Stell dir vor, es würde gerade ein rosa Elefant durch die Zimmertür spazieren. Wahrscheinlich kannst du sofort vor deinem inneren Auge sehen, wie das große Tier mit rosa Haut, großen Ohren und langem Rüssel plötzlich im Raum steht. Vielleicht kannst du dir sogar vorstellen, wie der Elefant seine Ohren bewegt oder mit seinem Rüssel nach etwas greift. Doch für einige Menschen ist das kein einfaches Gedankenexperiment – sie haben Aphantasie, eine Besonderheit, bei der sie sich nichts vor ihrem inneren Auge vorstellen können.
Für Menschen mit Aphantasie bleibt das Bild des rosa Elefanten im Kopf abstrakt. Sie wissen zwar, wie ein Elefant aussieht und dass rosa eine Farbe ist, aber sie können diese Informationen nicht in einem mentalen Bild zusammenführen. Vor ihrem inneren Auge bleibt es schwarz, egal wie sehr sie sich anstrengen.
Auf der Suche nach Bildern
Normalerweise können wir uns ein Bild ins Gedächtnis rufen, auch wenn wir es in diesem Moment nicht wirklich sehen. In der Wissenschaft nennt man das die sensorische Repräsentation ohne einen externen Stimulus. Wie stark diese Repräsentationen ausgeprägt sind, variiert von Mensch zu Mensch. Die einen sehen, wenn sie an einen Apfel denken, eine fotorealistische Abbildung vor ihrem inneren Auge, andere nur eine grobe Form. Menschen mit Aphantasie sehen nichts. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht wissen, was ein Apfel ist. Ihnen fehlt lediglich die Fähigkeit der sensorischen Repräsentation.
Die visuellen Informationen sind zwar abgespeichert, können aber beim Denken nicht visuell dargestellt werden. Das kann man sich so vorstellen, wie man auch den Duft des Lieblingsparfums nicht riechen kann, wenn er gerade nicht im Raum liegt. Dennoch kann man ihn anhand von Fakten beschreiben – ob er frisch, blumig oder herb ist. Genauso ist es auch für Menschen mit Aphantasie beim visuellen Denken. Sie wissen, dass ein Apfel rund, meistens rot bis gelb ist und oben einen Stiel hat. Sie sehen es bloß nicht vor sich, wenn sie die Augen schließen.
Die Vorstellung eines Apfels kann von Mensch zu Mensch variieren, Foto und Grafik: Carolin Lehmann
Manche Betroffene beschreiben Aphantasie auch wie das Denken einer blinden Person. Aphantasie wird jedoch in der Wissenschaft nicht als Behinderung oder Defizit betrachtet. Es sei kein „Symptom einer bestimmten Erkrankung”, sondern beschreibe eher das gleiche Erleben vieler verschiedener Menschen, so die Universität Bern auf ihrer Website. Während es für Menschen ohne Aphantasie meist unvorstellbar ist, wie es ist, keine Bilder im Kopf zu haben, ist es für Menschen mit dieser Dysfunktion alltäglich.
Fakten zu Aphantasie
Circa drei Prozent der Weltbevölkerung sind vom Phänomen der Aphantasie betroffen. In manchen Familien tritt Aphantasie häufiger auf als in anderen, was darauf hinweist, dass es vererbbar ist. Die Dysfunktion im Gehirn kann angeboren sein oder durch Gehirnverletzungen oder traumatische Erfahrungen entstehen.
Im letzten Fall sei „eine Therapierbarkeit zumindest denkbar, da ein Trauma Veränderungen im Gehirn auslösen kann, die durch eine Therapie umkehrbar sind“, sagt Merlin Monzel, Projektleiter des Aphantasia Research Projects an der Universität Bonn, in einem Interview. Empirische Daten zu einer therapierten erworbenen Aphantasie gibt es jedoch noch nicht.
Wörter statt Bilder
Forscher*innen haben herausgefunden, dass Menschen mit Aphantasie sogar komplexe Aufgaben lösen können, für welche man augenscheinlich visuelle Vorstellungskraft benötigt. Das sind beispielsweise Aufgaben, in denen man zweidimensionale Darstellungen einer dreidimensionalen Figur abgleichen muss. Das konnten die Proband*innen mit Aphantasie ebenso gut wie die Teilnehmer*innen mit visueller Vorstellungskraft. Sie nutzen einfach andere Strategien, anstatt sich das Objekt im Kopf vorzustellen und zu drehen.
