INTERVIEW

„Oft war ich überfordert von meinen Gedanken und Gefühlen “

von | 17. Januar 2025

Sie war noch ein Kind, und doch spielte Selbstverletzung eine große Rolle in ihrem Leben. Ein Gespräch mit Lisa*.

Triggerwarnung: Der folgende Text enthält sensible Themen über selbstverletzendes Verhalten. Falls du hilfe brauchst, hier sind Telefonnummern für Anlaufstellen: TelefonSeelsorge – 0800 1110111 , Nummer gegen Kummer – 116 111

Schlafstörungen, Leistungsabfall und körperliche Beschwerden – das sind nur einige der vielen negativen Aspekte von Depressionen. Auch  selbstverletzendes Verhalten (SVV) kann eine Begleiterscheinung sein. Im Interview mit medienMITTWEIDA berichtet Lisa (20)*  über ihr Leben mit Depressionen, die Auslöser ihrer Erkrankung und ihren Weg hinaus.

DEPRESSIONEN

Bei Depressionen handelt es sich um eine schwere Krankheit, die das Denken, Fühlen und Handeln der Betroffenen stark beeinträchtigt. In den meisten Fällen ist es Menschen mit Depressionen nicht möglich, ihre Antriebslosigkeit, negative Gedanken und gedrückte Stimmung allein zu überwinden.  



Wann hast du angefangen, dich selbst zu verletzen und was hat dir geholfen, damit aufzuhören?

Das kommt ein wenig darauf an, von welcher Form des selbstverletzenden Verhaltens wir sprechen. Das Kauen an den Fingerspitzen, das in gewisser Weise auch als selbstverletzendes Verhalten gilt, mache ich beispielsweise schon, seit ich denken kann. 

Reden wir aber von „typischen“ Formen wie dem Ritzen (das Schneiden der Haut), war ich neun Jahre alt, als ich das zum ersten Mal gemacht habe. Das letzte Mal, dass ich mich geritzt habe, war mit 15 Jahren, da ich selbstständig in eine Therapie gegangen bin. Ich wusste, dass ich Hilfe brauche, und ich wünschte mir, dass es mir wieder besser geht. Neben der Unterstützung meiner Therapeutin war es sehr viel eigener Wille, mit dem Ritzen aufzuhören.

Wie hast du damals über dich selbst gedacht und hat sich deine Sicht verändert, als du aufgehört hast?

Eigentlich war ich ein sehr extrovertiertes, glückliches Kind. Mit etwa acht oder neun Jahren – dem Zeitraum, in dem das SVV angefangen hat – habe ich zunehmend Selbstzweifel entwickelt. Mein Umfeld äußerte häufig abwertende Kommentare über meinen Körper, was mich sehr verunsicherte. Diese Unsicherheit hat sich irgendwann zu Selbsthass entwickelt. Ich habe mein Äußeres verabscheut und war sehr unzufrieden mit mir als Person.

Tatsächlich hat sich danach meine Sicht auf mich selbst nicht dramatisch verbessert. Ich habe mich trotzdem gehasst und war unzufrieden mit mir selbst. Das SVV war nur ein Weg, diesen Hass zu kanalisieren. Mein Selbstbild hat sich erst ein paar Jahre später geändert, als ich angefangen habe, mehr an mir und meinem Äußeren zu arbeiten.

Was war der Auslöser für dein selbstverletzendes Verhalten?

Es gab keinen direkten Auslöser. Es war eher die Gesamtheit der Umstände und mein Umfeld, welche mich zum SVV getrieben haben. Es gab familiäre Probleme, die mich stark belastet haben und in die ich oft hineingezogen wurde. Zusätzlich wurde meine Oma sehr krank, sie war damals meine wichtigste Bezugsperson. Da sich meine Mutter jeden Tag um sie kümmern musste, war ich oft allein, womit ich als Kind nur schwer umgehen konnte.

Warum denkst du, hat der Schmerz in dem Moment funktioniert”? 

Das war sehr unterschiedlich. Manchmal war der Schmerz ein Weg, mir selbst zu beweisen, dass ich noch echt bin. Ich litt in dieser Zeit unter Depressionen und hatte oft ein Gefühl der Leere. Das SVV war eine Möglichkeit, wieder etwas zu fühlen und mich zu vergewissern, dass ich noch im Hier und Jetzt bin. Es gab aber auch Tage, da habe ich den Schmerz genutzt, um mich selbst zu bestrafen.

Ich war sehr unzufrieden mit meinem Äußeren, meinen schulischen Leistungen und meinem sozialen Umfeld. Da ich die Schuld dafür bei mir gesehen habe, bestrafte ich mich. Oft war ich überfordert von meinen Gedanken und Gefühlen. Das SVV wurde zu einem Weg, diese Überforderung loszuwerden oder mich zumindest von ihr abzulenken. Das war oft Thema in meiner Therapie, wieso dieser Schmerz funktionierte. Ich habe sehr schnell verstanden, dass der Schmerz ein Mittel war, um mir selbst zu zeigen: „Ich kann noch etwas fühlen.“ 

Wie hat dein Umfeld auf dein Verhalten reagiert?

