Auf allen Social Media-Plattformen wurde im April diesen Jahres nach Sunil Tripathi gefahndet. Der vermisste Student soll einer der beiden Bombenleger von Boston gewesen sein. Das Unglaubliche hierbei ist jedoch, dass weder FBI noch Polizei die Verfolgung einleiteten, sondern die Internetcommunity.
Sunil Tripathi, ein Student aus dem US-Bundesstaat Rhode Island, verschwindet am 16. März 2013 spurlos. Seine Familie versucht, ihn mithilfe einer Seite auf Facebook und eines Videos auf Youtube aufzuspüren. Viele Nutzer werden durch verschiedene Medienberichte oder durch die Suchseite selbst auf die Suche aufmerksam und helfen dabei, den jungen Mann zu finden. Nicht mal einen Monat später, am 15. April, erschüttern die Bombenanschläge in Boston die ganze Welt. Zufällig wird während der Veranstaltung ein Bild vom mutmaßlichen Täter gemacht und ins Netz gestellt – es sieht Sunil ähnlich. Plötzlich entfacht sich eine „Hexenjagd“ ungeahnten Ausmaßes im Internet.
Fahndung im Netz
Facebook bietet dem Nutzer heutzutage unzählige Möglichkeiten, wenn es darum geht, zur Fahndung aufzurufen. Für manch einen User wird dies regelrecht zu einer aufregenden Angelegenheit, ja Unterhaltung, den „Täter“ aufzuspüren und diesen zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei sammeln und recherchieren sie selbst Informationen und tauschen diese dann mit anderen Nutzern aus. Als die Attenttäter des Bombenanschlags von Boston gesucht werden, diskutieren tausende Nutzer, ob es nun Tripathi sei oder nicht und veröffentlichen private Porträts und persönliche Informationen von ihm auf Facebook.
Gute Sitten im Netz?
„Grundsätzlich ist die Veröffentlichung eines Fotos ohne vorherige Einwilligung der abgebildeten Person nicht erlaubt“, erklärt Andreas Siegemund, Rechtsanwalt der Fuchs & Siegemund Kanzlei aus Dresden. Zumindest für vergleichbare Fälle in Deutschland gilt diese Regel, denn hierbei könne das Persönlichkeitsrecht verletzt werden. Eine Fahndung kann nur dann eingeleitet werden, wenn ein Gericht die Schuld bestätigt. Bei Tripathi war dies nicht der Fall und wurde trotzdem auf den Social Media-Plattformen behauptet. Nach deutschem Recht ein klarer Verstoß.
Jan Pötzscher ist Social Media Consultant und ehemaliger Student der Hochschule Mittweida. Er kennt solches Verhalten und sieht die Gefahr in der Eigendynamik der sozialen Netzwerke: „Aus einem gut gemeinten Versuch, eine Person zu finden, wird schnell eine Treibjagd.“ Für sich sei der Mensch allein ein vernünftig agierendes Individuum, in der Summe aber würden die Menschen ihren Verstand abschalten und sich dem Niveau der Schwarmintelligenz anpassen, so Pötzscher.
Aufruf mit rechtlichen Folgen
Wer Moral und Anstand im Netz sucht, wird nicht selten enttäuscht. So tauchen im Fall von Tripathi Kommentare auf Twitter auf wie: „Wenn du gerade auf Twitter bist und siehst, wie wir auf deinen Tod warten, beeil dich, ich will schlafen“, twitterte ein User, der heiß darauf war, Tripathie zu finden. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob solche Kommentare wirklich ernst gemeint sein könnten. „Niemand ist sich bewusst, was er da eigentlich anrichtet, wessen Leben er zerstört“, erklärt Pötzscher den Hintergrund der Hass-Twitterer. Für die User spiele es dabei nicht einmal eine Rolle, gegen wen sich ihre Wut richte. „Hauptsache, man ist dabei und kann sich später auf die Brust klopfen, weil man da mitgemacht hat“, erklärt der Social Media-Kenner.
Doch wer öffentlich zu einer Straftat aufrufe, mache sich selbst strafbar. Entsprechende Urteile in Deutschland habe es bei Hetzjagden auf Facebook schon gegeben, gibt Rechtsanwalt Siegemund zu bedenken. Das Phänomen ist längst kein amerikanisches mehr. Auch wer selbst von einer fälschlichen Fahndung betroffen ist, kann sich helfen lassen. „Durch eine Anzeige bei der Polizei kann man sich wehren“, meint Siegemund. Bei Rufmord oder Äußerungen über falsche Tatsachen habe man zudem einen Anspruch auf Schadenersatz, so der Rat des Fachmanns.
„Vor dem Klicken, Kopf einschalten“
Dass im Internet gleiche Verhaltensregeln wie im echten Leben gelten, sollte jedem Facebook- oder Twitter-User bewusst sein, gibt Social Media-Experte Pötzscher zu bedenken: „Also immer vor dem Posten und Klicken den Kopf einschalten und kurz darüber nachdenken.“ Dem User sollte klar sein: das Internet ist kein Traumland, in dem Anarchie herrscht. Natürlich kann jeder seine Meinung frei äußern, aber es gibt eben Grenzen. Grenzen, die uns das Gesetz vorschreibt – wie im echten Leben. „Diese lägen beispielsweise im Liken oder Verlinken von rechtswidrigen Inhalten wie Rechtsradikalismus und Kinderpornografie oder der Anstiftung anderer zu Straftaten“, warnt der Social Media-Experte.
Zu unrecht beschuldigt
Ganz Amerika sucht via Facebook, Twitter & Co nach Sunil Tripathi nach den Boston-Anschlägen. Ein paar Stunden danach meldet die Nachrichtenagentur AP und mehrere US-Sender, dass es sich beim Tatverdächtigen um einen gewissen Dzhokhar Tsarnaey aus Cambridge handelt. Sunil Tripathi wurde also zu unrecht beschuldigt. Nun entschuldigen sich viele User beschämt für das voreilige Urteilen und bekunden ihr Beileid bei der Familie Sunils, der auch mehrere Tage später noch immer vermisst wird. Eine Woche nach den Geschehnissen, am 23. April, wird aus den Gewässern des India Point Park eine Leiche geborgen. Es ist Sunils.
Text: Sandra Winnik. Bild: Clemens Müller.