Seitdem Mitte November 2022 die Serie „Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur” (Originaltitel „Ancient Apocalypse”) auf Netflix online gegangen ist, wurde sie zurecht mehr als kontrovers diskutiert. In dieser macht sich der selbsternannte Wahrheitssucher Graham Hancock auf die Suche nach alternativen Antworten auf historische Fragen. Sein Fokus liegt dabei auf antiken Zivilisationen und deren Anfängen. Doch anstatt sich auf wissenschaftlich fundierte Informationen zu stützen, spricht er davon, sie kritisch zu hinterfragen. Hancock, dessen Theorien schon in der Vergangenheit von verschiedenen Wissenschaftler:innen kritisiert oder gar für unhaltbar erklärt wurden, wittert eine Verschwörung der etablierten Archäolog:innen. Laut ihm würde die Wissenschaft Hinweise und Funde, die anerkannte Theorien über die Ursprünge der Inka, Ägypter und anderer antiker Hochkulturen widerlegten, unterschlagen. Als angeblicher Wahrheitssucher sagt der selbstgekrönte „Enemy Number One” der Archäolog:innen ebendiesen den Kampf an und porträtiert sich selbst auf einer aufklärerischen Weltreise. Sein Ziel: Die Lügen der konventionellen Wissenschaft aufdecken und die wahren (zufälligerweise weißen) Ursprünge der antiken Hochkulturen unserer Geschichte aufzudecken.
Die Bringer:innen der Zivilisation
Doch wie sieht Hancocks alternative Theorie aus? Der Pseudowissenschaftler zweifelt seit Jahren die eigenständigen Entwicklungen der bekannten Hochkulturen der Geschichte an. Vielmehr behauptet er sogar, dass diese in sämtlichen Bereichen von Vertreter:innen einer viel älteren Zivilisation angeleitet wurden. So sollen laut ihm mysteriöse Reisende nach dem Ende der letzten Eiszeit über die Weltmeere gefahren und an den Küsten der verschiedenen Völker gelandet sein. Diese Menschen, die Hancock immer wieder als bärtige Helden beschreibt, sollen dann den indigenen Völkern Ackerbau, Architektur, Philosophie und Politik beigebracht haben.
Als Belege für seine Theorien bezieht er sich auf antike Legenden der jeweiligen Hochkulturen – wie die des Quetzalcoatl – und deren Gemeinsamkeiten. So berichten beispielsweise sowohl Geschichten der Azteken als auch der Bewohner der Inseln Maltas von Riesen, die die dortigen steinernen Gebäude erbaut haben sollen. Er nimmt diese Parallele zum Anlass, davon auszugehen, dass es sich dabei um seine erdachten Seefahrer:innen gehandelt habe. Diese bezeichnet er als Riesen des Geistes. Auch der Umstand, dass viele große Bauten der Antike nach der Sonne oder bestimmten Sternen ausgerichtet sind, nimmt er als Beleg für seine Behauptungen.
Eine weitere Gemeinsamkeit, welche ein paar seiner ausgewählten Legenden teilen, ist die Beschreibung einer verheerenden Flut, nach deren Ende die weisen Helden die Küste erreichten. Daraus schließt Hancock, dass es sich bei diesen weisen Reisenden um Überlebende einer weltweiten Katastrophe handelt. Diese sollen die letzten Menschen einer untergegangenen Zivilisation gewesen sein, die ihr Wissen weitergaben. Und bei dieser vermeintlichen Hochkultur handelt es sich nicht um irgendeine. Seine steile These besagt, dass diese gigantische, untergegangene Hochkultur die untergegangene Stadt aus etlichen Legenden, Sagen und Geschichten sei. Es handele sich dabei um Atlantis, das durch eine Flutwelle zerstört wurde, die durch einen Kometeneinschlag ausgelöst wurde!
