Daddy Issues

„Ich habe mich oft nach einer Vaterfigur gesehnt“

von | 5. Juli 2024

Die Auswirkungen, wenn Frauen ohne ihren Vater aufwachsen. Ein Gespräch mit Melissa*.

 

Triggerwarnung: Der folgende Text enthält sensible Themen über selbstverletzendes Verhalten und sexuell übergriffige Äußerungen.

Der Begriff „Daddy Issues“ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der häufig verwendet wird, um die psychischen und emotionalen Herausforderungen zu beschreiben, die Personen erleben, wenn sie keine oder eine sehr problematische Beziehung zu ihrem Vater hatten. Betroffene können in verschiedenen Bereichen ihres Lebens mit diesen Folgen zu kämpfen haben. Oft wird der Begriff vereinfacht dargestellt, doch was für Auswirkungen haben die „Daddy Issues“ bei einer Betroffenen?

Wie war das Verhältnis zu deinem Vater in der Kindheit?

Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwei Jahre alt war. Seitdem war ich einmal im Monat ein Wochenende bei meinem Vater. Damals hätte ich das Verhältnis als gut beschrieben, da es für mich normal war, ihn nur so selten zu sehen. An diesen Wochenenden hat er immer Ausflüge mit mir gemacht und ich habe auch oft Geschenke bekommen. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass er emotional bedeutsam für mich da war. 

Als mein Vater dann eine neue Partnerin hatte, ist die Beziehung zunehmend schlechter geworden. Es gab Zeiten, da hat er sich mehrere Monate nicht bei mir gemeldet und mir anschließend unterstellt, ich hätte mich ja auch bei ihm melden können. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich sein Verhalten und das seiner Partnerin mir gegenüber als negativ aufgefasst. Ich habe auch verstanden, dass mein Vater mich oft belogen, betrogen und manipuliert hat. Als ich circa zwölf Jahre alt war, habe ich dann den Kontakt zu ihm abgebrochen und wir haben uns acht Jahre lang nicht gesehen. Bis heute haben wir nur Kontakt, wenn es um Papierkram geht.  

Wie ist dir aufgefallen, dass du „Daddy Issues” hast?

Ich habe oft über das Verhältnis zu meinem Vater nachgedacht und wusste unterbewusst schon lange, dass es irgendwelche Spuren in mir hinterlassen hat. Ich habe mich oft nach einer Vaterfigur gesehnt. Einen Vater mit seiner Tochter glücklich und innig zu sehen, hatte für mich immer einen komischen Beigeschmack. 

So richtig realisiert habe ich das tatsächlich aber erst mit 17/18. Mir sind Stück für Stück Verhaltensmuster aufgefallen, die nicht „normal” sind. Als dann einige Creatorinnen Videos zum Thema Vaterkomplexe auf Social Media gemacht haben, habe ich gemerkt, dass vieles davon auf mich zutrifft. 

Auch das Klischee, dass junge Frauen auf ältere Männer stehen, traf auf mich zu. Schon in der Jugend fand ich ältere Männer attraktiver als Gleichaltrige und treffe damit bis heute oft auf Verwunderung. Ich hatte bereits mit zwölf Jahren Kontakt zu Älteren und wurde über das Internet zu sexuelle Handlungen genötigt. Damals habe ich nicht verstanden, dass das falsch ist. Rückblickend weiß ich, dass meine Naivität ausgenutzt wurde. Auch das war für mich ausschlaggebend dafür, mich mit dem Thema „Daddy Issues” näher zu befassen.

Was hältst du davon, dass es auf den sozialen Medien mehr thematisiert wird?

Solange es sich um informative Inhalte handelt, finde ich es sehr gut, dass darüber gesprochen wird. Ich denke, solche Videos und Beiträge können einigen Leuten helfen, ihre Probleme und ihr Verhalten einzuordnen. 

Ich finde es aber gleichzeitig schade, dass „Daddy Issues” zu einem Trend geworden sind. Viele behaupten, sie hätten Vaterkomplexe, weil sie einen älteren Mann toll finden, vergessen dabei aber auch, wie viele Probleme und Schmerzen ein Vaterkomplex mit sich bringen kann.

Wie hat die Beziehung zu deinem Vater das Vertrauen in dich selbst und andere beeinflusst?

Eigentlich war ich immer ein aufgeschlossenes Kind und hatte große Pläne, was ich in der Zukunft alles machen möchte. Als die Beziehung zu meinem Vater jedoch schlechter wurde, hat sich das drastisch geändert. Auch aufgrund anderer traumatischer Erfahrungen bekam ich starke Depressionen und verletzte mich sogar selbst. 

