Neomediävalismus

Rüstungen und Runways: das moderne Mittelalter

von | 18. Juni 2025

Kettenhemden und Kerzenschein: Wie ein Trend den Nerv einer überreizten Gesellschaft trifft.

Ritterrüstungen auf dem roten Teppich, mittelalterliche Musik auf Spotify und „Medivalcore“ auf der ForYou-Page von TikTok: Die Sehnsucht vieler Menschen nach einer scheinbar einfacheren und authentischeren Vergangenheit wird immer sichtbarer. Doch dahinter steckt mehr als reine Nostalgie – es ist das Konzept einer ganzen kulturellen Bewegung namens Neomediävalismus. Aber was ist das eigentlich?

Unter dem Begriff Neomediävalismus versteht man eine kulturelle Bewegung, die sich der Romantisierung und dem Auferleben von Aspekten des mittelalterlichen Lebens verschrieben hat. Dabei werden mittelalterliche Strukturen und Ästhetiken in einen modernen Kontext eingebunden. Der Begriff Neomediävalismus beschreibt also die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Mittelalter und weniger eine detailgetreue Rekonstruktion des einst dunklen Zeitalters. Die Vergangenheit sei nicht mehr nur etwas, das man studieren könne – die Vergangenheit sei etwas, das man neu erfinden und zurückgewinnen könne, heißt es in einem Artikel des Colin Magazin.

Der Neomediävalismus hat bereits viele verschiedene Lebensbereiche durchdrungen, wobei er vor allem in Filmen, Serien, Spielen, der Musik und der Mode Einzug gefunden hat. Während die mittelalterlich anmutenden Schauplätze der Unterhaltungsmedien zu Pilgerstätten für Fans werden, wird die Kleidung der Charaktere Inspiration für neue Modetrends.

Kettenhemden & Controller: das Mittelalter im Mainstream

Filme und Serien, die die Ästhetiken und Motive des Mittelalters einfangen, finden Anklang. Die amerikanische Fantasy-Dramaserie „Game of Thrones“ beispielsweise hat 59 Emmys gewonnen, war für 159 nominiert und ist damit die meistprämierte Dramaserie in der Geschichte der Emmy-Preisverleihungen. Für Peter Jacksons Trilogie „Herr der Ringe“ gingen allein in Deutschland durchschnittlich knapp elf Millionen Menschen ins Kino. Auch die 2021 gedrehte historische Nacherzählung „The Last Duel“ hat mit einem IMDb-Score von 7.3/10 bei über 190.000 Stimmen bisher vielfältig positives Feedback erhalten. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie bedienen sich mittelalterlicher Elemente und Merkmale – dem Rittertum und dem Schwertkampf, dem Ständesystem und der Feudalgesellschaft.

Trailer der Serie „Game of Thrones“, Quelle: YouTube/GameofThrones

Neben Filmen und Serien enthält auch der Gamingbereich mittelalterliche Bildwelten. Das Spiel „Elden Ring“ ist stark von der Gotik, dem Rittertum und der Ruinenromantik geprägt. „Baldurs’s Gate 3“ wurde 2023 zum Spiel des Jahres gekürt und basiert auf dem Franchise „Dungeons & Dragons“, dass sich die europäischen Ideen des Hochmittelalters zu eigen macht – erkennbar durch Burgen, Magie, Kleriker, Gilden und alte Götter. Das Spiel „Elder Scrolls V: Skyrim“ setzt auf ähnliche Motive. Eingebettet in ein nordisch inspiriertes Setting, wurde es bereits vielfach zum Spiel des Jahres gekürt.

Auch in der Musik sind vermehrt mittelalterliche Elemente hörbar. Beispielsweise nutzen die Mittelalter-Rockbands „In Extremo“ und „Saltatio Mortis“ klassische Mittelalterinstrumente wie den Dudelsack, die Drehleier und die Schalmei, wodurch ein typisch „mittelalterlicher Klang“ erzeugt wird. In ihren Liedern werden dann unter anderem das Rittertum, die soziale Ungleichheit, die Religion und das Schicksal thematisiert.

Zwei Mitglieder der Band "Saltatio Mortis" bei einem Auftritt auf dem Blackfield Festival im jahr 2014. Man sieht zwei Mitglieder der Band. Einer spielt Dudelsack, der andere singt.