Ein bekanntes Narrativ
Zwar mag diese pseudowissenschaftliche These zunächst lächerlich und unterhaltsam wirken, doch birgt sie beim genaueren Hinsehen eine gefährliche Botschaft. Das Wiederaufwärmen der Atlantis-Legende erweckt eine Theorie aus dem späten 19. Jahrhundert zum Leben. Bereits im Jahr 1882 veröffentlichte der Politiker und Autor Ignatius Donnelly das Buch „Atlantis: The Anteddiluvian World”. Dieses beschreibt, genau wie Hancock, dass die zivilisierten Menschen von Atlantis den unzivilisierten Völkern die Geheimnisse der Architektur und Landwirtschaft offenbart hätten. In Donnellys Atlantis waren die weißen Menschen den People of color (POCs) übergeordnet und überlegen. Dieser White-Supremacy-Gedanke schwingt mit jeder Atlantis-Behauptung Hancocks mit, besonders dann, wenn auffällt, dass er damit indigenen Völkern und antiken Hochkulturen ihre Errungenschaften aberkennt und sie fiktiven, weißen Atlantern zuschreibt.
Neben dem Bezug auf altes, rassistisches Gedankengut pflegt die Serie auch ein Narrativ der durch Telegram salonfähig gewordenen, modernen Verschwörungsmythiker. So positioniert sich Hancock mehrfach ganz klar gegen die etablierten und wissenschaftlich mehrfach geprüften Theorien der Archäologie. Auf Argumente, die seinen Aussagen widersprechen, geht er, wenn überhaupt, nur scherzhaft ein. Wenn er von Archäolog:innen spricht, dann geschieht dies stets auf abfällige Art und Weise. Dass er den gesamten Wissenschaftszweig bewusst als Feindbild präsentiert, wird besonders deutlich, wenn er Personen interviewt, die ihm angebliche Belege für seine Theorien liefern. Selbst wenn es sich dabei um studierte Archäolog:innen handelt, so bezeichnet er sie nie so. Hancock präsentiert sie den Zuschauenden als unabhängige Forschende oder als geächtete Wahrheitssucher:innen und zieht sie damit auf seine Seite, selbst wenn sie ihm eigentlich widersprechen. So zeigt die Serie zum Beispiel Professor Karul, einen türkischen Archäologen und Leiter der Ausgrabungen der bisher ältesten Großbauwerke der Welt. Dieser wirft Hancock Manipulation vor. Laut ihm habe er Hancock zwar den aktuellen Wissensstand mitgeteilt, doch habe dieser kritische Stellen herausgeschnitten und unter den Teppich gekehrt. Der umstrittene Autor soll lediglich diejenigen Aussagen verwendet haben, die seiner These Glaubhaftigkeit verleihen. Eine Vorgehensweise, die Verschwörungsschwurbler in den sozialen Medien auch sehr gerne nutzen.
Der geächtete Weise
Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Drei Wochen nach der Veröffentlichung veröffentlichte die Society of American Archaeology (SAA) einen an Netflix und ITN Productions, der Produktionsfirma hinter der Serie, adressierten offenen Brief. Im Namen der über 5000 Mitglieder bestehend aus Archäolog:innen prangert der Präsident der SAA Hancocks Machwerk an. Neben der bereits erwähnten Verunglimpfung einer ganzen Wissenschaftsdisziplin und den Parallelen zu rassistischen und längst widerlegten Erzählungen kritisiert die SAA, dass Netflix „Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur” als Doku-Serie bewirbt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hat die Streaming-Plattform noch nicht auf diesen Brief reagiert. Noch immer wird die Serie auf Netflix als „enthüllende Doku-Serie” gelistet. Auch die im Brief geforderten Hinweise, dass es sich um wissenschaftlich widerlegte oder nicht fundierte Inhalte handelt, fehlen weiterhin.