Meine Freunde fanden es heraus, als ich 14 oder 15 Jahre alt war. Obwohl ich versucht habe, sie so gut wie möglich zu verstecken, bemerkten sie meine Narben beispielsweise im Schwimmbad. Sie haben mich schockiert angeschaut und wollten darüber reden. Ich habe sofort das Gespräch abgeblockt, weil ich es hasste, darüber zu reden.

Es gab keinen Tag, an dem ich das nicht gedacht habe, dass jemand verstehen würde, was ich durchmache. Ich hatte zwar eine Freundin, die sich ebenfalls selbst verletzte. Doch auch sie versuchte, mir dieses Verhalten auszureden und reagierte sehr negativ, als sie erfuhr, dass ich es getan hatte. Meine Eltern wussten sehr lange nicht, dass ich mich ritzte. Als sie es das erste Mal herausgefunden haben, drohten sie mir, mich rauszuschmeißen oder in eine Klinik zu bringen. Mit 14 habe ich noch einmal versucht, mit ihnen darüber zu sprechen, da ich professionelle Hilfe wollte. Doch auch das endete in einem riesigen Streit und in dem Vorwurf, ich sei verrückt. Erst viele Jahre und zahlreiche Therapiesitzungen später weiß ich, dass ich mit dieser Erfahrung nicht allein bin.

Welche Trigger oder Ereignisse haben dein Verlangen nach Selbstverletzung ausgelöst?

Oft war es ein Streit mit meinen Eltern, der mich zum Selbstverletzung verleitet hat. Wir stritten fast täglich.  Auch heute kommen die Gedanken an Selbstverletzung wieder. Oft in extremen Stressphasen oder in Momenten, in denen ich von mir selbst enttäuscht bin oder das Gefühl habe, einen großen Fehler begangen zu haben.

Welche Methoden hast du probiert, mit deinen Gefühlen besser umzugehen?

In der Therapie bekommt man viele Methoden vorgeschlagen, wie Eiswürfel auf die Haut zu pressen oder ein Haargummi am Handgelenk zu tragen und es zu schnipsen, wenn man das Verlangen zur Selbstverletzung spürt. Mir hat es nicht immer geholfen. Ich bin ein Mensch, der immer alles hinterfragt und verstehen möchte, warum Dinge so sind, wie sie sind, um sie vollständig zu begreifen. Seitdem ich weiß, dass es wegen meiner Depressionen zur Selbstverletzung gekommen ist, ging es mir besser. Das hat mir definitiv geholfen, damit klarzukommen.

Wie hat dich deine Vergangenheit geprägt?

Meine Narben werden mich immer an diese Zeit erinnern und bis heute verfolgt mich immer wieder der Gedanke, mich wieder zu ritzen. Mit meinen Narben habe ich heute kein Problem mehr, weder schäme ich mich für sie, noch finde ich sie hässlich. Ich habe sie fast schon etwas liebgewonnen. Mit dem Verlangen, mich wieder zu ritzen, kann ich mittlerweile auch sehr gut umgehen. Ich habe so viel Selbstbeherrschung, es nicht zu tun oder mich in solchen Momenten abzulenken.

Natürlich schaue ich auch etwas traurig auf diese Zeit zurück, da mein jüngeres Ich all das nicht verdient hatte. Andererseits hat mich diese Zeit auch gestärkt und ich habe viel über mich selbst und auch die Menschen um mich herum gelernt. Ich hatte keine einfache Kindheit oder Jugend, aber ich weiß, dass sie mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin. Natürlich bin ich ab und zu traurig darüber, was mir alles passiert ist und wie ich damit umgegangen bin, aber ich empfinde es als sinnlos, diese Zeit zu bereuen, da ich sie ohnehin nicht ändern kann. All das ist ein Teil von mir und meinem Leben und damit bin ich heute im Reinen.

Wie würdest du dein jetziges Verhältnis zu deinen Eltern beschreiben?

Das Verhältnis zu meinen Eltern ist inzwischen sehr gut. Schon mit 17 oder 18 Jahren wurde es besser, weil ich angefangen habe, mich auf mich selbst zu konzentrieren und darauf zu achten, dass es mir gut geht. Meine Therapeutin hatte mir geraten, auszuziehen, und diesen Rat habe ich auch befolgt. Seitdem ich ausgezogen bin, gab es keinen Streit mehr zwischen uns und ich bekomme sogar regelmäßig Entschuldigungen von meinen Eltern.

Was würdest du deinem Jüngeren Ich heute sagen, wenn du könntest?

Ich würde ihr sagen, dass bessere Zeiten kommen werden und dass wir irgendwann in den Spiegel schauen können und glücklich sind mit dem, was wir sehen. Ich würde ihr auch sagen, dass all die Menschen, die ihr Unrecht getan haben, ihr Karma bekommen werden. Sie ist unglaublich stark und alles, was auf sie zukommt, wird sie schaffen. Ich bin unglaublich stolz auf sie und sie soll nicht so hart zu sich selbst sein.

*Name geändert

Text: Sarah Reppe, Titelbild: pixabay

<h3>Sarah Reppe</h3>

Sarah Reppe

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteur seit dem Sommersemester 2024.