Die Band „Saltatio Mortis“ bei einem Auftritt auf dem Blackfield-Festival 2014, Quelle: S. Bollmann

Die Wiederbelebung der mittelalterlichen Ästhetik zeigt sich nicht nur in der medialen Aufbereitung und der „klassischen“ Popkultur, sondern auch in Veranstaltungen wie Mittelaltermärkten oder Mittelaltermessen. Das „Keskiajan Turku“ beispielsweise ist Finnlands größter Mittelaltermarkt und zieht jedes Jahr tausende Menschen an – Tendenz steigend. Während auf dem „Keskiajan Turku“ 2010 noch 100 Tausend Menschen unterwegs gewesen sind, waren es 2022 bereits 130 Tausend Menschen.

Buden auf dem finnischen Turku Mittelaltermarkt.

Der Mittelaltermarkt „Keskiajan Turku“ in der finnischen Stadt Turku im Juni 2005, Quelle: Samuli Lintula

Samt, Schwert und Silhouette: das Mittelalter in der modernen Modewelt

Chappell Roans Auftritt bei den MTV-Awards 2024 ist ein zentrales Beispiel dafür, dass das Mittelalter inzwischen auch in der Mode verwoben ist. Dort präsentierte sich die US-amerikanische Sängerin in einem langen fließenden Kleid mit Armreifen, Kreuzkette und einem Schwert als ergänzendem Accessoire. Chappell Roan sei, so schreibt es die Vogue Germany, der Inbegriff von „Medivalcore“.

Instagram-Post der Sängerin Chappell Roan zu ihrem Outfit bei den Video Music Awards von MTV, Quelle: Instagram/Chappellroan 

In Anlehnung an das Mittelalter kombinieren Designer:innen bewusst mediävale Silhouetten mit moderner Dezenz und präsentieren Rüstungen oder königliche Roben als Alltagskleidung. Dabei setzen sie meist Erdtöne als Stilmittel der neuen Wahrnehmung ein. Kettenhemden, Korsettkleider, Miederwaren, komplizierte Stickereien, aber auch Haarnetze und bestimme Hochsteckfrisuren sind neben den allgemein vom Mittelalter inspirierten Passformen beispielhaft dafür zu nennen, wie das Mittelalter auch in der Mode neu interpretiert wird.

Michaela Lindinger, Modehistorikerin und Kuratorin am Wien-Museum, meint dem Lifestyle Portal NZZ Bellevue gegenüber: „Die heutigen Modetrends beziehen sich auf die damalige Mode des Adels: Kleider in Juwelenfarben, Stickereien, Borten, aufgenähte bunte Steine, Frisuren, die für mittelalterlich gehalten werden, aber eher in der Frührenaissance zu verorten sind.“ Diese neuen modischen Facetten waren beispielhaft bereits in der 1998 vorgestellten Kollektion „Joan“ (angelehnt an die historische Persönlichkeit Jeanne d´Arc) von Alexander McQueen zu erkennen.

Modenschau der Kollektion „Joan“ des Designers Alexander McQueen im Jahr 1998, Quelle: YouTube/Fashion Education TV

Zwischen Reels und Rüstung: das Mittelalter als Online-Trend

Eine neue Facette des Neomediävalismus ist nun auch in den sozialen Medien allgegenwärtig: der „Medivalcore“. Darunter versteht man eine Trendbewegung, die die Ästhetiken des Mittelalters online modern interpretiert. Der Unterschied zum eigentlichen Neomediävalismus: Kontext, Ziel und Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Mittelalter. Bei dem ästhetischen Internettrend „Medivalcore“ spielen lediglich die emotionalen und visuellen Aspekte des Mittelalters eine Rolle. Dabei geht es vor allem um Stil, Stimmung und Lifestyle. Auf Social Media lassen sich die dazugehörigen Inhalte dann zum Beispiel unter den Hashtags #MedivalCore, #CastleCore oder #EnyaCore finden.