Die Veröffentlichung der Möchtegern-Dokumentation und die Vorwürfe der SAA lösten eine Welle an Faktenchecks und Kritiken aus. So wies die FAZ im Interview mit Professor Karul darauf hin, dass Hancock in einer Rekonstruktion eines antiken Bauwerkes bewusst das Dach weggelassen habe. Mit fehlendem Dach passe die Baute viel besser zu Hancocks Behauptung, sie sei einer bestimmten Sternenkonstellation am Himmel gewidmet. In einem weiteren Artikel zweifelt die FAZ zudem die von Hancock behauptete Übereinstimmung zwischen Sternbildern und Steinreliefs an, welche in einer Grabungsstätte gefunden wurden und auf die sich Hancocks Kometen-Theorie stützt. Zudem gibt es keinen Krater, den ein solcher Einschlag hinterlassen haben könnte. Die Fülle an Lücken und Lügen, in die sich Hancocks Aussagen verstricken, ist so gewaltig, dass manch studierter Archäologe mehrstündige Videos auf YouTube veröffentlichte, um diese aufzuzeigen:
Stefan Milo, studierter Archäologe und Anthropologe, rechnet in einem sehr ausführlichen Faktencheck mit Graham Hancock ab.
Hancock selbst reagiert auf die Vorwürfe wie jeder gute Verschwörungsfantast: Er spielt die zahlreiche Kritik als Panikreaktion einer handvoll Archäolog:innen herunter, welche von den unkritischen Medien papageienartig nachgeplappert werden würden. Die Aufforderung der SAA, die Serie richtig einzuordnen und mit einem Hinweis versehen solle, bezeichnet er als einen Aufruf zur Zensur.
Ein gefährlicher Strudel
Stets untermalt von einer Palette dramatischer Tuschs und bedeutungsschwangeren Blicken erzählt Hancock den Zuschauenden die haarsträubendsten Theorien. Von Beginn an stellt er sich als den sympathischen Wahrheitssucher dar, der zu Unrecht von allen verlacht wird und den man versuche zu diskreditieren. Auch wenn die Drohnenaufnahmen in den ersten beiden Folgen seltsam verwackelt sind und gefühlt jede dritte Aussage Hancocks mit einem dramatischen Sound untermalt wird, vermittelt die Serie mit ihren hochwertigen Aufnahmen aus aller Welt einen recht professionellen Eindruck. Die Underdog-Geschichte, die den Zuschauenden erzählt wird, erhält durch die Einstufung als enthüllende Doku-Serie zusätzliche Kredibilität. Zudem war „Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur” auf Netflix eine Woche lang in den weltweiten Top-Ten. Dementsprechend ist anzunehmen, dass die Serie einem sehr großen Publikum vorgeschlagen wurde. Ein Publikum, welches nicht ausschließlich aus Archäolog:innen und Wissenschaftler:innen besteht, die das nötige Fachwissen besitzen, um die Behauptungen korrekt einzuordnen. Ein Publikum, das potentiell weniger kritisch an das Konsumierte herangeht. Und genau für diese Personen wirkt die Serie wie maßgeschneidert. Sie entwickelt mit ihrer dramatischen Aufmachung und den als logisch präsentieren Behauptungen einen gefährlichen Sog. Man läuft Gefahr, die Serie für bare Münze zu nehmen und auf Schwurblerei hereinzufallen. Und das macht Hancocks Machwerk zu einer potentiellen Einstiegsdroge für Verschwörungsbehauptungen.
Auch wenn mit diesem Hintergrundwissen die Serie absurd und die Behauptungen lachhaft erscheinen, ist sie dennoch sehr gefährlich. Nicht nur predigt sie altes, rassistisches Gedankengut, sondern bedient auch ein Narrativ, welches in modernen Schwurblerkreisen häufig beobachtet werden kann. Kreise, die immer mehr Zuwachs bekommen und längst nicht mehr am Rande der Gesellschaft belächelt werden. Kreise, die immer mehr Menschen in eine Spirale aus Lügen, Angst und Hass treiben.
Fazit: Die Serie ist daher definitiv nicht zu empfehlen. Die Redaktion warnt vor ihren Inhalten.
Text, Titelbild – Arian Kerkhoff