Dresden, der 3. Mai, ein scheinbar ganz normaler Freitagabend. Jedoch nicht für den sächsischen SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke. Beim Aufhängen von Wahlplakaten wird er von vier Angreifern attackiert und brutal zusammengeschlagen. Die Täter im Alter zwischen 17 und 20 Jahren. Mindestens ein Angreifer wird laut LKA im rechtsextremen Spektrum verortet. Matthias Ecke erleidet Brüche am Jochbein, einer Augenhöhle und muss operiert werden. Noch in derselben Nacht werden zwei Wahlkampfteams der Grünen attackiert. Angriffe, wie der auf Matthias Ecke in jüngster Vergangenheit, sind kein Einzelfall.
Die Dimension
Die aktuellen Fallzahlen aus dem Jahr 2023 verdeutlichen das Ausmaß. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion geht hervor, dass 2023 fast doppelt so viele Angriffe auf Mandatsträger*innen wie im Jahr 2019 verzeichnet wurden. Die Anzahl der Delikte ist in diesem Zeitraum von 1.420 auf 2.790 Angriffe auf Politiker*innen aller politischen Ebenen gestiegen. Im Vergleich zum Vorjahr 2022 sind die Zahlen um circa 55 Prozent gestiegen. Besonders auffallend ist die Entwicklung der Verteilung von Delikten auf die verschiedenen Parteien. 2019 waren Vertreter*innen der AfD mit 656 Fällen von allen Parteien am meisten betroffen. 2023 sind eindeutig im Feld des Bündnis 90/Die Grünen mehr Delikte zu verorten. Fast die Hälfte aller aufgeführten Fälle betrifft Politiker*innen der Grünen. 478 Fälle werden Repräsentant*innen der AfD zugeordnet und 420 Mitglieder*innen der SPD. Andere Parteien erfahren weniger Delikte.
Von den 2.790 Fällen, die 2023 verzeichnet wurden, waren 234 Gewaltdelikte. Von ihnen ist die AfD am meisten betroffen. Von Äußerungsdelikten, unter die auch Beleidigungen und Drohungen fallen, sind Vertreter*innen der Grünen am stärksten betroffen. Swen Hutter ist Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Er forscht unter anderem zu Protesten und beobachtet eine Zuspitzung der Gewalt. In einem Interview mit BR24 sorgt er sich vor allem um Lokalpolitiker*innen. „Es wird ein Klima geschaffen, wo sich Menschen zweimal überlegen, ob und wie sie sich engagieren”, so Hutter.
Gewalt von Rechts
Nicht nur die Gewalt gegen Politiker stieg 2023 an, sondern auch die allgemeine politisch motivierte Kriminalität verzeichnete erschreckende Zahlen. Sie ist laut Fallzahlen des BKA auf dem höchsten Stand, seit Einführung des Meldedienstes 2021. Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, zeigte sich besorgt: „Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen, denn sie bedroht unsere Demokratie und unseren gesellschaftlichen Frieden.“ Das Gesamtstraftatenaufkommen der politisch motivierten Kriminalität stieg mit 60.028 Gesamtstraftaten, im Gegensatz zum Vorjahr 2022, um 1,89 Prozent. Davon waren 28.945 Delikte rechts motiviert. Diese nahmen im Vergleich zum Vorjahr um knapp 23 Prozent zu. Gestiegen sind ebenfalls Taten im Phänomenbereich ausländische Ideologie um rund 33 Prozent, sowie im Bereich der religiösen Ideologie, indem sich die Zahlen fast vervierfachten. Auch die antisemitischen Straftaten haben einen Höchststand erreicht. Diese Entwicklung stehe laut BKA im Zusammenhang mit dem eskalierenden Nahostkonflikt.
Insgesamt gesehen wurden die meisten politisch motivierten Straftaten jedoch im Bereich rechts motiviert begangen. Vor allem Attacken auf Geflüchtete haben zugenommen. Laut Münch gäbe es in Teilen der Bevölkerung Radikalisierungstendenzen: „Diese reichen bis hin zu einer versuchten Delegitimierung des Staates und seines Gewaltmonopols”. Laut Innenministerin Faeser sei der Rechtsextremismus die größte extremistische Gefahr für die Demokratie – und für die Menschen in Deutschland. Auch der Präsident des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang warnt vor Rechtsextremismus.
Gründe für die zunehmende Gewalt
Holger Münch glaubt, eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit Politik und staatlichen Einrichtungen zu erkennen, welche zu ebenfalls steigender Gewaltbereitschaft führe. Vor den Europa- und Kommunalwahlen warnte er: „Wir sehen, dass die Unzufriedenheit mit staatlichen Institutionen Beleidigungen und Bedrohungen befördert – und auch Gewalt. Und das häuft sich nun vor den anstehenden Wahlen.“ Einschätzungen von Politikwissenschaftler*innen zeigen, dass die steigende Gewaltbereitschaft der Bevölkerung tatsächlich durch ein allgemeines Gefühl der Bevölkerung kommt, sich von demokratischen Parteien nicht mehr vertreten zu fühlen. Die Sprache von Politiker*innen und das Stilisieren politischer Gegner*innen als Feinde, würde die Umstände zusätzlich aufheizen, wie auch Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl in einem Interview mit BR24 berichtet. Ein typisches Beispiel dafür ist der Aufruf des AfD-Politikers Alexander Gauland 2017 zur Jagd auf die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auch der Politikwissenschaftler und Demokratieforscher Wolfgang Merkel erläutert in einem Interview mit der Tagesschau noch weitere Möglichkeiten des Ursprungs steigender Gewaltbereitschaft aufgrund „politischer Uneinigkeit“. Seiner Meinung nach seien ein wesentlicher Grund Ohnmachtsgefühle und ein verbreitetes Gefühl, nicht gehört zu werden.
Lösung in Sicht?
Hinsichtlich der Angriffe auf Politiker*innen diskutierte der Bundestag erst kürzlich über eine Verschärfung des Strafrechtes. Fraktionsübergreifend wurden die Angriffe auf Politiker*innen, Ehrenamtliche und Einsatzkräfte verurteilt. Innenministerin Faeser sprach sich für eine Verschärfung des Strafrechts aus. In einem Interview mit den tagesthemen betonte sie, dass ein „eindeutiges Stoppsignal für Gewalttäter” gebraucht werde. Weiterhin pochte sie auf schnellere Justizverfahren. Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, glaubt nicht an eine Gesetzesverschärfung- oder änderung. Bei einem Interview mit Deutschlandfunk Nova meint er: „das Bundesgesetzbuch reicht vollkommen aus”. Eine Verschärfung schrecke Täter*innen nicht ab. Laut Zick bräuchte man „Schutz für jene, die ein höheres Risiko haben”. Besonders für Orte, in denen aktive Rechtsextremisten bekannt wären, bräuchte man andere Präventionspläne.” Um vor allem Kommunalpolitiker*innen und Ehrenamtliche zu schützen, gab es bereits eine Änderung des Bundesmeldegesetzes. Diese beinhaltet „eine Erhöhung der Anforderungen an eine Herausgabe von Meldedaten” von Bürger*innen und eine Auskunftssperre für Mandatsträger*innen.
Gesetzesverschärfung hin oder her, die Lösung des Problems scheint weiter fern zu bleiben. Innenministerin Faeser sieht die Entwicklungen auch als gesamtgesellschaftliche Frage und fragte in den tagesthemen: „Wie können wir ein besseres gesellschaftliches Klima auch schaffen, damit es nicht mehr passiert?“ – Das wäre wohl die wichtigste Frage, um zu einer Lösung zu kommen.