Internettrends wie der „Cottagecore“, die „Dark Academia“ und der „Knightcore“ ergänzen den „Medivalcore“ um weitere Ausprägungen von mittelalterlichen Motiven. Dabei kombinieren sie die romantisierten Vorstellungen des Mittelalters mit modernen Lifestyle-Elementen. Während der „Cottagecore“ das einfache, naturverbundene Leben idealisiert und vor allem von ländlichen Ästhetiken beeinflusst wird, fokussiert sich die „Dark Academia“ auf die romantisierte Darstellung und Reflexion von Literatur, Bildung und Kunst. Dabei lebt dieser Trend von den Themen Vergänglichkeit, Melancholie und der Schönheit des Tragischen. Unter dem „Knightcore“ wird vor allem die ästhetische Betrachtung von Rittern, Rüstungen und epischen Schlachten verstanden – mit Betonung der Werte, Ehre und Mut sowie der nostalgischen Sehnsucht nach einer vergangenen Ära.

Flucht und Freiheit: die Motive hinter dem Mittelalter-Hype

Der Neomediävalismus wird zentral von dem Motiv des Eskapismus angetrieben – der Flucht vor der realen Welt hinein in eine einfachere und scheinbar authentischere – fernab von Technologie, Leistungsdruck und Krisen. Anhänger des Neomediävalismus romantisieren das Mittelalter häufig als die Zeit der Naturverbundenheit, der Magie, der Ehre, des Heldentums und der moralischen Klarheit. „Neo-medivalism is the embrace of all things medival in the face of groing rejection of modern tech-centric culture“ (zu deutsch: Neomediävalismus ist die Hinwendung zum Mittelalterlichen – als Antwort auf die wachsende Ablehnung einer technologiezentrierten Moderne) – das schreibt Jack Colchester, ehemaliger Leiter für Daten und Analysen bei der Kreativagentur Wonderhood Studios, in einem Bericht. Wie der promovierte Philosoph und Zukunftsforscher Greg Grzegorz Lewicki in seinem Online-Blog Neomedivalism meint, sei auch der Wunsch nach klaren Strukturen und traditionellen Werten als Antwort auf die zunehmenden Unsicherheiten zu sehen.

Des weiteren bedient sich der Neomediävalismus häufig klassischer Erzählmuster, in denen hauptsächlich universelle Themen, wie der Kampf zwischen Gut und Böse, Ehre, Macht, Heldentum und Liebe Platz finden. Diese sollen dem Neomediävalismus-Charakter entsprechend vor allem zur Orientierung und Sinnstiftung beitragen. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Mediävistin Shiloh Carroll geht in ihrer Dissertation „Enchanting the past: Neomedivalism in Fantasy Literature“ unter anderem auf verschiedene mittelalterliche Archetypen ein und identifiziert dabei den Helden als zentrale Figur im Kampf zwischen Gut und Böse.

Die kulturelle Bewegung des Neomediävalismus, aber auch der Trend des „Medivalcore“ ermöglicht den Menschen eine neue Form der Selbstverwirklichung. Besonders der „Medivalcore“ schafft Raum für Individualität und die Chance, sich außerhalb modernerer Normen ausdrücken zu können – sei es als Ritter, Hexe, Elfenwesen oder Barde. Ebenso können Kleidungsstücke im mittelalterlichen Stil in Alltagslooks eingebunden werden und damit Teil des individuellen Erscheinungsbildes sein.

YouTube-Video zu modernen Outfits, die stilistisch an den Medivalcore angelehnt sind, Quelle: YouTube/Sincerely, Hannah

Klischees und Kommerz: die Bewegung in der Kritik

Der Mittelalter-Trend steht auch vielfach in der Kritik. Jene beleuchtet dabei vor allem ideologische Aspekte und hinterfragt die Auswirkungen des Trends auf das Verständnis von Geschichte und Kultur.

Laut Lesley Coote, einer Dozentin für Mediävistik und Mediävalismus an der University of Hull, sei der Neomediävalismus nur eine oberflächliche Aneignung von mittelalterlichen Elementen, bei welcher kulturelle Fragmente ohne ein tieferes Verständnis übernommen werden würden. Dies führe Coote zufolge, zu einer verzerrten Wahrnehmung des Mittelalters. Das dabei konstruierte und romantisierte Bild des Mittelalters habe daher wenig mit der tatsächlichen historischen Epoche gemein.

