Sonntag, 14 Uhr. Beim Kaffeetrinken im Garten mit meiner Oma erzählt sie mir von ihren Erfahrungen mit der Krankheit Multiple Sklerose. Mein Opa erkrankte bereits im frühen Alter und musste sich sein ganzes Leben damit arrangieren. Meine Oma machte es sich zur Aufgabe, ihn bis zu seinem letzten Tag zu unterstützen und für ihn da zu sein. Indem sie ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellte, vollbrachte sie eine außergewöhnliche Leistung.
Meine Großeltern 2008 im Urlaub auf Teneriffa | Foto: privat
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose, kurz MS, ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Chronisch-entzündlich bedeutet, dass ein ständiger Entzündungsprozess im Körper stattfindet. Die Folgen sind die Rückbildung und der Verfall von Zellen, was zum Zellabbau sowie zu Funktionsverlusten führt. Da die körpereigenen Abwehrstoffe nicht mehr ihre eigentliche Aufgabe erfüllen, wird MS auch als Autoimmunerkrankung bezeichnet. Die Abwehrstoffe greifen nicht nur Krankheitserreger, sondern auch die eigenen Nervenzellen an. Das liegt daran, dass die Zellen des Immunsystems nicht mehr zwischen Eigen- und Fremdkörper unterscheiden können. Durch die daraus resultierenden Vernarbungen der Nervenfasern hat die MS auch ihren Namen, denn Multiple Sklerose bedeutet so viel wie „vielfache Verhärtung“. Nervenimpulse werden nur noch verlangsamt oder gar nicht mehr weitergeleitet. Die Folgen sind körperliche Beschwerden, durch die selbst die einfachsten Tätigkeiten unmöglich werden. In Deutschland leiden etwa 280.000 Personen an dieser Krankheit, weltweit sind es etwa 2,8 Millionen Menschen. Somit ist MS die häufigste neurologische Erkrankung. Die ersten Symptome treten meistens zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf.
Auch meine Oma erinnert sich noch gut an die Anfänge der Krankheit. Es war 1968, als ihr Mann damals der Armee diente. Nach einer Übung sah er plötzlich Doppelbilder und verspürte Taubheitsgefühle in seinen Armen und Beinen. Er wurde sofort in eine Uniklinik gebracht, wo man ihn untersuchte und medikamentös behandelte. Glücklicherweise besserte sich sein Zustand, doch nach einigen Monaten musste er trotzdem die Armee verlassen. Die Symptome verschwanden und er fühlte sich wieder gesund. Er ging zurück zur Arbeit und konnte auch wieder Sport treiben, besonders Fußball war seine Leidenschaft. 1973, während eines Urlaubs entdeckte er plötzlich eine Zecke an seinem Knöchel, die er sofort entfernte. Meine Großeltern dachten sich nichts dabei. Doch drei Monate später kehrten die Taubheitsgefühle zurück. Er wurde in die Neurologie in Karl-Marx-Stadt eingewiesen und erneut medikamentös behandelt. Nach einem achtwöchigen Aufenthalt mit Behandlung konnte er wieder Fußball spielen und zumindest halbtags arbeiten. In seinem Betrieb erhielt er als Dreher eine leichtere Tätigkeit. Nach der Wende wurde er mit einer Erwerbsunfähigkeitsrente entlassen. Als er dann zu Hause war, verschlechterte sich sein Zustand zunehmend.
Die Ursachen
Es gibt keine eindeutige Erklärung, wodurch MS ausgelöst wird. Wie Sigrid Nesterenko in seinem Buch „Multiple Sklerose“ erläutert, wäre eine Therapie erfolgreicher, wenn man gezielt gegen die Ursachen vorgehen könnte. Oftmals wird nur symptomatisch behandelt, wodurch nach Abschluss der Therapie die Symptome wiederkehren. Könnte man die zugrundeliegenden Ursachen behandeln, würden sich die Symptome auch zurückbilden. Die Ursachen werden viel diskutiert und erforscht. Denkbar ist eine Kombination mehrerer Einflüsse, die zur Entstehung der Multiplen Sklerose führen. Auslöser könnten beispielsweise Infektionen sein, die durch Viren und Bakterien ausgelöst werden, wie zum Beispiel das Epstein-Barr-Virus oder Borrelien. Auch Umweltschadstoffe könnten mit der Krankheit in Verbindung stehen. Der Mensch ist von unzähligen umgeben, doch das Ausmaß der Bedrohung wird von vielen unterschätzt. Die Beispiele reichen von Schadstoffen im Körper, wie metallische Kronen oder das Rauchen, bis hin zu denen im Haushalt, wie Aluminium-Deos oder chemische Zusatzstoffe in Lebensmitteln. Multiple Sklerose ist zwar keine Erbkrankheit, jedoch kann eine gewisse „Neigung“ vererbt werden, wodurch von einer genetischen Veranlagung ausgegangen werden kann.
