In ihrem Kinderzimmer hängt eine große Deutschlandflagge vor der grünen Wand. Direkt davor platziert sie regelmäßig eine Kamera, um mit ihren mehr als 3000 TikTok-Follower*innen Schmink-Tipps, Lipsync-Videos und politische Ansichten zu teilen. Die Kernaussage dabei lautet: „Sei schlau, wähl blau.” Hannah* ist 17 Jahre alt und möchte bei der sächsischen Landtagswahl im nächsten Jahr die Alternative für Deutschland wählen. Besonders angesprochen fühle sie sich von deren Flüchtlingspolitik. Gegenüber medienMITTWEIDA erklärt die Jugendliche: „Für mich ist die AfD die einzig wählbare Partei.”
Das stereotype Bild des ostdeutschen AfD-Wählers im besten Boomer-Alter bröckelt. Spätestens die Landtagswahlen in Hessen und Bayern haben gezeigt, dass die Partei auch bei westdeutschen Jungwähler*innen immer weiter an Beliebtheit gewinnt. Bei den 18- bis 24-Jährigen schafft es die Alternative für Deutschland in Hessen auf rund 18 Prozent, ganze acht Prozentpunkte mehr als noch 2018. Damit wurde in dieser Altersklasse nur die CDU häufiger gewählt. Überraschend sei das laut Expert*innen nicht. Doch was veranlasst die sonst als so progressiv wahrgenommene Gen Z dazu, ihr Kreuz bei einer in Teilen gesichert rechtsextremen Partei zu setzen?
Das hessische Landtagswahlergebnis in Prozent. Grafik: Jessy Schrödter, Quelle: Statista
Unter 30, unsicher und unzufrieden
Die AfD setzt im Wahlkampf auf die Unsicherheiten ihrer Wähler*innen. In Zeiten multipler Krisen pflanzt sie damit auf fruchtbaren Boden: Besonders junge Menschen fühlen sich wirtschaftlich sowie sozial abgehängt und suchen dafür einen Schuldigen. Schnell kann infolgedessen der Eindruck entstehen, dass die Bundesregierung nicht fähig sei, gegenwärtige Problemsituationen zu bewältigen, während die AfD vermeintlich einfache Lösungen bereithält. Hinzu kommt, dass die Unzufriedenheit junger Wähler*innen steigt, weil sie sich von der Politik nicht gehört und repräsentiert fühlen. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung glauben 64 Prozent der befragten jungen Menschen, dass sie politisch nicht ernst genommen werden. Des Weiteren hätte die Demokratie als Regierungsform in der mittleren und niedrigen Bildungsschicht deutlich an Zustimmung verloren. Bereits die 18. Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2019 will herausgefunden haben, dass ein geringerer Grad an Bildung auch mit einer höheren Populismusaffinität und damit einer besseren Empfänglichkeit für einige Botschaften der AfD einhergeht.
Laut Wahlforscher*innen weisen junge Menschen, die meist noch keine tiefere Parteibindung entwickelt haben, ohnehin die Tendenz auf, eher an den Rändern des politischen Spektrums zu wählen. Das liegt besonders an dem großen Wunsch nach Veränderung und Neuerung. Diese Neigung lässt sich auch bei Hannah erkennen. Laut der 17-Jährigen könne man „nur die AfD wählen, wenn man will, dass sich etwas verändert”. Folglich profitieren vor allem rechte Parteien, deren Identität darin besteht, anders zu sein und gegen das „Establishment” anzukämpfen. Dabei ist es für die Alternative für Deutschland außerdem von Vorteil, dass sie noch nie eine Regierungsbeteiligung hatte, was von ihren Wähler*innen als eine Art „Ausweis ihrer Unschuld” gesehen wird.
„Echte Männer sind rechts!”
Eine Eigenheit, die sich in den Landtagswahlergebnissen aus Hessen und Bayern wieder bestätigt hat, ist, dass die AfD bei einer Personengruppe ganz besonders gut ankommt: bei jungen Männern. Die Wissenschaft spricht dabei altersgruppenübergreifend von einem Radical Right Gender Gap. Der Politologe Jannik Fischer von der Universität Hamburg erklärt im Interview mit medienMITTWEIDA: „Das bedeutet, dass Männer generell eher dazu geneigt sind, rechte oder rechtsextremistische Parteien zu wählen, als Frauen.”