Ich hatte ein geringes Selbstwertgefühl und war sehr in mich gekehrt. Ich habe sehr negativ auf die Zukunft geblickt und an mir selbst gezweifelt. Bis heute fällt es mir sehr schwer, in meine eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und ich unterschätze mich regelmäßig selbst. Das Gefühl, nie genug zu sein, ist Teil meines Alltags geworden. 

Auch das Vertrauen in andere hat stark gelitten. Ich bin immer davon ausgegangen, dass mir jeder etwas Böses möchte und ich hatte auch oft das Gefühl, dass mich die Menschen in meinem engsten Umfeld hassen. Ich habe zwar gelernt, dass das nicht der Fall ist, diese Gedanken beeinflussen mich trotzdem ab und zu. 

Welche Maßnahmen ergreifst du, um dein Selbstwertgefühl außerhalb romantischer Beziehungen zu stärken?

Ich habe mit Kraftsport angefangen, abgenommen und mich sehr um meine mentale Gesundheit und Ernährung gekümmert. Ich habe gelernt, mit mir allein klarzukommen und mich selbst und mein Äußeres zu lieben. In Zeiten, in denen ich stark an mir zweifle, ziehe ich mich gerne etwas zurück, koche mir etwas Leckeres und gehe ins Fitnessstudio. Auch meine engsten Freunde helfen mir, meinen Selbstwert zu erkennen und mehr Vertrauen in mein Können zu haben.

Glaubst du, dass das Verhältnis zu deinem Vater deine heutigen Beziehungen beeinflusst hat?

Definitiv, ja. Mir fällt es sehr schwer, Beziehungen einzugehen und einem potenziellen Partner zu vertrauen. Auch die Art und Weise, wie ich mich in Beziehungen verhalte, ist dadurch geprägt. 

Ich hatte oft das Gefühl, nicht geliebt werden zu können. Wie auch, wenn es der eigene Vater nicht kann? Das ist ein Gedanke, der mich bis heute verfolgt. In Kombination mit vielen Kommentaren zu meinem Körper hat diese Denkweise dazu geführt, dass ich mich stark sexualisiere. Ich habe nie gelernt, was es heißt, bedingungslos geliebt zu werden – der Trugschluss daraus: Mein Körper ist das Einzige, was ein Mann an mir mögen kann.

In einer Beziehung hege ich grundlegend ein Misstrauen in die Gefühle meines Partners. Ich glaube nicht, dass der Mann es ernst mit mir meint und denke, dass er mich verlassen wird, sobald er eine bessere Frau findet. Ich brauche oft Bestätigung, dass mein Freund mich wirklich liebt.

Wie wichtig ist dir körperliche Nähe in einer Beziehung? Glaubst du, dass dies durch die Beziehung zu deinem Vater geprägt ist?

Körperliche, nicht sexuelle Nähe ist mir sehr wichtig in einer Beziehung. Ich kann mich nicht daran erinnern, von meinem Vater je eine richtige Umarmung bekommen zu haben oder mit ihm gekuschelt zu haben. Daher suche ich diese Nähe umso mehr in einem Partner.

Mein Vater hatte in seiner Wohnung oft pornografische Zeitschriften und Gegenstände rumliegen, die ich als Kind natürlich gefunden und betrachtet habe. Er hat auch teilweise anstößige Kommentare über meinen Körper geäußert, als ich in die Pubertät kam. Das Thema Sexualität war also unterschwellig oft präsent, wenn ich bei meinem Vater war. 

Wie bereits erwähnt, sexualisiere ich mich oft und habe das Gefühl, dass mein Körper das einzig Liebenswerte an mir ist. Es gab auch schon Situationen, in denen ich dem Sex zugestimmt habe, obwohl ich keine Lust darauf hatte. Ich hatte Angst, dass mein Gegenüber mich sonst nicht mehr mag oder mich anders behandeln würde.

Welche Auswirkung hat die Beziehung zu deinem Vater auf das Vertrauen in die Loyalität des Partners?

Da ich mir bei meinem Vater nie wirklich sicher sein konnte, ob er mir die Wahrheit erzählt oder lügt, projiziere ich dies oft auf meine Partner.

In meiner ersten Beziehung habe ich meinem Partner sehr vertraut und ich wusste eigentlich, dass er mir nicht fremdgehen würde. Unterbewusst habe ich seine Loyalität trotzdem hinterfragt und hatte manchmal das Gefühl, dass er eine bessere Frau finden und mich betrügen wird

Meine zweite Beziehung war sehr toxisch. Mein Partner hatte mir keine gute Vertrauensgrundlage gegeben und ich habe seine Loyalität oft hinterfragt. Er hatte ähnliche Verhaltensweisen wie mein Vater. Ich habe die Beziehung dann relativ schnell beendet.