Sowohl damals als auch heute sind keine genauen Ursachen bekannt, weshalb die Krankheit bei meinem Opa ausbrach. Sie ist aufgetaucht und war dann einfach da. Meine Oma ist der Meinung, dass aus heutiger Sicht der Zeckenbiss mit anschließender Borreliose ein Auslöser für das erneute Auftreten der Symptome gewesen sein könnte. Das ist aber nur eine unbestätigte Vermutung. Was, wo, wie und warum, das weiß keiner.
Die Symptome
In Nesterenkos Buch heißt es:
Es gibt daher kein bestimmtes Symptom oder einen bestimmten Krankheitsverlauf, der auf MS hinweist. Da die Symptome im Anfangsstadium oft als eher harmlose Beeinträchtigungen angesehen werden, denkt man nicht direkt an eine so schwerwiegende Krankheit. Meist wird erst nach dem zweiten oder dritten wiederholten Auftreten der Anzeichen festgestellt, dass es sich nicht nur um eine harmlose Krankheit handelt.
Sehstörungen sind bei Erkrankten oft das erste Symptom. Diese können sich durch Doppelbilder, verzerrte Bilder oder Farb- und Wahrnehmungsstörungen äußern. Auch die sogenannte Fatigue ist ein häufiges Symptom. Dies wird als anhaltende Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit beschrieben. Häufig ist die Fatigue mit Schlafstörungen verbunden. Außerdem können das Zittern von Körperteilen, der sogenannte Tremor, sowie Spastiken und Muskelschwäche auftreten. Weitere Symptome wie Taubheitsgefühle, Gleichgewichts- und Bewegungsstörungen, Trigeminusneuralgie – starke Gesichtsschmerzen, Geschmacksstörungen, Depressionen, Sprechstörungen und Blasenfunktionsstörungen sind möglich. Dies sind jedoch nur einige Beispiele für die möglichen Beeinträchtigungen, die auftreten können.
Im Buch heißt es weiter:
Die ersten Symptome traten bei meinem Opa im Alter von 20 Jahren auf. Er sah Doppelbilder und verspürte Taubheit sowie ein Kribbeln in Händen und Füßen. Nach diesem ersten Schub war vier Jahre Ruhe. Doch 1974 kehrten die Taubheitsgefühle und das Kribbeln in Händen und Füßen zurück. Auch seine Beinkraft ließ nach. Seit 1992 nutzte er einen Stock als Gehhilfe und ab 1996 war er teilweise auf einen Rollstuhl angewiesen, den er dann ab 2008 vollständig nutzen musste. Im Jahr 1992 verschlechterte sich auch seine Feinmotorik und er litt unter Müdigkeit sowie Schlafstörungen. Beim Autofahren nutzte er ab 1998 eine Handbedienung, mit der er die Aufgaben der Füße mit den Händen steuern konnte. Laut meiner Oma war ihm das wichtig, denn er sagte immer: „Wenn ich Auto fahre, fühle ich mich gesund“. Doch 2002 war auch das nicht mehr möglich.
Als seine Neurologin zusätzlich eine Trigeminusneuralgie diagnostizierte, habe sie nur zu meinen Großeltern gemeint: „Auch das noch“. Dies sind sehr starke Schmerzen am Gesichtsnerv, die sich wie Stromschläge anfühlen und als Begleiterscheinung von MS auftreten können. Mein Opa bekam dagegen Schmerztabletten, die jedoch als Nebenwirkung seine Mobilität weiter beeinträchtigten.
