Gatekeeping und jene, die es betreiben, haben es nicht leicht in unserer heutigen Gesellschaft: Angefeindet von allen Seiten, sind sie doch die letzte Wehr gegen den plumpen Verfall des Elitären zu Massenphänomenen! Wer da aber denkt, das sei richtig so, der übersieht schnell die eigene Eitelkeit. Denn Eigenheiten teilen, will am Ende doch keiner. Etwas Besonderes ist doch nur so lange besonders, wie es nicht jeder hat, nicht wahr?
Aus Schleuse mach Gästeliste
Gatekeeping, was soll das überhaupt sein? Wer den Anglizismus findig in die Suchmaschine seiner Wahl tippt, der stellt schnell fest: Es gibt keine einheitliche Definition. Noch viel weniger eine, die sich in den gesellschaftlich-umgangssprachlichen Kontext einfügt. Schon eher fündig wird man beim Wort „Gatekeeper“, welches gleich mehrere Wissenschaften für sich beanspruchen. Am ehesten darf sich wohl der Journalismus mit dieser Rolle auseinandersetzen. Denn als sogenannter Schleusenwärter (so die wörtliche Übersetzung) entscheidet er, welche Informationen an das Publikum weitergegeben werden. Was man vielleicht als Bevormundung empfinden könnte, hat in diesem Falle den Sinn, Relevantes vom Irrelevanten zu trennen. Zugegebenermaßen ist irgendwo auch diese noble gesellschaftliche Aufgabe diskutabel, jedoch kann man ihrer Funktion die Berechtigung nur schwerlich absprechen. Schließlich ist es ein Unterschied, ob unwichtiges aus dem Strom aussortiert wird oder nur bestimmte Dinge überhaupt hereingelassen werden.
Beim „Gatekeeping“, so wie es im Gesellschaftskonstrukt des Internets verstanden wird, geht es genau darum. Auch ohne ersichtliche Qualifizierung maßt sich eine Person an, darüber zu entscheiden, wer Zugang zu einer sonst öffentlichen Identität hat. Es ist quasi wie eine Gästeliste, auf die man aber erst geschrieben wird, wenn man schon vor dem Club steht. Also, wenn man denn überhaupt darauf geschrieben wird.
Den Individualismus zu verfechten
Will man beispielsweise Fan einer Band sein, so genügt es laut TikTok und Co nicht mehr, einfach nur deren Lieder zu mögen. Nein, man muss auch all ihre Liedtexte auswendig mitsingen können. Eigentlich ein cleveres Fan-Qualifikations-Kriterium. Denn gerade bei Pop-Songs ist es ein oft auftretendes Problem, dass sich nicht mehr die Mühe gemacht wird, diese eine Refrainzeile auswendig zu lernen. Generell ist diese Art der Tauglichkeitsprüfung aber eine Überlegung wert:
Statt Ticketverkauf wird am Einlass einfach eine zufällige Songzeile abgefragt. Gerade jetzt hilft es den von Corona gebeutelten Künstlern sicherlich sehr viel mehr, nur ihre „wahren Fans“ bei sich zu haben. Es ließe sich ja auch problemlos auf andere Gelegenheiten übertragen. Ins Kino kommt nur, wer die erste Nebenrolle der Hauptdarstellerin kennt, Fußball darf nur noch schauen, wer auch jeden Torwart von anno dazumal aufzählen kann und Harry Potter wird höchstens an die Jahrgänge aus dem letzten Jahrhundert verkauft.
Es klingt gemein, zugegeben. Aber unsere kleinkarierten Listenschreiber haben ein ehrlich nobles Ziel: Die eigenen Interessen vor dem zerstörerischen Sog des Mainstreams zu retten. Und in gewisser Weise haben sie tatsächlich recht! Es wird ja wohl wirklich nichts besser davon, dass es mehr Menschen zugänglich gemacht wird. Wer hat denn etwas davon, dass „geheime Urlaubsorte“ plötzlich von Touristen überlaufen sind, man keine Konzerttickets mehr für gehypte Bands bekommt und immer mehr Menschen plötzlich Abitur machen können und so die Hochschulen fluten? Wo bleibt denn da der Kick der Exklusivität, wenn es am Ende doch jeder machen kann?