Unter anderem liege das daran, dass es eine gewisse Anzahl an jungen Männern gebe, die sich in ihrer Männlichkeit bedroht fühlten. Diese seien durch bestimmte Sozialisationsprozesse mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, dass ihnen Privilegien zustünden. In einer feministischer werdenden Gesellschaft wird zunehmend in Frage gestellt, warum Männer mehr verdienen und auf der Karriereleiter höher klettern. Laut Fischer sehen sie deshalb ihre vermeintliche Vormachtstellung herausgefordert, weshalb „sie sich dann in ihrem Selbstverständnis erschüttern lassen und verunsichert werden”.
Dadurch würden sie anfälliger für rechte Narrative, die ihnen durch vermeintlich klare Strukturen Sicherheit geben. Die AfD erkennt das und nutzt diese wahrgenommene Bedrohung, indem sie Themen wie Migration oder Emanzipation mit der Angst um Männlichkeit verknüpft. So gebraucht etwa ihr Spitzenkandidat zur Europawahl 2024, Maximilian Krah, die Problematik für seinen TikTok-Account. Wie in einer Art Ratgeber präsentiert der Politiker in einem seiner Videos Tipps für junge Männer, die noch nie eine Freundin hatten. Beispielsweise erklärt er darin, dass „echte” Männer nicht lieb, schwach und links sein müssten, sondern rechte Patrioten. Das Video zählt mehr als eine Million Aufrufe, 85.000 Likes sowie inhaltlich zahlreiche Unwahrheiten und Generalisierungen.
Ist Feminismus jetzt out?
Allerdings adressiert die Partei laut Fischer mit ihrem traditionellen Männlichkeitsbild nicht ausschließlich Männer. Diese fühlten sich zwar häufiger davon angesprochen, doch auch für junge Frauen gehen krisenbehaftete Zeiten mit Verunsicherungen einher, „die dann dazu führen können, dass sie sich tradierte Rollenbilder und vermeintlich ‚starke‘ Männer wünschen”, so der Politologe. Zudem lösen Influencerinnen in den sozialen Netzwerken eine regelrechte Sehnsucht nach der Hausfrauenehe aus, indem sie dieses Phänomen aus vergangenen Zeiten in ihren Bild- und Videobeiträgen inszenieren und romantisieren. Diese Sehnsucht basiert allerdings auf einem Missverständnis. Denn während Hausfrauen früher keine Wahl hatten und von ihrem Mann finanziell abhängig waren, sind besagte Influencerinnen durch ihren Online-Erfolg gleichzeitig auch Unternehmerinnen, die ihr eigenes Geld verdienen.
Alles für den Algorithmus
Apropos soziale Netzwerke: Die Alternative für Deutschland wurde im digitalen Zeitalter gegründet und beherrscht Social Media, trotz ihres Alte-Männer-Images, wie keine zweite Partei. Während die AfD bereits im Umgang mit Facebook geschickt agierte, hat sie mit TikTok nun das Medium gefunden, auf dem sich kurze, emotionalisierende Botschaften am besten verbreiten lassen. Mehr als ein Drittel der Abgeordneten hat auf der Plattform einen eigenen Account, Parolen gehen viral, die Reichweite ist größer als bei jeder anderen Partei. Mit kurzen Ausschnitten aus Fernsehauftritten oder Reden, die teilweise direkt für soziale Netzwerke geschrieben werden, erreicht die AfD die Generation U30 dort, wo sie sich tagtäglich tummelt. Dabei arbeitet der Algorithmus für sie. Durch polarisierende Aussagen und das Schüren von Emotionen werden Nutzer*innen dazu veranlasst, mit einem Video zu interagieren und beispielsweise Kommentare zu schreiben. Der Algorithmus reagiert dann darauf, indem er das Video immer mehr Menschen ausspielt. Viele Nutzer*innen verbreiten die Inhalte außerdem bereitwillig weiter, wodurch der Content der AfD im Vergleich zu anderen Parteien auf TikTok deutlich überrepräsentiert ist. Auch Hannah repostet auf ihrem Account beispielsweise Videos von AfD-Mitglied Lea Schultz.
Während andere Politiker*innen auf der Plattform selten authentisch wirken und versuchen, mit aktuellen Trends und Challenges zu punkten, weiß die Alternative für Deutschland genau, wie sie unterschiedliche Online-Subkulturen ansprechen muss. Zum Beispiel, indem sie mit einer „Wir”- und „Die”-Rhetorik ein Identitätsangebot schafft, mit dem man sich ganz klar von Feindbildern abgrenzt. Somit gewinnt sie an Vertrauen und schafft es, eine Zielgruppe zu mobilisieren, die sich politisch eher online und audiovisuell, als durch das Lesen eines Parteiprogramms informiert und das Gefühl hat, von der aktuellen Politik nicht richtig vertreten zu werden.
