Lebensmittel

Eine zweite Chance für unser Essen

von | 25. Juli 2025

Lebensmittel retten mit Apps und „Rettertüten“ – Fortschritt oder Konsum mit grünem Anstrich?

Lebensmittel retten per App klingt nach einer einfachen Lösung gegen Verschwendung – nachhaltig, günstig, bequem. Doch wie viel Wirkung steckt wirklich dahinter? In einem Selbstversuch teste ich eine Woche lang verschiedene Angebote und stoße dabei auf volle Tüten, leere Versprechen und die Schattenseiten des grünen Konsums.

Es riecht nach frischem Hefegebäck, als ich um 17:30 Uhr vor der Bäckerei stehe. Drinnen wischt eine Mitarbeiterin die Krümel von der Theke, das Licht im Verkaufsraum ist gedämpft, die Auslagen fast leer. Ich halte mein Handy in der Hand – in der App von Too Good To Go blinkt mein Abholcode auf. Für fünf Euro habe ich eine sogenannte „Überraschungstüte“ reserviert. Was mich erwartet, weiß ich noch nicht.

Nur wenige Minuten später verlasse ich das Geschäft mit einer prall gefüllten Tüte: eine Käsebretzel, zwei Schoko-Croissants, ein halbes Dinkelbrot, ein Hefezopf, ein Maisbrötchen und ein Stück Streuselkuchen. Ich bin positiv überrascht: Alles sieht aus wie frisch gekauft und nichts deutet darauf hin, dass diese Backwaren beinahe in der Mülltonne gelandet wären.

Bäckerei-Tüte von TGTG

Bäckerei-Tüte von Too Good To Go, Foto: Fabienne Meitz

Doch genau das wäre passiert, behauptet die App To Good Too Go. Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft wurden 2022 in Deutschland rund elf Millionen Tonnen Lebensmittel entsorgt. Pro Kopf sind das etwa 76 Kilogramm – der Großteil davon aus privaten Haushalten. Bei diesem Problem sollen beispielsweise „Rettertüten“ von Lidl oder Plattformen wie Too Good To Go und Motatos ansetzen. Aber ist das die Lösung?

Plattformen für gerettete Lebensmittel – verschiedene Ansätze, ein Ziel

Lebensmittelrettung ist längst mehr als ein ethisches Anliegen. Sie ist zum Geschäftsmodell geworden. Der Markt wächst und mit ihm die Zahl der Konzepte. Ich scrolle durch verschiedene Anbieter und erkenne: Alle verfolgen das gleiche Ziel, doch die Wege dorthin könnten unterschiedlicher kaum sein. Die Angebote reichen von ehrenamtlichem Tausch bis hin zu kommerziellen Verkaufsplattformen:

Vermittlungsplattformen für übrig gebliebene Speisen aus Gastronomie und Einzelhandel:

Vor allem Apps wie Too Good To Go oder ResQ Club bringen Kund:innen mit Restaurants, Bäckereien oder Supermärkten zusammen, die kurz vor Ladenschluss noch genießbare Lebensmittel übrig haben. Meist werden diese als sogenannte „Überraschungstüten“ zu stark reduzierten Preisen angeboten.

Online-Shops für überschüssige oder fehlerhafte Lagerware:

Anbieter wie Motatos oder SIRPLUS verkaufen Produkte, die aus Überproduktionen stammen, Verpackungsfehler aufweisen oder ein baldiges Mindesthaltbarkeitsdatum haben. Die Ware kommt direkt von den Produktionsbetrieben und Großhandelsunternehmen und würde sonst oft ungenutzt entsorgt werden.

Regionale und ehrenamtliche Tauschplattformen:

Initiativen wie Foodsharing.de setzen auf lokale Vernetzung und gemeinnützige Konzepte. Hier werden Lebensmittel oft kostenlos und ohne kommerziellen Zweck verteilt – ob über digitale Schwarze Bretter oder sogenannte „Fairteiler“, bei denen überschüssige Ware zur freien Mitnahme angeboten wird.

Eigeninitiativen des Einzelhandels:

Auch Supermarktketten wie Lidl, Rewe oder Penny setzen zunehmend auf eigene Angebote wie „Rettertüten“ – stark vergünstigte Tüten mit überschüssigen Lebensmitteln –, Rabattsticker oder spezielle Regale für Produkte kurz vor dem Ablaufdatum.  Diese pragmatischen Maßnahmen dienen der Reduktion von Lebensmittelabfällen direkt vor Ort.

