INTERVIEW

„Mein Leben war eine ständige Suche nach dem richtigen Plan“

von | 5. Juli 2024

Life- und Business-Coach Simon Hähle spricht über die Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaft.

Seit dem 1. Januar 2023 arbeitet Simon Hähle als selbstständiger Life- und Business-Coach. Sein Herz ist es dabei, Menschen zu unterstützen, Veränderungsprozesse zu meistern und ihre Ziele zu erreichen. Im Interview mit medienMITTWEIDA beleuchtet er das Thema Orientierungslosigkeit, das in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. Er teilt seine persönlichen Erfahrungen und die Herausforderungen, die er auf seinem eigenen Weg der Orientierungslosigkeit überwunden hat.

Was war dein Antrieb, Coach zu werden?

Bevor ich mich dazu entschieden habe, mich als Coach selbstständig zu machen, war ich knapp zehn Jahre als Gemeinde- und Jugendreferent tätig. Ich habe Theologie studiert und bereits während des Studiums den Schwerpunkt auf Seelsorge gelegt. Das hat einerseits mit meiner Lebensgeschichte zu tun, da ich mich selbst oft orientierungslos gefühlt habe. Zum Beispiel wusste ich nach dem Abitur nicht, wie es weitergehen sollte. Ich habe ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) gemacht und danach Wirtschaftswissenschaften studiert, dieses Studium aber abgebrochen und schließlich zur Theologie gewechselt.
Im Theologiestudium mit dem Schwerpunkt Seelsorge lag mein Fokus stark auf der Auseinandersetzung mit mir selbst und mit den Menschen, die ich begleiten durfte. Da habe ich gemerkt, dass mir die Eins-zu-eins-Begleitung von Menschen große Freude bereitet. Ich arbeitete sowohl mit Jugendlichen als auch mit erwachsenen ehrenamtlichen Mitarbeitern und half ihnen herauszufinden, was sie gut können und wie sie ihren Platz in der Gemeindearbeit finden.
Ein Schlüsselerlebnis für mich war meine Hirn-OP, nach der ich mir intensiv die Frage gestellt habe, was meine Kernkompetenz ist. Im vielseitigen Aufgabenbereich des Gemeindedienstes habe ich festgestellt, dass mir die individuelle Begleitung von Menschen am meisten Freude bereitet und ich darin besonders gut bin. Daraufhin habe ich mehrere Coaching-Seminare besucht, um herauszufinden, ob ich eine professionelle Coaching-Ausbildung machen möchte. Es kristallisierte sich immer mehr heraus, dass dies der richtige Weg für mich ist.

Foto: Simon Hähle

Also würdest du sagen, dass du durch eigene Situationen und Erfahrungen die Menschen besser an die Hand nehmen kannst?

Ich habe oft das Gefühl der Orientierungslosigkeit erlebt und ein großer Teil davon hatte damit zu tun, dass ich mich mit Leuten aus meinem Umfeld verglichen habe. Bei diesen Vergleichen hatte ich immer den Eindruck, schlechter abzuschneiden. Mein Lebenslauf erschien mir zu chaotisch und nicht so geradlinig wie bei anderen: Schule, Abitur, Ausbildung oder Studium, Heirat, Hausbau, Kinder. Stattdessen war mein Leben eine ständige Suche nach dem richtigen Plan und der Frage, wie es weitergeht. Daher kann ich gut nachvollziehen, dass Menschen, die sich desorientiert fühlen, oft an sich selbst zweifeln, Versagensängste haben und sich wertlos fühlen. Sie fragen sich, was aus ihnen werden soll, ob sie glücklich sein können, ob sie das Richtige für sich finden und was sie eigentlich wollen und können. Solche Phasen der Selbstfindung bringen viele Fragen mit sich.

Meinst du, dass unsere Gesellschaft ein Problem mit der Orientierungslosigkeit hat?