Der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje erklärt gegenüber dem Schweizer Nachrichtenportal watson, dass niemand seine Wahlentscheidung aufgrund eines Social Media Posts treffen würde. Trotzdem trügen die sozialen Netzwerke erheblich zum Informations- und damit auch zum Meinungsbildungsprozess junger Menschen bei.
Die größte Stärke der AfD ist die Schwäche der Anderen
Was also können die demokratischen Parteien von der AfD in Sachen Zielgruppenansprache für die Generation U30 lernen? Soziale Netzwerke, allen voran TikTok, dürfen in ihrer Macht nicht mehr unterschätzt werden. Für junge Menschen sind sie ein wichtiger Bestandteil der eigenen Lebensrealität und bieten die Möglichkeit, sich digital an politischen Prozessen zu beteiligen. In einer Studie der Vodafone-Stiftung aus dem vergangenen Jahr wünschte sich mehr als ein Drittel der Befragten mehr Präsenz von Politiker*innen in den sozialen Netzwerken, um miteinander in den Austausch zu kommen. Nutzer*innen müssen ernst genommen und der richtige Umgang mit den Plattformen gelernt werden.
Politologe Jannik Fischer kritisiert außerdem den öffentlichen Umgang mit TikTok-Videos der AfD, wie dem bereits erwähnten von Maximilian Krah. Auf dieses reagierten viele Menschen in den sozialen Netzwerken mit Gelächter. „Das finde ich für das Problem symptomatisch. Für die jungen Männer, die sich davon angesprochen fühlen, wirkt das natürlich nur wie eine weitere Validierung ihrer Wahrnehmung.” Sie können sich dadurch gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen, wodurch die Bindung zur Alternative für Deutschland stärker würde. Er wünsche sich dagegen, dass die demokratischen Parteien häufiger „auch Männlichkeitsbilder positiv besetzen, die im Einklang mit der Emanzipation von Frauen stehen und mit dieser einhergehen.” Denn eine verhärtete politische Konfliktlinie entlang der Geschlechter könne und wolle man sich in Deutschland nicht leisten.
*Name geändert
Wir haben noch acht Monate
In Zeiten wie diesen ist es absolut verständlich, dass sich junge Menschen mit Unsicherheiten konfrontiert sehen und ängstlich in die Zukunft blicken. Es ist allerdings naiv zu glauben, eine in Teilen rechtsextreme, menschenverachtende Partei sei die Lösung, auf die die deutsche Politik gewartet hat. Nur nebenbei bemerkt: Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung fand erst kürzlich heraus, dass die Hauptleidtragenden der AfD-Politik ihre eigenen Wähler*innen wären. Eben diese Menschen, die sich abgehängt, überfordert und verunsichert fühlen.
Viel wichtiger sollte allerdings sein, was jetzt zu tun ist, damit die blaue Partei ihre Politik erst gar nicht umsetzen kann. Gerade hier in Sachsen, dem Bundesland mit den grausigen Umfragewerten, muss man sich noch vor der kommenden Landtagswahl im September überlegen, wie demokratische Parteien wieder attraktiver für die Wähler*innen werden – Und zwar egal welchen Alters. Denn antidemokratische Haltungen sind kein Generationenproblem, sie ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft.
Die Antwort kann dabei nicht sein, dass plötzlich versucht wird, einfach den AfD-Sprech zu übernehmen. Wenn Friedrich Merz über die dentale Gesundheit abgelehnter Asylbewerber*innen schimpft, ist das Ergebnis, dass die Parolen der Alternative für Deutschland im Vergleich weniger radikal wirken und scheinbar weiter in die Mitte der Gesellschaft rutschen. Stattdessen müssen die Demokratie und ihre Werte geschützt werden vor einer Partei, die sie abschaffen will. Das geht nur, wenn alle anderen an einem Strang ziehen und endlich erkennen, dass es sich mehrheitlich nicht mehr um Übergangs-Protestwähler*innen handelt, die ihr Kreuz bei der AfD setzen. Sondern um Menschen, die wieder neu und von Grund auf für demokratische Prozesse gewonnen werden müssen.