Mental Rotation Task: Welche Figur stimmt mit der linken überein?, Grafik: Carolin Lehmann
Die Informationsverarbeitung von Menschen mit Aphantasie bringt nicht nur Nachteile mit sich. Obwohl sich Betroffene Bilder weniger detailreich einprägen können, machen sie bei der Wiedergabe, zum Beispiel dem Zeichnen aus dem Gedächtnis, weniger Fehler als Menschen ohne Aphantasie. Sie neigen im Gegensatz zu diesen Menschen nicht dazu, Details hinzuzufügen, die im Originalbild nicht vorhanden waren. Dies liegt daran, dass sie sich die Bilder nicht visuell, sondern in Worten merken. Zum Beispiel speichern sie ab: Rechts steht der rosa Elefant, links ist eine weiße Tür mit Fenster und schwarzer Klinke. Diese verbale Methode kann in bestimmten Situationen, wie beispielsweise bei polizeilichen Aussagen, von Vorteil sein. Menschen mit Aphantasie haben somit eine besondere Art der Informationsverarbeitung, die nicht nur Nachteile hat, sondern auch positive Aspekte mit sich bringt.
Wo liegt dann das Problem?
Trotz der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass Menschen mit Aphantasie durchaus in der Lage sind, schwierige Aufgaben ohne visuelle Vorstellungskraft zu lösen, berichten Betroffene von Problemen in der Schule. Oft fällt es ihnen schwerer, eine neue Sprache zu lernen, Wörter zu buchstabieren, sich eine Zahlenfolge zu merken oder etwas aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Auch das Lernen mit Karteikarten ist für sie ineffektiv. Darüber hinaus lesen sie ungern Romane, die viele bildliche Beschreibungen enthalten, und können sich weniger gut an ihre eigene Vergangenheit erinnern. Alles Dinge, die einem den Alltag, die Schulzeit oder das Studium erschweren. Insbesondere in Geometrie oder Kunst sind visuelle Vorstellungen oft ein wichtiger Bestandteil des Lernens. Ohne diese Fähigkeit müssen Betroffene andere Methoden finden, um den gleichen Lernerfolg zu erzielen.
Das visuelle System eines Menschen verarbeitet rund 70 Prozent aller Sinneseindrücke. Deshalb lernen wir auch grundsätzlich besser, wenn wir Informationen mit Bildern verknüpfen. In der Wissenschaft wird dies als der Picture Superiority Effect beschrieben. Wenn wir uns eine Information nicht nur als Wort abspeichern, sondern auch ein Bild dazu, werden wir uns diese Information wahrscheinlich besser merken können. Das liegt daran, dass die Kombination aus Wort und Bild tiefer und umfangreicher im Gehirn verarbeitet wird als Worte. Während Worte aus immer denselben Buchstaben bestehen, bieten Bilder vielfältige Details, die jedes Bild von einem anderen unterscheiden. Zum Beispiel erinnert man sich leichter an das Bild eines Diagramms, als an die bloße Beschreibung der Daten. Dies erklärt, warum visuelle Hilfsmittel wie Diagramme, Illustrationen und Fotos im Lernprozess so effektiv sind. Sie bieten eine einprägsamere und vielseitigere Quelle der Erinnerung als bloße Worte.
Lernstrategien für Menschen mit Aphantasie
Die effektive Lernmethode des Visualisierens bleibt jedoch Menschen mit Aphantasie verwehrt. Doch wie können Betroffene trotzdem den Alltag rund um Schule oder Studium bewältigen?
Es gibt generell verschiedene Methoden, um zu lernen. Sich etwas visuell einzuprägen und dann abzurufen, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Viele Menschen lernen auch durch Hören, Sprechen oder aktives Praktizieren und Experimentieren. Dabei können auch Merksprüche, Reime oder das Singen beim Auswendiglernen helfen. Merlin Monzel, Projektleiter des Aphantasia Research Projects an der Universität Bonn sagt dazu: „Wir gehen aktuell davon aus, dass die alternativen Lösungsstrategien bei angeborener Aphantasie von den meisten Personen im Laufe der Zeit automatisch erlernt werden. In späteren Klassenstufen nutzen Personen mit Aphantasie (und übrigens auch Personen ohne Aphantasie) meist automatisch die Strategie, die sie am besten zum Ziel führt.” Allerdings trifft dies nicht auf alle Personen zu. So auch auf Menschen, deren Aphantasie nicht angeboren ist, sondern erst später im Leben erlangt wurde. In solchen Fällen ist es wichtig, diesen Personen explizit alternative Lernmethoden beizubringen.
Du bist von Aphantasie betroffen?
Im Aphantasia Network findest du weitere Informationen zu dem Phänomen und Erfahrungsberichte von Betroffenen.