Die Vielzahl an Plattformen zur Lebensmittelrettung zeigt, wie präsent das Thema mittlerweile ist und wie unterschiedlich die Umsetzungen trotz ähnlicher Ziele ausfallen. Viele Anbieter werben mit Nachhaltigkeit, Aufklärung oder einem sozialem Mehrwert, doch in der Praxis unterscheiden sich ihre Konzepte deutlich: vom gemeinnützigen Engagement bis zur kommerziellen Verkaufsstrategie. Ich frage mich: Funktioniert das wirklich? Oder macht es uns nur ein gutes Gefühl?

Gutes Gewissen to go

Ich versuche es mit einem Selbsttest herauszufinden. Eine Woche lang teste ich verschiedene Apps und Angebote. Ich scrolle, klicke, bestelle. Unter anderem probiere ich Motatos aus. Ich bestelle eine sogenannte „Surprise Veggiebox“ mit Lebensmitteln im Wert von 22 Euro. Laut Webseite beträgt der Wert des Inhalts rund 34 Euro, wodurch ich etwa zwölf Euro gespart habe. Die Lieferung hat allerdings länger gedauert als angekündigt: Statt der angegebenen drei bis fünf Werktage musste ich neun Tage auf mein Paket warten.  Als ich dann endlich mein Paket in den Händen hielt, öffne ich den Karton mit einer Kombination aus Neugier und Skepsis. Die Box enthält eine bunte Mischung aus Chips mit falsch gedrucktem Etikett, Nudeln mit kurzem Mindesthaltbarkeitsdatum und einer Backmischung für vegane Pancakes mit einer verbeulten Verpackung. Ich bin etwas enttäuscht. Zwar ist alles genießbar, doch nicht alles brauche ich. Bei der Bestellung mischt sich ein Gefühl von Neugier mit einem leichten Unbehagen. Konsumiere ich hier aus Überzeugung oder aus Reiz? Manchmal fühlt sich das „Retten“ eher wie ein Spiel an. Während ich durch die Apps wische, frage ich mich immer wieder, was wohl diesmal in der Tüte oder dem Paket steckt.

Paket von Motatos mit geretteten Lebensmitteln

„Suprise Veggiebox“ von Motatos, Foto: Fabienne Meitz

Ein Problem, das mir bei der Nutzung von Lebensmittelrettungsplattformen aufgefallen ist, sind die fehlenden Filtermöglichkeiten für bestimmte Ernährungsweisen wie vegetarisch oder vegan. Oft bekommt man Produkte, die man nicht essen möchte oder kann, was im schlimmsten Fall dazu führt, dass gerettete Lebensmittel letztlich doch im Müll landen.

Zudem funktioniert das Konzept vor Ort meistens nur in größeren Städten. In Kleinstädten beschränkt sich das Angebot auf wenige Partner wie Tankstellen oder Bäckereien. Spontane Abholungen sind selten möglich, da oft am Vortag reserviert werden muss. Wer spontan retten will, muss Glück haben oder früh dran sein. Eine Verkäuferin bei der Bäckerei sagt mir: „Die Tüten sind immer sofort weg. Manchmal innerhalb von Minuten.“

In meiner Kleinstadt Mittweida habe ich über Too Good To Go eine Tüte bei einer Tankstelle erworben. Darin befanden sich ein Schokobrötchen, ein Croissant mit Nuss-Nougat-Creme, ein Plunderstreifen und Nutella Buiscuits.

Tankstellen-Tüte von TGTG

Tankstellen-Tüte von Too Good To Go, Foto: Fabienne Meitz

Ich gehe mit einem Lächeln nach Hause, immerhin habe ich die Lebensmittel vor dem Wegwerfen bewahrt. Alles gut genießbar und trotzdem verfolgt mich ein Gedanke: Hätte ich das auch gekauft, wenn es nicht als „gerettet“ gelabelt gewesen wäre?

Zwischen Retten und Vermarkten

Was mir auffällt: Retten ist einfach. Ein paar Klicks – und ich habe ein gutes Gefühl. Nachhaltigkeit zum Mitnehmen, oft sogar mit Rabatt. Doch genau das sehen Kritiker:innen problematisch: So sinnvoll die Idee der Lebensmittelrettung auch ist, besteht die Gefahr, dass niedrige Preise zu übermäßigem Konsum verleiten – und damit dem eigentlichen Ziel der Abfallvermeidung entgegenwirken. Dass Rabatte den Konsum spürbar steigern können, belegt auch eine in PLOS One veröffentlichte US-amerikanische Studie: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass erhebliche Preisnachlässe auf gesunde Lebensmittel den Konsum dieser Produkte deutlich erhöhen können.“ Lebensmittelrettung darf daher nicht als reines Marketinginstrument dienen. Sie entfaltet ihre Wirkung nur durch transparente Kommunikation und tiefgreifende Veränderungen entlang der gesamten Lieferkette – sonst wird das Problem lediglich verschoben, nicht gelöst.