2008 wurde bei ihm zudem ein Blasenkarzinom diagnostiziert. Diese Krebsart kann mit MS in Verbindung stehen, da die Blase nicht mehr vollständig entleert wird und sich durch Restharn Krebs bilden kann. Er musste operiert werden. Obwohl Blasenkarzinome in der Regel nicht streuen, bildeten sie sich bei ihm immer wieder. So musste er insgesamt achtmal unter Vollnarkose in den OP. Er überstand die Operationen, aber sie schwächten ihn so sehr, dass er nicht mehr laufen konnte und auf den Rollstuhl angewiesen war. 2011 bekam er dann einen Harnwegs-Dauerkatheder. Mit der Zeit ließ seine Kraft immer mehr nach. Seit Mitte 2013 konnte und wollte er größtenteils nur noch liegen. Nur zu den Mahlzeiten setzte ihn meine Oma manchmal noch in den Rollstuhl.
Die Verlaufsformen
Da bei jedem Betroffenen die Krankheit anders verlaufen kann, nennt man MS auch die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“. Man unterscheidet verschiedene Verlaufsformen. Am häufigsten treten die schubförmig-remittierende und die chronisch-progrediente Verlaufsform auf.
Mein Opa hatte einen sekundär chronisch-progredienten Verlauf. Er hatte also später keine direkten Schübe mehr, aber im Laufe der Zeit kamen immer mehr Beschwerden hinzu. Daher mussten sich meine Großeltern ständig an neue Umstände und Gegebenheiten anpassen. Trotz seiner zunehmenden Beschwerden fuhren sie lange Zeit noch in den Urlaub, was mit seinem Rollstuhl gut funktionierte. Im Sommer reisten sie hauptsächlich ans Meer, da Wanderurlaube oder Ähnliches nicht möglich waren. Meine Großeltern suchten gezielt behindertengerechte Hotels und Orte aus, die flach und gut mit dem Rollstuhl befahrbar waren. Ihr letzter Urlaub war 2008 auf Mallorca. Dort erlitt mein Opa einen schlimmen Trigeminus-Anfall, vermutlich ausgelöst durch den Reisestress. Meine Oma meint: „Danach haben wir uns gesagt, dass es keinen Sinn mehr hat“. Auch in der Wohnung mussten sie einige Änderungen vornehmen. Zum Beispiel wurde der Boden rollstuhlgerecht angepasst und Hilfsmittel wie Wandhalterungen im Bad installiert.
Die Diagnostik
Multiple Sklerose zu diagnostizieren ist schwierig, da die vielfältigen Symptome oft auch für andere Krankheiten zutreffen und die Erkrankten an sehr unterschiedlichen Beschwerden leiden. Daher kann es eine längere Zeit bis zur Diagnose dauern. Zu dieser gehört neben der Anamnese, also der Erhebung der Krankengeschichte, auch ein klinischer Befund mit Blut- und Urinprobe sowie die sogenannte Lumbalpunktion, also eine Nervenwasserentnahme. Außerdem ist die Magnetresonanztomographie (MRT) eine unverzichtbare Untersuchung, um Entzündungen im Gehirn und Rückenmark festzustellen. Des Weiteren werden neurologische Untersuchungen durchgeführt, um die Gehirn- sowie Nervenfunktionen zu prüfen. Hinzu kommt die elektrophysiologische Untersuchung, durch die sich die Leitfähigkeit und Veränderungen der Nervenbahnen feststellen lassen.
Bei meinem Opa war anfangs immer nur von Muskelschwund und einer chronischen Entzündung im Rückenmark die Rede. In der damaligen Zeit hatte man noch nicht die gleichen Möglichkeiten wie heute, um MS zu diagnostizieren. Erst 1991 konnte bei ihm die Diagnose gestellt werden. Vorher wurde „Multiple Sklerose“ nie erwähnt und meine Großeltern wussten nicht, um welche Krankheit es sich genau handelte. Der Krankheitsverlauf war ungewiss, aber sie hofften immer auf Heilung. Die Diagnose hat für meine Großeltern nicht viel geändert: „Sie brachte Klarheit und das Wissen, dass es sich um eine unheilbare Krankheit handelt, aber an den Symptomen änderte sich ja nichts“.
