Vice Deutschland wurde eingestellt. Nach mehr als 18 Jahren deutschsprachiger Inhalte geht diese Ära nun zu Ende. Chefredakteur Tim Geyer äußerte sich hierzu auf X mit den Worten: „Kein anderes deutsches Medium hat so konsequent gezeigt, wie guter Journalismus für junge Menschen geht” und formuliert hiermit den Anfang einer Grabrede über das Ableben des deutschen Gonzo-Journalismus.
Die letze Ausgabe des deutschen Vice Magazin. © Ottilie Wied
Der Weg zu meiner ersten und zwangsläufig letzten Printausgabe von Vice ist ein langer. So führt es mich aus der Zschopauprovinz Mittweida ins knapp 400 Kilometer entfernte Wiesbaden. Hier finde ich mich wieder in einem Vintage Revival Shop, einer der letzten und einzigen Shops, in welchem die letzte Vice ausliegt. Der Weg vom Wiesbadener Bahnhof bis hierher führt mich vorbei an crackrauchenden Menschen, viel Taubenkot und dem süßlich-pissigen Geruch von Wiesbaden-City. Doch: Die Odysee hat Erfolg. Und so stehe ich hier mit „The Final Issue”.
The Final Issue
In ihrer letzten Ausgabe mit dem Titel „The Final Issue” lassen sie Redakteur:innen, Weggefährt:innen und Freund:innen zu Wort kommen. Thematisch wieder irgendwo zwischen Nippeln und Crystal Meth aus dem Erzgebirge.
Statt eines vergammelten Stilllebens oder eines Bikinipos ragt ein Stück Uran-Erz auf dem Cover empor. Vor dunkelgrünem Hintergrund und mit akzentuierter Beleuchtung wirkt dies mehr nach Commercial statt nach jugendlicher Gegenkultur. Ein Sinnbild für das Ende von Vice?
In den 2000ern und 2010ern wurde Vice als Magazin groß, das in Shops wie Titus oder Bars kostenlos auslag. Klassische Beiträge von damals: „Auf LSD am Christkindlmarkt”, „Hämorrhoiden sind Arschlöcher: Meine Zeit am Abgrund” oder „Wie vögeln eigentlich Pokémon? Wir haben recherchiert”.
Gonzo-Journalismus at its best
Vice stand vor allem für Inhalte abseits des Mainstreams, für einen subkulturellen Blick auf die Welt, der einem das Absurde, das Schmuddelige und mehr das Ungesehene offenbarte. Der Gonzo-Journalismus fand in Vice ein Zuhause, das selbst Hunter S. Thompson, der Gründervater des Gonzo-Journalismus, mit einem breiten Grinsen im Jenseits betrachten würde.
Weiter gab Vice Menschen am Rande der Gesellschaft eine Stimme und ließ neuartige Blickwinkel auf das aktuelle Zeitgeschehen zu. Wenn Themen schon von anderen Medien aufgegriffen wurden, dann suchte man bei Vice einen komplett anderen Ansatz, sich dem Thema zu nähern, wie Lisa Ludwig mir berichtet. Ludwig arbeitete in den 2010ern bei Vice, erst als Redakteurin, später als Chefredakteurin des Feminismus-Teils Broadly.
In der Praxis verlief der Annäherungsprozess an das Thema laut Ludwig etwa so: „Ein Politiker stellt in den Raum, ob wir wirklich 16 Bundesländer brauchen. Überall anders ist das Anlass für eine News, Interviews oder einen Kommentar. Ein Kollege und ich machen ein Ranking, in dem wir die Bundesländer danach sortieren, welche wir am wenigsten brauchen.”
Gonzo-Journalismus
Gonzo-Journalismus ist ein journalistisches Genre, welches sich durch subjektive, oft persönliche Erzählungen und eine stark partizipatorische Herangehensweise auszeichnet. Der Begriff wurde in den 1970er Jahren geprägt und ist eng mit dem amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson verbunden, der als einer der Pioniere dieses Stils gilt.
Im Gonzo-Journalismus verschmelzen die Grenzen zwischen dem Journalisten und dem Objekt seiner Berichterstattung oft, wobei der Autor seine eigenen Erfahrungen und Perspektiven stark in den Bericht einfließen lässt. Statt sich auf objektive Fakten zu konzentrieren, betont der Gonzo-Journalismus oft die subjektiven Eindrücke, Emotionen und Meinungen des Autors.
„Vice war halt nie so richtig woke.”
Auch mit Felix Adler, einem freischaffenden Fotografen aus Leipzig, sinniere ich in einem Interview über Vice sowie die Gründe für das Ableben des Onlinemagazins. Er selbst arbeitete manchmal für Vice, war aber auch schon für die Süddeutsche oder die Zeit tätig. Die Quintessenz: „Die haben so bisschen den Sprung zum Wechsel der Social-Media-Plattformen verpasst, das ist so mein Gefühl. Gleichzeitig ist in den 2010ern auch alles super woke geworden und Vice war halt nie so richtig woke.”