In den letzten Jahren hat das Thema stark an Bedeutung gewonnen. Kommerzielle Anbieter wie Motatos und ehrenamtliche Initiativen wie die Tafel verfolgen das gemeinsame Ziel, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren und zugleich Menschen mit geringem Einkommen den Zugang zu günstigen Lebensmitteln zu ermöglichen. Ihr Engagement leistet konkrete Hilfe und sensibilisiert gleichzeitig für einen bewussteren Umgang mit Lebensmitteln im Alltag.

„Die über 970 gemeinnützigen Tafeln in Deutschland sammeln einwandfreie überschüssige Lebensmittel von Händlern und Herstellern und verteilen diese regelmäßig an mehr als 2 Millionen armutsbetroffene Menschen im ganzen Land. Mit rund 60.000 Helferinnen und Helfern sind die Tafeln eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland. Organisiert sind die Tafeln im Dachverband Tafel Deutschland e.V.“

Tafel Deutschland e.V.

Gleichzeitig führt die zunehmende Kommerzialisierung von Lebensmittelüberschüssen zu Spannungen. Gemeinnützige Organisationen wie die Tafel geraten dadurch in eine schwierige Lage: Sie sind auf Spenden und freiwilliges Engagement angewiesen. Unternehmen hingegen verfolgen wirtschaftliche Interessen, was zu einer ungleichen Wettbewerbssituation führt und die Arbeit ehrenamtlicher Initiativen erschweren kann.

Auch die Problematik von „Greenwashing“ wird zunehmend diskutiert. So präsentieren sich manche Plattformen als nachhaltig, obwohl sie an zentralen Punkten wie Produktion, Logistik oder Konsumverhalten wenig verändern und damit das Problem eher verschleiern als lösen. Dadurch besteht die Gefahr, dass die eigentliche Herausforderung nur verlagert und nicht wirklich gelöst wird. Die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) warnt, dass grüne Werbeversprechen wie „klimaneutral“ oder „CO₂-positiv“ ein starkes Irreführungspotenzial besäßen und fordert eine strengere Regulierung.

Insgesamt zeigt sich, dass Lebensmittelrettung ein komplexes Thema mit Chancen und Herausforderungen ist, das nur durch gemeinsames Handeln und mehr gesellschaftliches Bewusstsein gelingen kann. Ein Beispiel dafür ist der Podcast „Wirf mich nicht weg – der Podcast für mehr Wertschätzung für unsere Lebensmittel“, der durch praktische Tipps vermittelt, wie jede:r zu einem bewussteren Umgang mit Lebensmitteln beitragen kann.

Podcast „#59 – Lebensmittel retten mit Too Good To Go“ auf Spotify, Quelle Wirf mich nicht weg

Wo das System versagt: Warum Essen übrigbleibt

Trotz der vielen innovativen Ansätze zur Lebensmittelrettung zeigt sich schnell: Die Plattformen allein reichen nicht aus, um das Problem der Lebensmittelverschwendung zu lösen. Die größte Quelle für weggeworfene Lebensmittel liegt nach wie vor in den privaten Haushalten. Laut dem Umweltbundesamt landeten im Jahr 2022 rund 6,3 Millionen Tonnen Lebensmittel in der heimischen Mülltonne – das entspricht etwa 58 % der gesamten Lebensmittelabfälle in Deutschland. Hauptursachen sind Unsicherheiten beim Mindesthaltbarkeitsdatum oder aber auch schlechte Einkaufsplanung.

Eine Umfrage der Welthungerhilfe bestätigt: „Über die Hälfte der Befragten gibt an, Lebensmittel wegzuwerfen, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten sei. Viele der Produkte wären noch ohne Bedenken genießbar. Doch auch zu große Portionen und ungenaue Einkaufsplanung spielten eine Rolle.“

Mindesthaltbarkeitsdatum

Das Mindesthaltbarkeitsdatum gibt an, bis zu welchem Zeitpunkt ein Lebensmittel bei richtiger Lagerung seine spezifischen Eigenschaften wie Geschmack, Geruch oder Konsistenz garantiert behält. Es ist kein Verfallsdatum. Viele Produkte sind auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatum noch bedenkenlos genießbar. Ob ein Lebensmittel noch gut ist, lässt sich oft durch Schauen, Riechen und Probieren feststellen. Besonders bei trockenen oder haltbaren Lebensmitteln wie Nudeln, Reis oder Konserven lohnt sich ein zweiter Blick, bevor man sie wegwirft. So lässt sich unnötige Lebensmittelverschwendung vermeiden.