Aus meiner Sicht ist Orientierungslosigkeit ein riesengroßes Thema, das sehr viele Menschen betrifft. Diese Desorientierung kann sich in verschiedenen Lebensbereichen ausdrücken. Ein Beispiel ist die Frage, was man nach dem Abitur oder nach dem Bachelor- oder Masterstudium machen soll. Sie kann auch während einer Ausbildung auftreten, wenn jemand feststellt, dass er oder sie Zweifel hat und sich fragt, ob diese Ausbildung überhaupt das Richtige ist. Ebenso kann sie in Beziehungen vorkommen, nach langjährigen Partnerschaften oder nach einer zerbrochenen Ehe.
Orientierungslosigkeit ist auf verschiedenen Ebenen zu beobachten. Ein Grund, warum dieses Thema auch ein gesellschaftliches Problem ist, liegt in der riesigen Auswahl, die wir haben. Wir haben das Gefühl, zu allem Zugang zu haben und jederzeit alles tun zu können. Diese Vielzahl an Möglichkeiten kann überwältigend sein. Ein gutes Beispiel ist ein Supermarkt: Man steht vor einem Regal mit Hunderten verschiedenen Käsesorten und muss eine Entscheidung treffen. Diese Auswahl kann viele Menschen überfordern.
Ein weiterer Grund, warum Orientierungslosigkeit so ein großes Thema ist, liegt im globalen Vergleich. Früher verglich man sich hauptsächlich mit Klassenkameraden oder Menschen aus dem gleichen Dorf. Heute kann man sich mit Menschen aus der ganzen Welt vergleichen – aus Amerika, Indien, Korea und vielen anderen Ländern. Das macht es zusätzlich schwer, herauszufinden, was man selbst will, was einem wichtig ist und wo man seinen Platz in dieser Welt sieht.

Wodurch entsteht Orientierungslosigkeit?

Ich glaube, es gibt einige wesentliche Punkte in Bezug auf Orientierungslosigkeit. Ein weiterer wichtiger Punkt zum Beispiel ist, dass viele Menschen einfach leben, ohne zu reflektieren und bestimmte Dynamiken zu erkennen und zu verstehen. Sie hinterfragen nicht, warum ihr Leben gerade so läuft, wie es läuft. Das kann zum Beispiel bei einer zerbrochenen Beziehung oder Freundschaft der Fall sein. Viele Menschen sagen vielleicht, sie hätten aus ihren Erfahrungen gelernt, ziehen aber keine wirklichen Schlüsse daraus. Wenn ich keine Konsequenzen aus meinen Erfahrungen ableite, kann das dazu führen, dass ich irgendwann wirklich orientierungslos bin und nicht verstehe, warum sich bestimmte Muster immer wiederholen.
Hinzu kommt, dass viele Menschen sich nicht trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie bekommen Ergebnisse, die ihnen nicht gefallen, haben aber Schwierigkeiten zu sagen: „Hey, ich brauche hier Unterstützung.“ Sie zögern, sich als verbindlicher Teil einer Gemeinschaft zu sehen, um Feedback zu bitten oder Hilfe zu suchen. Obwohl sie vielleicht erkennen, dass sie Unterstützung brauchen, fällt es ihnen schwer, sich an einen Mentor, Coach, Seelsorger oder, wenn es notwendig ist, an einen Therapeuten oder Psychologen zu wenden, um an ihren Problemen zu arbeiten.

Welchen Mehrwert bietest du als Coach?

Ein wesentlicher Aspekt meiner Arbeit ist es, Raum und Zeit für meine Coachees – so werden die Klienten im Coaching genannt – zu schaffen, damit sie sich überhaupt erst einmal öffnen können. Um dies zu verdeutlichen, verwende ich gerne zwei Bilder:
Das erste Bild ist das eines Taxifahrers. Mein Kunde ist der Fahrgast, der bestimmt, wohin er möchte, was sein Ziel ist. Ich helfe ihm letztendlich, dieses Ziel zu erreichen, indem ich die Route wähle und ihn dorthin bringe.
Das zweite Bild beschreibt meinen Kunden mit einer Taschenlampe in der Hand. Gemeinsam betreten wir einen dunklen Raum und der Kunde leuchtet mit der Taschenlampe auf einen bestimmten Bereich – in der Regel sein Problem. Meine Aufgabe ist es, ihm zu helfen, den gesamten Raum auszuleuchten, also überall hinzuleuchten und zu entdecken, was sich noch alles in diesem Raum befindet.
Dabei unterstütze ich ihn neue Perspektiven einnehmen und Ressourcen sowie Potenziale, die in ihm bereits vorhanden sind, sichtbar zu machen.