Meinem Opa fiel es anfangs schwer, die Krankheit als unheilbar anzunehmen. Er wollte sich ungern helfen lassen und eigenständig bleiben, was jedoch nicht immer möglich war und den Alltag für die beiden erschwerte. Als Partnerin musste meine Oma vieles entbehren und Sehnsüchte unterdrücken: „Es kamen auch Trennungsgedanken auf. Doch wer garantiert mir, dass mein Leben danach besser wird? So habe ich mich auch mit dieser Lebenssituation abgefunden und sie als Schicksal angenommen. Meine Tochter und meine Familie können mir nicht vorwerfen, dass ich ihren Vater im Stich gelassen habe“. Auch mein Opa hatte sich später mit der Krankheit arrangiert. Er sagte: „Was nützt es, wenn ich jammere?“ und nahm bereitwillig Hilfe an. Therapeuten und Pflegediensten gegenüber war er kooperativ, was es seinem Umfeld erleichterte, dieses Schicksal mit ihm zu tragen.
Die Behandlung
Multiple Sklerose ist bis heute nicht heilbar, da die klaren Ursachen der Krankheit noch nicht bekannt sind. Die Behandlung basiert auf drei grundlegenden Therapiesäulen.
Die Therapie des akuten Schubs kann aus einer Kortison-Stoß-Therapie bestehen, bei der mithilfe einer intravenösen Infusion die Entzündungsprozesse gehemmt werden. Falls dies nicht wirkt, gibt es noch die Plasmapherese. Dabei wird dem Patienten Blut entnommen, um schädliche Bestandteile zu entfernen, die die Nervenfasern schädigen.
Die verlaufsmodifizierende Therapie dient der langfristigen Behandlung und somit der Vorbeugung und Minderung von Schüben. Bei der Immunmodulation wird die Immunantwort umprogrammiert, um das Gleichgewicht zwischen stimulierenden und dämpfenden Immunmechanismen wiederherzustellen. Bei der Immunsuppression wird die Funktion der Immunzellen unterdrückt, um den Angriff auf eigene Zellen vorzubeugen. Es ist wie eine milde Chemotherapie.
Die symptomatische Therapie zielt darauf ab, die Symptome zu verbessern. Durch medikamentöse oder nicht-medikamentöse Behandlung kann die Lebensqualität der Erkrankten verbessert werden.
Mein Opa erhielt zweimal pro Woche zu Hause Physiotherapie. Das Ziel war der Erhalt dessen, was motorisch noch möglich war. Ein Erfolg war es beispielsweise, wenn er auf dem Rücken liegend mit angewinkelten Beinen die Kraft aufbringen konnte, seine Knie zusammenzuhalten, ohne dass die Beine zur Seite wegfielen. Später kam auch Ergotherapie hinzu. Regelmäßig gingen meine Großeltern zur Neurologin, um den Zustand meines Opas zu überprüfen. Bei seinen ersten beiden Schüben erhielt er eine Tablettenkur und nahm auch später täglich Medikamente gegen die Symptome. Doch die starken Tabletten schwächten seinen Körper irgendwann so sehr, dass er nur noch liegen wollte. Das Sitzen wurde für ihn zu anstrengend. Er bekam ein Pflegebett mit einer elektrischen Druckausgleichsmatratze. Leider erwies sich diese als ungeeignet und er hatte sich dadurch wundgelegen. Diese Wunden, auch Dekubitus genannt, heilten nicht mehr und verschiedene Pflaster und andere Maßnahmen halfen nicht. Eines Tages ging plötzlich gar nichts mehr und mein Opa schlief in Ruhe ein. Im Nachhinein erzählte seine Hausärztin meiner Oma, dass sich durch den Dekubitus sicher eine Sepsis gebildet hatte, die zum Organversagen führte. Meine Oma meinte dazu: „Letztendlich war es nur noch eine Quälerei für ihn. Aber angesichts der Schwere der Krankheit hat er sich insgesamt gut gehalten, das hat die Ärztin auch immer gesagt“. Mein Opa hat sich nie aufgegeben und bis zum Schluss gekämpft.