Und auch ich erkenne mich da wieder. Sei es durch übereilte Einkäufe nach einem langen Arbeitstag, unüberlegte Vorratskäufe im Sonderangebot oder falsche Mengen beim Kochen – immer wieder landet bei mir etwas im Müll, das eigentlich noch genießbar gewesen wäre. Vor allem beim Blick auf das Mindesthaltbarkeitsdatum bin ich oft unsicher. Lieber einmal zu vorsichtig als zu unvorsichtig, denke ich dann und werfe ein Produkt weg, das vielleicht noch völlig in Ordnung ist. Obwohl ich es besser weiß, fehlt manchmal die Zeit, der Wille oder schlicht das Wissen, um bewusster mit Lebensmitteln umzugehen.

Doch mein Verhalten ist kein Einzelfall. Es steht sinnbildlich für ein weit größeres Problem, das sich durch alle Stufen der Versorgungskette zieht. Bereits in der Landwirtschaft gehen Lebensmittel durch Ernteausfälle, Schädlingsbefall oder Unwetter verloren. In der Verarbeitung entstehen Verluste, weil Maschinen streiken oder Produkte optisch nicht den Normen entsprechen. Im Handel wird vieles gar nicht erst verkauft. Das liegt entweder an der Sorge vor Kundenreaktionen auf reduzierte Ware oder daran, dass es zu aufwendig ist, einzelne Produkte gesondert zu kennzeichnen.

 

Was sich wirklich ändern muss

Je mehr „Rettertüten“ ich abhole und je öfter ich durch die Apps scrolle, desto klarer wird: Der Reiz liegt nicht nur im Retten selbst, sondern auch im Spiel mit dem schlechten Gewissen. Nachhaltigkeit verkauft sich gut, vor allem wenn sie bequem ist, ein gutes Gefühl vermittelt und gleichzeitig den Geldbeutel schont.

Doch laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) liegt der Schlüssel zur echten Vermeidung von Lebensmittelverschwendung nicht in der Vermarktung von Resten, sondern in strukturellen Reformen: bessere Planung in Produktion und Logistik, mehr Aufklärung zum Mindesthaltbarkeitsdatum und gesetzliche Vorgaben für den Handel. Frankreich geht hier voran, denn dort sind Supermärkte mit einer Fläche von mehr als 400 Quadratmetern verpflichtet, überschüssige Lebensmittel an soziale Einrichtungen abzugeben. In Deutschland existiert ein solches Gesetz bislang nicht. Allerdings wurde im Rahmen der 2019 verabschiedeten Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung das Ziel verankert, die Lebensmittelabfälle bis 2030 um 50 % zu senken. Dafür wird auf ein Zusammenspiel aus politischem Rahmen, freiwilligen Maßnahmen der Wirtschaft, Bildungsarbeit und Forschung gesetzt. Ein zentrales Element ist der „Pakt gegen Lebensmittelverschwendung“, in dem sich große Handelsunternehmen zu klaren Reduktionszielen verpflichten. Die Umsetzung wird durch das Thünen-Institut (TI) wissenschaftlich begleitet und regelmäßig geprüft. 

Ein Selbstversuch mit Nachgeschmack

Nach meinem Selbstversuch ziehe ich Bilanz: Ich habe weniger weggeworfen und neue Produkte ausprobiert. Gleichzeitig habe ich öfter mehr gegessen als nötig, einfach weil es „gerettet“ war. Dabei wurde mir klar: Nicht jede „Rettertüte“ ist sinnvoll. Nicht jedes Produkt ist in Gefahr. Und nicht alles, was gut gemeint ist, bewirkt automatisch eine Veränderung im System.

„Rettertüten“ von Lidl oder Plattformen wie Too Good To Go und Motatos leisten einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung, doch sie sind kein Allheilmittel. Um Lebensmittel wirksam zu retten, braucht es Veränderungen in der Struktur, im Bewusstsein und in der Politik. Mir ist klar geworden, dass echte Lebensmittelrettung nicht nur bequem sein darf. Sie braucht Ehrlichkeit, Wirkung und echte Nachhaltigkeit. Sonst bleibt sie das, was sie oft ist: ein gutes Gefühl mit Mindesthaltbarkeitsdatum.

Text und Bilder: Fabienne Meitz, Grafik: Umweltbundesamt

 

 

<h3>Fabienne Meitz</h3>

Fabienne Meitz

ist 2003 geboren und studiert Medienmanagement mit marketingorientierter Vertiefung an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA ist sie seit 2025 als Redakteurin tätig. Sie beschäftigt sich vor allem mit Videospielen und Büchern.