück zubereiten, Bullet-Journal schreiben, Skin-Care-Routine durchführen und sich bereit für die Uni bzw. Arbeit machen.
Typischer Morgen eines „that girls“, Video: Lena Grünert und Melissa Berthold
Zu sehen ist ein Lebensstil, der einen ehrfürchtig werden lässt – ein Mensch, der scheinbar keinen inneren Schweinehund zu besitzen scheint, sondern vollkommene Disziplin verkörpert. Aber was genau steckt dahinter? Welche Wirkung erzielen die Sequenzen von Kurkuma-Latte, Self-Growth-Büchern und Skincare-Routine?
Selbstoptimierung? Easy!
Auf den ersten Blick scheint der Ansatz des Social-Media-Trends einem sehr gesunden Mindset zu folgen. Sich ausgewogen ernähren, sportliche Betätigung, ausreichend Schlaf, Struktur im Leben und das Auseinandersetzen mit eigenen Gedanken und neuen Denkanstößen. Das alles klingt zunächst nicht schlecht.
Auch meine anfängliche Müdigkeit am ersten Tag des Experiments verflog schnell und wich einem großen Maß an Tatendrang. Nachdem das Bett gemacht war, ich mir mein geplantes Workout und Frühstück zubereitet hatte und es gerade mal 8 Uhr war, fühlte ich mich gut. Aufgaben, die man normalerweise vor sich her schiebt, hatte ich nun bereits erledigt. So konnte ich motivierter in den Tag starten und fühlte mich frei von Schuldgefühlen.
Viele Aktivitäten waren schon vor dem Selbstversuch mehr oder weniger Teil meines Alltags. Die Strukturierung und Planung und der Gedanke alles an einem Tag geschafft zu haben, gaben mir ein gutes Gefühl. Besonders das Tagebuchschreiben, nimmt einem bereits nach dem ersten Versuch, etwas seelischen Ballast von den Schultern. Rein das Empfinden, sich etwas von dem Herzen „geredet” zu haben, bremst das Gedankenkarussell über den Tag etwas aus.
Tag eins des Selbstversuchs: Lena schreibt Bullet-Journal, Foto: Melissa Berthold
Perfect, perfect, perfect!
Eine allgemeingültige These lässt sich zwar nicht aufstellen, jedoch ist auffallend, dass vorrangig sehr schlank aussehende Frauen in den „that girl”-Videos zu sehen sind. Der Sport sieht meistens mühelos aus. Outfit, Haare und Make-up – alles sitzt, wie es sollte. Wer fände Schweißflecken, rote Gesichter und Bauchfalten, die unter dem Sport-BH hervorquellen auch ästhetisch?
In der Diskussion um Körperbilder sollte man den Trend nicht von der allgemeinen Tendenz zur scheinbaren Perfektion im Netz trennen. Denn die Illusion von Perfektion ist das beliebteste stilistische Mittel in den sozialen Medien. Der richtige Winkel, hier und da ein bisschen Facetune-Retusche. Daher ist es von Nöten, weitere Inhalte in den Sozialen Medien auf inszenierte Darstellung und toxische Körperbild-Fixierungen zu untersuchen. Die Kritik in Bezug auf den Zusammenhang von Instagram und Co. und körperdysmorphe Störungen befindet sich im Dauerzustand.
Der ständige Aufwärtsvergleich wirkt sich auf junge Frauen negativ aus. Je häufiger und intensiver sie Social-Media nutzen, desto eher neigen sie zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Bei einer übermäßigen Beschäftigung mit einem empfundenen Mangel am eigenen Körper entstehen Beobachtungswahn und ein hoher Leidensdruck.
Ein Wort, welches im engen Zusammenhang mit dem Trend steht, ist toxische Positivität. Darunter verstehen Psychologen den exzessiven Positivismus in allen Lebenslagen. Das Phänomen kann sich auf die Psyche der Rezipienten auswirken und zu Gefühlszuständen wie Scham, Neid und Minderwertigkeitskomplexen führen. Natürlich stellt eine positive Einstellung keine Gefahr für andere dar, jedoch gehören zum Leben nicht nur good vibes und happiness.
