Reaction-Formate

Liebe, Hass, Macht – Was wir aus Reality-TV lernen können

von | 22. November 2024

Warum wir den „Menschen, die wir auf den Bildschirmen am aller schlimmsten finden, ähnlicher sind, als wir gerne glauben würden.”

Reality-TV hat schon lange einen festen Platz im Programm der TV-Sender und Streaming-Anbieter. Die Formate sind beliebt, werden aber häufig als Trash” oder Guilty Pleasure” bezeichnet. Doch Reality-TV ist längst nicht mehr etwas, das im stillen Kämmerlein geschaut wird. Schon seit einigen Jahren kommentieren auch einige Content-Creator die Formate wie Bachelorette, Are You The One oder Princess Charming öffentlich auf ihren Social-Media-Kanälen.

Silvi Carlsson und Annikazion heißen die YouTube-Kanäle von Silvana Carlsson und Annika Gerhard. Beide kommentieren auf ihren Kanälen die aktuellen Folgen der Reality-TV-Formate, die sie selbst schauen.

Der YouTube-Kanal Annikazion“, Fotos: Annikazion

Der YouTube-Kanal „Silvi Carlsson“, Fotos: Silvi Carlsson

Für Aufsehen auf den YouTube-Kanälen von Silvi und Annika sorgte in den letzten Wochen vor allem die neueste Staffel Bachelorette”. In dieser durfte die Protagonistin Stella erstmals sowohl Männer als auch Frauen daten, was vor allem die teilnehmenden Männer überraschte, die im Vorfeld nicht darüber informiert wurden.

Die „klassisch heterosexuelle Frau“

Auf den Kommentar von Bachelorette”-Kandidaten Jan, dass sich der „ein oder andere“ Kandidat „schon eine klassische heterosexuelle Frau wünschen würde“, kommentiert Annika nur: „Die sind nämlich bekanntlich besser im, ah nein, es gibt keinen Unterschied.“ Schon seit 2016 sind Annikas Reactions auf Reality-Formate ein etabliertes Format auf ihrem Kanal Annikazion.

Bei den Fans kommt das gut an. Mit ihren Videos erreicht sie regelmäßig bis zu 400.000 Aufrufe. Ein User schreibt unter ihrem Video „Bachelorette Folge 10 Ich kann das alles nicht mehr“: „Danke, Annika, dass du dir das für uns alles anschaust und die sehr unangenehmen Parts rausschneidest. Ich glaube, was viele deiner Zuschauer lieben, ist deine Art zu reden, wie du bist und dass du Dinge richtigstellst, Humor hast und lustige Sachen kommentierst und siehst“.

Doch es bleibt nicht nur bei ironisch kommentierten Zusammenfassungen der Folgen. Annika gibt auch an einigen Stellen ihre eigene Meinung wieder – zum Beispiel, als Bachelorette-Kandidat Bennet äußert, sich nicht vorstellen zu können, dass Gruppendates mit Frauen und Männern stattfinden könnten, da Frauen laut seien und es deshalb bestimmt zu Streit kommen würde. Annikas Kommentar dazu: „Ach, ich Dummerchen, das habe ich ja vergessen. Frauen sind ja so zickig.“ Anschließend fügt sie hinzu, dass sie manchmal gern erklären würde, warum Aussagen wie diese von Bennet so „bescheuert“ seien. Sie aber hoffe, dass ihre Zuschauer „mehr als zwei Gehirnzellen haben.“ Wer dennoch eine Erklärung brauche, solle bei ihrer YouTube-Kollegin Silvi Carlsson vorbeischauen.

Silvi kommentiert seit 2021 auf ihrem YouTube-Kanal Reality-TV-Formate als festes Format, angefangen mit Princess Charming”, über Ex on the Beach” bis hin zur aktuellen „Bachelorette”-Staffel 2024. In ihren Videos übt Silvi immer wieder Kritik an patriarchalen Strukturen und klärt über verschiedene gesellschaftliche Themen auf. „Ich finde ja wirklich, die diesjährige Staffel der „Bachelorette” stellt visuell sehr gut dar, wie das Patriarchat funktioniert“, erklärt sie in ihrem Video Bachelorette Folge 9: was steckt hinter dieser Dynamik?” Eigentlich habe sie das Format „Bachelorette” ungern kommentiert. In der diesjährigen Staffel sei das jedoch anders, da dort nun auch queere Frauen seien, denen sie gern Repräsentation bieten und an deren Seite sie stehen wolle. Auch ihr stößt der Kommentar von Jan über die „klassisch heterosexuelle Frau“ sauer auf. „Was daran ist klassisch? Es gab schon immer Bisexualität. Es gab schon immer Homosexualität. Es gab schon immer queere Menschen. Heterosexuell ist nicht klassisch. Dass das mit einer Selbstverständlichkeit hier gesagt wird, ist so bezeichnend, weil das einfach zeigt, wie normal Queerfeindlichkeit bei diversen Personengruppen ist.“ Auch ihre Zuschauer*innen sind dankbar für Silvis Kommentare: „Ich bin so froh, hier mit Silvi ‚betreutes Gucken‘ zu haben. Alleine würde ich das nie aushalten“, schreibt eine Zuschauerin unter Silvis Video „wenn das Ego bricht – Bachelorette 2024 Folge 3 Analyse“.