Auch Kevin und Brent Moberly äußern Kritik. Die beiden forschen in den Bereichen Geistes- und Mediävistikwissenschaften und Gaming – Kevin Moberly an der Old Dominion University in Norfolk und Brent Moberly an der Indiana University. Ihrer Meinung nach verwandele der Neomediävalismus die mittelalterliche Ästhetik in eine konsumier- und verkaufbare Ware, was eine egalitäre und konsumeristische Version des Mittelalters zur Folge hätte. Das bedeute, dass nur diejenigen, die sich beispielsweise das richtige Outfit oder die richtige mittelalterliche Inszenierung leisten können, dazugehören würden. Statt der früheren sozialen Hierarchien, wie Adel oder Klerus im historischen Mittelalter, seien heute ästhetische und ökonomische Zugänge relevant. Die Zugehörigkeit an dem modernen Mittelaltererlebnis hänge also weniger von Wissen oder Bildung ab, sondern viel mehr davon, ob man sich diese stilisierte mittelalterliche Erfahrung leisten könne – so die beiden Brüder. Daher spiegele der Neomediävalismus vor allem moderne Konsumstrukturen wieder.

Ein weiterer Kritikpunkt an dieser kulturellen Bewegung ist, dass sie als Flucht vor Herausforderungen der Moderne diene. Der schottisch-amerikanische Schriftsteller Norman Hogg schreibt in seinem Aufsatz „Return of the Long Now“, dass das moderne Aufleben des Mittelalters häufig als Symbolraum für Überleben, Privation und Transzendenz genutzt werden würde. Dabei beschreibt Hogg verschiedene Escape-Szenarien. Fantasien, wie „Survival“ oder „Post-Apokalypse“ würden dabei einen Gegenentwurf zur heutigen Welt darstellen. Aber auch ein systemisch manipulierter Alltag könne durch ein Hinwenden zu mittelalterlichen Fantasien die Realität kontrastieren. Hogg ist Mitbegründer des neomediävalistischen Kunstkollektives „Confraternity of Neoflagellants“.

Neben den Auswirkungen des Neomediävalismus wird auch dessen Perspektive kritisiert. Diese sei zu eurozentristisch, verstärke daher ebenjene Narrative und fördere eine kulturelle Aneignung, schreibt Rebecca De Souza in dem Artikel „Are there limits to globalising the medival?“. Ursache sei, dass das Mittelalter in westlichen Medien auf einem idealisierten europäischen Bild basiere, in welchem andere Kulturen marginalisiert und stereotypisiert würden. Zurzeit ist DeSouza Dozentin an der University of Sterling und Mitherausgeberin der Zeitschrift postmedieval.

Obwohl das Mittelalter in der Popkultur auf Resonanz trifft und die Faszination für das einst dunkle Zeitalter bereits diverse Gesellschaftsschichten durchdrungen hat, ist die Bewegung nicht frei von Kritik. Die Auswirkungen und die Perspektive des Neomediävalismus bleiben weiterhin unter Beobachtung – genauso wie die moderne Konstruktion des Mittelalters selber.

Zwischen Faszination und Filter: ein Fazit

In der Mode verwoben, auf Leinwänden und Bildschirmen zum Leben erweckt und in den Sozialen Medien millionenfach geklickt, ist die Mittelalterästhetik Gegenwart geworden. Sie wurde kommerziell erfolgreich wiederbelebt und beeinflusst nun verschiedenste Lebensbereiche. Wie Preise, Nominierungen und Zuschauerzahlen zeigen, erfährt der Neomediävalismus in der Popkultur Zuspruch. Die Mittelaltermotivik wurde also zu den Regeln der Neuzeit rehabilitiert und ist seither auch vielfach integraler Bestandteil von Persönlichkeits- und Identitätsentwicklungen. Wie es das Colin Magazine schreibt, lässt sich also zusammenfassen: Das Mittelalter ist nicht nur Geschichte, es ist die Zukunft.

<h3>Ellis Kupfer</h3>

Ellis Kupfer

ist 2003 geboren und studiert Medienmanagement mit journalistischer Vertiefung an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA ist sie seit 2025 als Leiterin des Lektorats tätig. Sie beschäftigt sich vor allem mit Politik, Literatur und Kunst.