Unter diesen Gesichtspunkten verwundern die Aufrufe in den sozialen Medien nicht, man solle das Gatekeeping doch wieder zurückbringen. Das Ganze ist ironischerweise zwar eine Randerscheinung, die jedoch klare Worte findet. Dabei geht es freilich nicht um so nebensächliche Themen wie zum Beispiel Bildung. Nein, viel wichtiger, es wird darüber diskutiert, dass bestimmte Produkte nicht von Influencern beworben werden sollten, weil sie sonst ausverkauft sind. Oder dass Modestile doch bitteschön exklusiv für ihre „Erstträger“ bleiben mögen. Böse Zungen würden hier jetzt behaupten, dass es doch gerade Sinn des Ganzen sei, möglichst viele Nachahmer zu generieren. Das mag schon sein, aber sie, wie auch die Influencer, verkennen das Problem. Denn unser heutiger Zeitgeist strebt und kämpft für Gerechtigkeit und Inklusion, wie keiner vor ihm. Was sich auf dem Papier gut liest, birgt aber die Gefahr, dass doch tatsächlich der eine nicht besser ist als der andere. Rein von einem gesellschaftlich subjektiven Standpunkt aus. Eine wahrhaft grausige Vorstellung! Wie soll denn bitte das individuelle Selbst eine Wertigkeit erlangen, wenn nicht durch die neidische Anerkennung anderer?
Irren ist menschlich
Bei dieser Frage mögen die unbelehrbaren Optimisten sich nun lachend zurücklehnen. Sie werden einem die Fragilität des eigenen Charakters vorwerfen. Doch keine Angst, auch sie lachen nur solange, wie man sie nicht gemein macht. Denn so sehr ich mich auch zu jenen zähle, die das Gatekeeping für einen unerwünschten Nebeneffekt persönlicher Unzulänglichkeiten halten, so tief ist es doch im Benehmen verankert. In meinem Umfeld gibt es Menschen, bei denen allein der Gedanke daran, dass sie über bestimmte Interessensgebiete meinerseits sprechen, mir ein Augenrollen entlockt. Plump gesagt: „Ich kann dich nicht leiden, also hör auf Dinge zu mögen, die ich gut finde! Das würde schließlich bedeuten, dass du und ich etwas gemeinsam haben.“ Ein grässlicher Gedanke. Denn dann wäre ich nicht besser als du und damit auch wieder nur ein Teil jener dumpfen Masse, von der ich mich doch eigentlich abheben wollte.
Das ist launischer Unsinn. Aber wem diese Gedanken noch nie gekommen sind, der werfe den ersten Stein. Woher das wohl kommt? Eine Beschreibung des Phänomens findet sich in Fritz Heiders Balancetheorie. Er beschreibt darin, dass wir zwischen uns, einer Sache X und Dritten eine Ausgeglichenheit anstreben. Diese wird aber nur dann erreicht, wenn die Anzahl der negativen Beziehungen unter ich, X und Dritter gerade ist oder eben nur positive Beziehungen bestehen. Anders gesagt: Das erwähnte „ich mag dich nicht, also magst du gefälligst auch nicht die Sachen, die ich mag“ ergibt laut Heider einen unangenehmen Spannungszustand, den wir versuchen zu harmonisieren. Der einfachste Weg scheint es dabei, anderen ihre positive Beziehung zur Sache abzuerkennen. Das schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe, denn die eigene Meinung muss man nicht ändern und der unliebsame Mitmensch ist ebenfalls vom Hals geschafft.