Reality-TV als „Guilty Pleasure”

Reality-TV bewegt sich in gesellschaftlichen Grenzbereichen und macht diese Grenzen für Zuschauer*innen erlebbar. Generell wird zwischen drei verschiedenen Betrachtungsstilen unterschieden. Der traditionelle Betrachtungsstil beschreibt Personen, die Reality-TV ablehnen und nicht nachvollziehen können, warum es andere Menschen schauen.

Der ironische Betrachtungsstil kommt häufig bei gebildeteren Menschen vor und beschreibt Zuschauer*innen, die zwar Reality-TV schauen, sich aber davon distanzieren. „Sie können sich quasi die Staffel ,Der Bachelor’ reinziehen, fühlen sich dabei aber immer noch überlegen“, erklärt es Psychologin Pia in einem YouTube-Video von psychologeek.

Den Guilty-Pleasure-Betrachtungsstil haben Zuschauer*innen, die sich zwar schuldig fühlen, wenn sie Reality-TV schauen, der Versuchung jedoch nicht widerstehen können. Die Bezeichnung „Guilty Pleasure“ bedeutet, etwas zu mögen, was nicht den „gesamtgesellschaftlichen Wertevorstellungen“ entspricht. In ihrem gemeinsamen Podcast Fanbedienung” nennen Silvi und Annika auch Reality-TV als ihr Guilty Pleasure. „Es ist eigentlich absurd, dass man sich bei einer Freude, die man empfindet, so schuldig fühlt“, so Silvi in Folge 1.

Das gemeinsame Schauen von Reality-TV in der Gruppe kann das individuelle Verantwortungsgefühl verringern, da die „Schuld“ am Konsum geteilt wird. Zudem stärkt der Austausch über die Sendungen den Gruppenzusammenhalt, da gemeinsames Reden eine Art „soziales Gruppenkuscheln“ ermöglicht. Reality-TV bietet so Anlass für moralische Urteile, die sowohl auf dem Sofa als auch online, etwa in sozialen Netzwerken, gefällt werden können. „Realityshows kann man also auch als Verhandlung gesellschaftlicher Normen sehen“, meint Andrea Nolte, Medienwissenschaftlerin an der Universität Paderborn, gegenüber Fluter. Somit diene Reality-TV nicht nur als Unterhaltung, „sondern auch um etwas über das Leben zu lernen“.

Reality-TV rettet die Welt?

Mirella Precek ist auch eine Content-Creatorin, die seit 2013 Videos auf ihrem YouTube-Kanal mirellativegal hochlädt. Seit 2020 kommentiert sie Folgen von Reality-Formaten, fasst sie zusammen oder gibt ihre Meinung in Videoessays ab.

Der YouTube-Kanal „Mirellativegal“, Fotos: Mirellativegal

In ihrem Video „Warum Kritik am Reality TV oft misogyn ist“ sagt sie, dass Reality-Formate „durchaus die Möglichkeit zu Gedankenanstößen bieten. Sei es zur Ausgestaltung der Beziehung, zu Selbstbewusstsein oder was man als übergriffiges Verhalten ahnden sollte. Und gleichzeitig bekommt man auch von gesellschaftlichen Diskursen mit, die sonst völlig an einem vorbeigehen würden.“ Sie sieht die Formate als niedrigschwellige Möglichkeit, die eigene „Bubble“ zu durchbrechen und alternative Lebensmodelle in den öffentlichen Diskurs zu rücken.

So ähnlich sehen das auch Dinah und Franzi, die den Podcast „Trasholog:innen“ hosten. Dort stellen sich die beiden Psychologinnen regelmäßig die Frage „Was wir aus Trash-TV lernen können“ und nutzen Formate wie „Are You The One”, „Sommerhaus der Stars” oder „Princess Charming”, um anhand dessen psychologische Theorien zu erklären.