Prinzipiell würde ich sagen, dass das Verhältnis zu meinem Vater schon Einfluss auf mein Vertrauen in Männer hat. Jedoch ist es auch immer abhängig von der anderen Person und welche Vertrauensgrundlage vorhanden ist. 

Wie konnten dir frühere Beziehungen dabei helfen, ein besseres Verständnis für deine eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu erlangen?

Meine Dating-Erfahrungen haben mir sehr dabei geholfen, meine Grenzen und Bedürfnisse zu erkennen. Durch die toxische Beziehung und andere Erfahrungen habe ich gemerkt, dass ich mich nicht unter meinem Wert verkaufen darf. Ich habe gelernt, mehr Respekt vor mir selbst zu haben und meine Gutmütigkeit nicht jedem bedingungslos zu schenken.

Ich weiß jetzt, dass kein Mann das Recht hat, mir wehzutun, egal ob mental oder körperlich. Ich habe zwar einige negative Erfahrungen gemacht, konnte aber aus jeder etwas für die Zukunft und auch über mich selbst lernen.

Hast du Unterstützung oder Therapie in Anspruch genommen, um die Auswirkungen der „Daddy Issues“ zu verarbeiten?

Ich habe mit fünfzehn eigenständig eine Therapie in Anspruch genommen, aufgrund meiner damaligen mentalen Verfassung. In dieser Therapie waren die Auswirkungen der „Daddy Issues” auch oft Thema, aber ich konnte sie damals noch keinem Oberbegriff zuordnen. 

Prinzipiell empfehle ich jedem, der mental mit etwas zu kämpfen hat, einer Therapie eine Chance zu geben. 

* Name geändert

Kurzkommentar der Autorin

Da einige Freundinnen von mir ohne Vater aufgewachsen sind oder ihn nicht häufig gesehen haben, ist das Thema „Daddy Issues“ ein bedeutendes Thema in meinem Leben. Ich sehe, welche Beziehungen meine Freundinnen eingehen, wie sie sich von ihren „großartigen“ Männern behandeln lassen und welche schrecklichen Beziehungen sie ertragen. Ich sehe die Traumata, die sie erlitten haben, weil sie ohne Vater aufgewachsen sind. Besonders auf den sozialen Plattformen kann man viele Memes finden, wo sich über die Vaterkomplexe lustig gemacht wird. Deshalb halte ich es für problematisch, ein Trauma, das in jungen Jahren entsteht, abzuwerten. Solche Aussagen neigen dazu, die physischen und emotionalen Herausforderungen nicht als ernsthafte Probleme zu erkennen. Dabei werden Gefühle und Verhaltensweisen der Betroffenen erklärt, ohne die zugrunde liegenden Ursachen zu berücksichtigen.

Ich bin mir bewusst, dass sich alle zu diesem Thema unterschiedlich äußern, aber es sollte nicht als „unwichtig“ betrachtet werden. Meiner Meinung nach sind die sozialen Medien ein guter Ort, um mit anderen Betroffenen in Kontakt zu treten oder auch die Hilfe zu bekommen, die sie brauchen und verdienen. Man sollte sich nicht missverstanden fühlen. Es handelt sich um berechtigte Gefühle, die von allen akzeptiert werden sollten, auch wenn man eine andere Meinung vertritt. Anstatt das Thema zu verurteilen oder ins Lächerliche zu ziehen, sollte es einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Thematik in den sozialen Medien geben. Natürlich können die sozialen Medien aber keine Therapie ersetzen. Die Beiträge sollten auf Empathie und Verständnis basieren, da insbesondere die Betroffenen keine Schuld tragen und mehr Respekt verdienen. Tatiana Schildt, eine Familien- und Paartherapeutin, schildert in einem Interview mit COSMOPOLITAN, dass Vaterkomplexe ein ernstes Thema sind, das entsprechend behandelt werden sollte. Sie betont die Bedeutung einer Therapie für Menschen, die unter solchen Komplexen leiden, um diese traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und zu überwinden. Auch andere Beiträge unterstreichen oft die Notwendigkeit einer professionellen therapeutischen Unterstützung für ein erfülltes Leben. 



Text: Sarah Reppe, Titelbild: Unsplash



<h3>Sarah Reppe</h3>

Sarah Reppe

ist 20 Jahre alt und studiert derzeit im 4. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteur seit dem Sommersemester 2024.