Tag zwei des Selbstversuchs: gesundes Frühstück, 30 Minuten Workout, Skincare, Foto: Melissa Berthold
Wie realistisch ist der Trend?
Es muss eine lange Liste an Aufgaben abgehakt werden, um das Mädchen zu sein. Spätestens am dritten Tag des Selbstversuchs – dem ersten Wochentag – stellt sich der zeitliche Aufwand als kaum zu bändigen heraus. Allein eine Morgenroutine, bestehend aus Bett machen, 30 Minuten Sport, Tagebuch schreiben, Frühstück zubereiten und lesen, umfasst eine Zeitspanne von zweieinhalb bis drei Stunden. Wenn man dazu noch arbeitet, studiert und sich für andere Projekte engagiert, ist es langfristig kaum möglich, die Vielzahl all dieser Gewohnheiten täglich beizubehalten.
Auch einen großen Teil meiner ursprünglichen Freude habe ich nach kurzer Zeit eingebüßt, als ich durch den entstandenen Zeitdruck die Aufgaben als belastende Pflichten wahrzunehmen begann. Die Gewohnheiten waren kaum eingeführt, da schlich sich ein immenser Erwartungsdruck ein. Ein Druck, den ich mir selbst auferlegte.
Obwohl man nach einer so kurzen Zeit nicht vom Etablieren einer Routine sprechen kann, hatte ich hohe Erwartungen alle Gewohnheiten, die ich mir auferlegt hatte, in vollem Umfang zu erledigen. Sobald mir klar wurde, dass ich an einem Wochentag auf keinen Fall alle meine Häkchen auf der Liste setzen können würde, hatte ich das Gefühl zu versagen. Ich wusste, worauf ich mich einließ, wusste, wie stark verfremdet die Videos in diesem Trend sein können.
Tag drei des Selbstversuchs: Bullet-Journal schreiben, frisches Gemüse einkaufen, grünen Smoothie trinken, Foto: Melissa Berthold
Wenn Selbstoptimierung toxisch wird
Eine schönere Figur, ein produktiverer Lifestyle und das bessere Mindset. Selbstoptimierung verlangt, das Beste aus sich selbst zu machen. Obwohl es sich hierbei um eine positive Einstellung handelt, kann sich das Streben nach eigener Verbesserung auch zu einem Zwang entwickeln.
Auch wenn die Videos darauf abzielen sich zu bewegen und gesund zu sein, kann das weibliche Körperbild durch den sogenannten „Fitspiration– Content“ negativ beeinflusst werden. Unsicherheiten, wie das permanente Vergleichen mit anderen oder das Gefühl zu haben, nicht zu genügen, können zu Depressionen führen.
Im Laufe des Selbstversuchs wird mir erneut bewusst, dass allein die Verwendung des Optimierungs-Begriffs diesen Prozess in eine falsche Richtung drängt. Bei Sport und dem eigenen Weiterbilden geht es für mich nicht um einen Verbesserungsprozess meines Wesens. Vielmehr möchte ich das Motiv der Gesundheit fokussieren.
Balance, Baby: Der Trend entwickelt sich weiter
Schon vor dem Experiment dachte ich, dass durch die Videos der Eindruck entstehe, das Leben dieser Mädchen bestünde zu 100 % aus Disziplin und Ästhetik. Zu jedem ausgewogenem Leben gehören, aber auch Treffen mit Freunden, mal Ausschlafen oder ein zwei Stücken Schokolade dazu. Selbst wenn keine Aufnahmen eines „that girl”-Videos gestellt sind, führt das Filtern der Momente und Tätigkeiten, welche gezeigt werden, trotzdem zur Verfremdung der Realität.