Für sie ist Trash-TV und Psychologie eine perfekte Kombination: „Trash-TV bildet die Themen ab, die uns alle interessieren und die (deswegen) auch ein großer Bestandteil der Psychologie und psychologischen Forschung sind: Liebe, Hass, Macht, Vertrauen, Treue, Betrug, Gruppenbildungen, Feindschaften“, sagt Dinah in einem Interview mit medienMITTWEIDA.

Dinah und Franzi glauben sogar, dass Trash-TV teilweise die Welt verändern kann – ins Positive sowie ins Negative. So sprechen sie in der Folge 59 des Podcasts darüber, dass Fernsehen die Macht habe, uns mit Geschichten gesellschaftliche Werte und Normen zu vermitteln und uns somit sage, was normal sei. „Ich würde sagen, eine ARTE-Doku kann uns auf jeden Fall einen Denkanstoß geben, aber – und jetzt kommt eine gewagte These – ich glaube, dass diese nicht mal annähernd so viel Kraft und Power hat wie Trash-TV“, sagt Dinah. Aber sie fügt auch hinzu, dass Trash-TV trotzdem kritisch zu sehen sei.

In ihrem Podcast versuchen die beiden daher auch immer wieder, auf kritische Situationen in den analysierten Formaten hinzuweisen. Dinah sagt auch, dass der Erfolg des Genres nicht bedeute, dass man Trash-TV nicht kritisch sehen solle, da auch missbräuchliche Beziehungen und Sexismus gezeigt werden. Dies könne ein falsches Bild von normalen Beziehungen vermitteln. „Uns fehlt zum Beispiel oft die kritische Einordnung der doch oft heftigen Szenen. Diese kritische Einordnung ist das, was wir versuchen im Podcast zu übernehmen.“ Dennoch sei ihnen auch bewusst, dass sie immer noch auf der Basis von Ausschnitten eine bestimmte Situation bewerten. „Wir weisen oft darauf hin, dass Menschen vielschichtig sind, und man in den Formaten vermutlich nur eine Seite von ihnen sehen kann und wir versuchen tatsächlich vor allem, die Menschen nicht zu bewerten, sondern zu verstehen. Denn ich denke, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann sind wir den Menschen, die wir auf den Bildschirmen am aller schlimmsten finden, wahrscheinlich ähnlicher als wir gerne glauben würden.”

Voyeurismus und Mitgefühl

Auch Musikerin Nina Chuba, die als Gästin auf dem Kanal Mirellativegal zum „Love Island VIP Kandidat:innen-Check“ auftritt, schaue gern Reality-Formate: „Reality-TV wird ja auch manchmal als Trash-Format abgeschrieben, aber ich empfinde wirklich mit denen mit. Ich stelle mich nicht über die, sondern ich denke mir: man das könnte ich sein.“

Sich mit den Kandidat*innen, ihren Erlebnissen und ihrer Gefühlswelt zu identifizieren, wird auch von Psychologin Dinah als eine von fünf Theorien genannt, um die Beliebtheit von Reality-TV zu erklären. Ein weiterer Grund sei, dass wir uns über die Kandidat*innen erheben können, um uns im Vergleich mit ihnen besser zu fühlen. Außerdem lockt uns das voyeuristische Eindringen in das Privatleben anderer Menschen. Des Weiteren leben die Teilnehmenden in den Shows Dinge aus, die wir uns im Alltag oft nicht trauen – etwa wechselnde Beziehungen, wilde Partys und aufregende Abenteuer. Und schließlich empfinden wir vielleicht auch eine gewisse Faszination daran, andere Menschen „leiden” zu sehen.

Fazit

Es gibt also viele Arten, wie Menschen auf Reality-TV schauen können. Creator wie Annika, Silvi, Mirella oder Dinah zeigen, dass die Formate nicht nur Unterhaltung bieten, sondern auch Räume für Diskurse eröffnen können – wenngleich sie teilweise kritisch zu betrachten sind.

Text: Carolin Lehmann, Titelbild: Carolin Lehmann, RTL, Fotos: Annikazion, Silvi Carlsson, Mirellativegal, Trasholog:innen, Spotify, Carolin Lehmann

<h3>Carolin Lehmann</h3>

Carolin Lehmann

ist 22 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteurin und Leiterin des Campusressorts seit dem Sommersemester 2024.