Bezeichnet sich heutzutage wirklich jeder Dritte als Coach? Was denkst du darüber?

Ja, ich glaube, dass der inflationäre Gebrauch des Begriffs „Coach“ damit zusammenhängt, dass Coaching in Deutschland kein geschützter Begriff und auch kein geschützter Beruf ist. Das bedeutet faktisch, dass sich jeder als Coach bezeichnen und entsprechende Visitenkarten drucken lassen kann. Für mich ist es daher besonders wichtig zu prüfen, ob eine Person eine qualitative hochwertige Ausbildung absolviert hat, idealerweise verbunden mit einer externen Zertifizierung, durch einen Berufsverband für Coaches. Diesen Weg habe ich bewusst eingeschlagen, um mich von sogenannten „Möchte-gern-Coaches“ abzugrenzen, die vielleicht nur auf den Zug aufspringen, weil man als Coach viel Geld verdienen kann.
Ein weiterer Grund ist das Verständnis von Coaching dieser Person. Bezeichnet sich jemand als Coach, bietet er oder sie tatsächlich Beratung, Training und Mentoring an? Oder handelt es sich eher um jemanden, der sich darauf spezialisiert hat, Fragen zu stellen und zielgerichtete Methoden einzusetzen, um die Lösung aus dem Klienten selbst herauszuholen? Das sind für mich zwei entscheidende Parameter, um zu erkennen, welche Art von Coach es ist.

Du erwähnst häufig den Vergleich der Rolle von Opfer und Gestalter. Was genau meinst du damit?

Für mich ist das Bild sehr aussagekräftig, das ich auch immer wieder mit meinen Coachees teile: Ob ich ein Opfer meiner Umstände bin oder Gestalter meiner Zukunft, ist letztendlich eine Entscheidung, die ich treffe. Möchte ich als Opfer leben oder als Gestalter? Der Begriff „Opfer“ mag hart und provokativ sein und viele Menschen stoßen sich daran, aber für mich bedeutet ein Opfer, passiv zu sein und die Verantwortung von sich weg zu schieben. Ein Opfer sagt: Die Umstände oder die Menschen müssen sich ändern, damit es mir gut geht oder ich glücklich bin.
Ein Gestalter hingegen ist aktiv. Er akzeptiert die Menschen und Umstände, wie sie sind, auch wenn sie schwierig sind, und sucht nach Möglichkeiten, wie er daraus etwas machen kann. Ein schönes Beispiel dafür ist ein Freund von mir, der ein T-Shirt hatte, auf dem stand: „Ich kann nichts dafür, ich bin halt so.“ Als ich das vor 15 Jahren zum ersten Mal sah, musste ich darüber schmunzeln. Aber je mehr ich darüber nachgedacht habe und je mehr Menschen ich begleitet habe, desto klarer wurde mir, dass alles, was wir erlebt haben und was uns geprägt hat – sei es in der Kindheit, in der Schulzeit, in sozialen Kontakten, der Familie oder im Job – Teil unserer Biografie ist und wir das nicht ändern können. Aber wir können entscheiden, wie wir damit umgehen.
Man kann sagen: „Ich kann nichts dafür, ich bin halt so“ und einfach so durchs Leben gehen. Oder man kann sagen: „Ja, das ist passiert, aber ich entscheide mich, Gestalter zu sein und aus meinen Erfahrungen etwas Wertvolles zu machen.“ Diese bewusste Entscheidung bedeutet, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, sich den eigenen Herausforderungen zu stellen und daraus persönlichen Mehrwert zu ziehen. Das führt dazu, dass man im Einklang mit sich selbst ist, und das hat Auswirkungen nicht nur auf das eigene Leben, sondern auch darauf, wie man mit anderen Menschen umgeht. Sie werden bemerken, dass eine Veränderung stattfindet, und das kann auch das Umfeld positiv beeinflussen.

Text: Vanessa Willmann, Titelbild Foto: www.freepik.com

<h3>Vanessa Willmann</h3>

Vanessa Willmann

ist 26 Jahre alt und studiert derzeit im 4. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Social Media Leitung.