Wie einseitig die Darstellung in diesem Trend ist, wird mittlerweile adaptiert und durch den Balance-Aspekt ergänzt. Unter der Aufmachung „If you want to be THAT GIRL, you also have to be THIS Girl” oder „This isn’t healthy without THIS” werden die Videos durch Clips der anderen Seite eines ausgewogenen Lebensstils angereichert. Ein abwechslungsreiches Leben mit Genuss-Momenten, auch mal etwas Dampf ablassen, wirkt sich positiv auf das langfristige Bestehen von Motivation und Durchhaltevermögen aus.
@emmavkarlsson Balance is everything 🏋🏼♀️🧘🏼♀️🥒🍟🎞🛌🍺 #wellness #aesthetic #balancedlifestyle #selfimprovement #wellnesstok #morningroutine #hpsustainablesounds #takeanairbreak #thatgirl #fördig
♬ original sound - Josh Devine
„Amazon finds you need to become that girl”
Hinter dem einst motivierenden Trend etabliert sich mittlerweile auch ein kommerzieller Aspekt. Denn jetzt gibt es sogar Produkte, die man kaufen sollte, um das Mädchen zu werden. Seien es ästhetische Shampooflaschen, das Five-Minute-Journal, stilvolle Glaskaraffen oder Macbook-Hüllen – alle Elemente dienen als Unterstützer des Tagesablaufs und dürfen nicht fehlen.
Die Produkte stehen oft im Zusammenhang mit Amazon. Mit dem Setzen von Amazon-Affiliate Links kann man bei dem Partnerprogramm bis zu 12 % Provision verdienen. Creator machen sich diesen Vorteil zunutze und bewerben die Must-haves besonders für die jüngere Zielgruppe.
Viele der beworbenen Produkte liegen in einem Preissegment unter 100 €. Würde man allerdings alle möglichen ästhetischen Alltagsbegleiter kaufen, kann es eine Menge kosten, die beste Version von sich selbst zu werden. Mit dem Ansporn, sich zu einem produktiven Mensch zu entwickeln, hat dieser Trend ab diesem Punkt nicht mehr viel zu tun. Es scheint, als müsste man einen privilegiertes, glanzvolles Umfeld erschaffen, statt wirklich an seinen Zielen zu arbeiten.
Step by step
Laut einer Studie der Gesundheitspsychologin Philippa Lally, dauert es im Durchschnitt 66 Tage, um eine neue Gewohnheit zu etablieren. Die drei Tage des Selbstversuchs führen also noch nicht zu gewohnten Handlungsweisen. Trotzdem schafft das Experiment anhaltenden Nachhall. Durch das Experiment war ich mehr oder weniger gezwungen, mir Zeit für mich zu nehmen, egal wie stressig mein Tagesplan war.
So wohltuend die einzelnen Routinen sind – eine neue Gewohnheit zu etablieren, braucht Zeit und der Prozess sollte geduldig und verständnisvoll ablaufen. Höhere Erwartungen an sich selbst zu stellen, hilft einem zwar, Ziele besser zu erreichen. Jedoch ist es auch wichtig, nachsichtig zu sein und sich bewusst zu sein, dass das Leben selten linear und planbar abläuft.
Bei größeren Zielen hilft es, diese in kleinere Ziele zu zerlegen, und diese dann zu belohnen. Am besten beginnt man Stück für Stück mit der Einführung neuer Gewohnheiten, um sich richtig darauf einzustellen. Zu viele neue Ziele auf einmal führen nicht nur schnell zur Überforderung, sondern mindern auch den Fokus auf die Erfüllung des Einzelnen.
Nach dem Selbstexperiment stellte ich fest, dass obsessive Perfektion weder realistisch noch gesund für mich ist. Ich werde definitiv weiterhin meine Sport- und Journaling-Routine beibehalten, und alle weiteren Angewohnheiten an meine persönlichen Bedürfnisse anpassen. Auch wenn der „that girl”-Trend Quelle der Inspiration und Motivation ist, bin ich der Überzeugung, dass der Fokus letztendlich auf meinem eigenen Wohlbefinden liegen sollte und es auch vollkommen okay ist, wenn ich schon mit meiner gegenwärtigen Version zufrieden bin.