Jetzt mal ernsthaft
Soweit so sinnvoll. Doch auch das Gatekeeping erreicht Grenzen, in denen es sich der lächerlichen „Notwendigkeit“ entrückt. Denn wenn Menschen traumatische Erfahrungen, Krankheiten, ja ganze ethnische Zugehörigkeiten abgesprochen werden, wandelt sich die „Verteidigung der Individualität“ schnell in Diskriminierung. Immer wieder berichten Menschen, bei denen beispielsweise nur ein Elternteil People of Colour ist, dass sie „nicht schwarz genug“ sind, um rassistische Erfahrungen gemacht zu haben. An dieser Stelle sollte erwähnt sein, dass genau dieses Verhalten die Definition von Rassismus erfüllt.
Es mag witzig sein, sich darum zu streiten, wer jetzt der bessere Fan ist. Nicht aber, wer die schlimmere Depression hat. Gerade wer selber depressiv ist und sich damit beschäftigt, sollte wissen, dass das Krankheitsbild nicht unbedingt einheitlich ist. Gleiches gilt für Traumata. Ich kann mich erinnern, dass mal jemand zu mir gesagt hat: „Das bisschen Getratsche, dir hat doch niemand weh getan. Das war doch kein Mobbing!“ Komisch nur, dass ich es trotzdem als solches empfunden habe.
Kleiner Tipp: Wenn ich anderen ihr Leid aberkenne, wird das eigene nicht geringer. Es wird auch nicht weniger wichtig, nur weil ich das anderer anerkenne. Es geht nicht darum, wer mehr durchgemacht hat. Jede Erfahrung, jede Geschichte hat ihre Berechtigung, egal wie klein sie im Vergleich zu sein scheint. Das ist kein Wettbewerb.
Außergewöhnlich gewöhnlich
So sinnvoll dem ein oder andern das Gatekeeping vielleicht vorkommen mag, diese Art davon ist einfach nur übergriffig. Es zeigt, wie wenig wir immer noch die individuellen Erfahrungen des einzelnen schätzen. Aber einmal abgesehen von diesem unnötigen Auswuchs, erfüllt Gatekeeping eine sehr interessante Rolle in unserer Gesellschaft. Es zeigt uns, welche kulturellen Phänomene wir für so wichtig halten, dass sie nur jenen, die sie auch ernsthaft erhalten wollen, zugänglich gemacht werden. Denkt man genauer darüber nach, dann ist das Gatekeeping auch keine Eigentümlichkeit unserer modernen Welt. Wer nicht dem Adel angehörte, durfte bestimmte Farben nicht tragen. Wer kein Mann war, durfte nicht studieren. Wer nicht Fynn Kliemann hieß, war kein wahrhaft selbstloser Mensch. Tatsache ist doch, dass diese Art von Ausgrenzung auf die eine oder andere Weise schon immer stattgefunden hat. Meiner Vermutung nach wird sie auch so lange bestehen, wie es unsere Gesellschaft gibt. Allerdings ist das nicht schlimm, im Gegenteil. Denn diese Ausgrenzung lehrt uns eine wichtige Erkenntnis:
Je weniger wir darauf achten, einzigartig zu sein, desto mehr werden wir es.
Dem geneigten Leser sei am Ende dieses Textes also empfohlen, sich mutig über all die auferlegten Regeln des Gatekeepings hinwegzusetzen: Fan einer Band sein, auch wenn man nur die zwei berühmtesten Songs kennt. Gute Produkte weiterempfehlen, und zwar einfach, weil sie gut sind. Das Buch erst lesen, wenn man den Trailer zur Verfilmung gesehen hat und sich gerade dann als absoluter Geek bezeichnen. Die kleingeistigen Listenschreiber werden es einem danken! Nur so ist es ihnen möglich, sich von der dumpfen Masse wahrlich abzugrenzen, während man selbst sich still am eigenen Mittelmaß erfreut. Denn was gibt es in einer Welt der Superlative außergewöhnlicheres als das Gewöhnliche?
Text und Titelbild: Anni Lehmann