Man verabschiedete sich also zunehmend von Beiträgen, die sich in Grenzbereich der Grenzwertigkeit befanden, hin in zu seichteren, werbefreundlicheren Texten. Auch Adler beobachtete das: „Die haben viel mit Marken kooperiert und haben vielleicht auch ein bisschen ihre Marke verkauft.”
Beamtentum statt Pöbel
Die Folge: Beiträge wie „Wieso das Beamtentum der berufliche Traum der jungen Generationen ist – gerade seit Covid “ in Kooperation mit der HUK-COBURG. Die Entwicklung ist fast schon als Sittenverfall für das punkige Vice von vor 18 Jahren zu werten. Bei dem Artikel handelt es sich um ein Advertorial, also eine Mischform aus redaktionellem Inhalt und Werbung. Dieser Artikel zeigt beispielhaft, wie sich Redaktionen thematisch an Werbetreibende anpassen, um weiterhin finanziell zu bestehen – allerdings auf Kosten ihrer redaktionellen Unabhängigkeit.
Recherchen von G wie Gorillas bis X wie Xhamster
Nennenswerte Beispiele für das Wirken von Vice sind Recherchen über die prekären Arbeitsbedingungen des Lieferdienstes Gorillas oder die drastischen Mängel beim Schutz Opfer sexueller Gewalt bei der Pornoseite Xhamster. Beide Artikel sind exklusiv von Vice recherchierte Geschichten. Beide Texte regten Debatten an und beleuchteten mit dem metaphorischen Baustrahler den Dreck, welchen Konzerne geschmeidig unter den Teppich kehrten.
Trotz einiger Scoops und dem Versuch auf Social Media Präsenz zu zeigen, reichten Reichweite und digitale Werbung nicht aus, die Inhalte von Vice hinreichend zu finanzieren, wie Kolumnistin Jane Martinson im Guardian feststellt. Da Reichweite jedoch nicht zwangsläufig mit der Bereitschaft zu monetären Ausgaben korreliert, verloren folglich auch Werbetreibende das Interesse.
Auch die Zielgruppe war Vice zunehmend auf andere Plattformen entflohen. Damit verlor Vice sein Gonzo-Monopol bereits in dem Moment, in dem Soziale Netzwerke den Weg in die App Stores unserer Smartphones fanden. Lisa Ludwig ergänzt hierzu: „Diese sehr subjektive Wahrnehmung der Welt hat sich in den 2020ern dann weiter ausgebreitet, allein schon durch Content Creator, die dann für YouTube oder TikTok auch in weirden Online-Communities unterwegs sind oder popkulturell mit ihren Kritiken zu Filmen, Serien, Büchern, was auch immer eine uniquere Alternative zum klassischen Feuilleton liefern. Da war Vice dann eben nicht mehr allein auf weiter Flur.”
Ein Perpetuum mobile getrieben von schwindender Reichweite und mangelnder Anzeigen nahm seinen Lauf – mit weitreichenden Folgen, wie Lisa Ludwig mir schriftlich erläutert: „In meinen Augen hatte Vice Deutschland und vielleicht sogar Vice International schon lange nicht mehr das mediale Standing, das es mal hatte. Dafür hat sich die Branche einfach zu sehr verändert und dafür wurden aus verschiedenen wirtschaftlichen Gründen inhaltliche Entscheidungen getroffen, die die Uniqueness von Vice erheblich eingeschränkt haben.”
Was bleibt?
Die Gründe für das Ende des deutschen Ablegers von Vice sind vielseitig. Bezugnehmend auf einen Artikel von Lisa Ludwig in „The Final Issue”: „Es lohnt sich finanziell nicht.” Bereits im April 2023 berichtete die New York Times über die drohende Insolvenz des US-Konzerns Vice Media sowie die Suche nach neuen Investoren. Weitere Ableger des Konzerns wurden bereits eingestampft, wie in Rumänien. In einem Interview mit dem SPIEGEL kommentierte Tim Geyer, Chefredakteur der deutschen Vice, die strategische Entscheidung nicht.
Was nach dem Ende von Vice bleibt, ist wahrscheinlich eine Lücke im Herz der Liebhaber:innen des Absurden sowie der Autor:innen, die über Vice ihre Stimme gefunden haben. Für mich fühlt es sich irgendwie an, als wäre ein entfernter Verwandter gestorben. Man begegnete sich hin und wieder, wurde hierbei immer daran erinnert, dass man irgendwie älter geworden ist und steht am Ende vor dem Grab dieser Person, das einem zeigt, dass es jederzeit vorbei sein könnte.
Text, Titelbild: Ottilie Wied