„Die Zeitungen merken, dass ihr Stil im großen Gelaber nicht mehr greift. Deswegen suchen sie nach Einflüssen, die von außerhalb ihres Karriere- und Wertesystems kommen“, analysiert Ann Cotten gegenüber medienMITTWEIDA. Die junge Lyrikerin reimt in den kommenden Wochen für die politische Gedicht-Reihe der Wochenzeitung Die Zeit. „Gute politische Lyrik trifft den Nerv der Zeit, arbeitet mit den Mitteln des Komischen und lotet die Nuancen der Sprache aus. Sie ist immer engagierte Literatur, die in das Geschehen eingreift“, erläutert Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt vom Institut für Germanistik an der Universität Leipzig. Das Publikum habe es verdient, andere Sichtweisen zu erleben und somit auch andere Fragen gestellt zu bekommen und selbst zu stellen.
Weg von Routine und herkömmlichem Fokus
„Fraglich wird sein, wie die Literatur mit dem Moment der Aktualität umgehen wird“, gibt Nora Bossong zu bedenken. Auch sie gehört zu den elf Autoren, die das politische Geschehen für die Wochenzeitung in Gedichte fassen. Literatur brauche in ihrer Entstehung gemeinhin länger, sei ein deutlich langsameres Sprachmedium. „Vielleicht wird sich zeigen, dass auch eine Zeitung, dass auch Politik es verträgt, aus der Schleunigkeit gebracht zu werden“, hofft Bossong.
Ein Problem bleibt: Nicht jeder Leser dürfte die Gedicht-Aussagen verstehen. Das sieht auch Literaturexpertin Prof. Dr. Nagelschmidt. „Auf Lyrik muss man sich einlassen, die Sprachen und Sichtweisen der Autoren und Autorinnen sind ganz unterschiedlich – das ist natürlich gut, führt aber auch zu Irritationen.“ Doch ist das nicht unbedingt ein Nachteil. Herbert Hindringer, Schriftsteller aus Hamburg, findet Lyrik im Politikteil zwar ziemlich gewagt. Dennoch sei es für viele Leser eine Zumutung. Als er gefragt wurde, für die Zeitung zu reimen, hat er nicht lange gezögert. Ein so großes Publikum zu haben, sei für einen Dichter mehr als aufregend.
Ann Cotten scheint nicht vordergründig wegen potentiellen Neu-Lesern für die Zeit zum Füller gegriffen zu haben. Für sie zählen die vielen neuen Möglichkeiten: „Eine der interessanten Aspekte dieses unerwarteten Auftrags von Die Zeit ist es eben, dass die Frage des Verhältnisses zwischen Lyrik und Politik durch die literarischen Beiträge erst konstruiert wird.“
Politik mit Vorsicht genießen
Während Ann Cotten ihre neue Position als reimende Journalistin durchaus kritisch sieht, ist für Herbert Hindringer die Möglichkeit näher an die Politik heranzukommen ein Geschenk. Dennoch würde auch er sich nicht in Gespräche mit Politikern verwickeln lassen wollen. „Ich persönlich würde dabei eher die Rolle eines beobachtenden Zwerges mit großen Augen einnehmen“, meint er. Auch Bossong ist vorsichtig. Sie nimmt an, dass die näheren Einblicke in das Politikgeschehen irritierend für sie sein werden. Vielleicht im positiven, vielleicht im negativen Sinn.
Über persönliche Gespräche sollen die Lyriker jedoch prinzipiell die Möglichkeit haben, einen genaueren Blick in den Politikalltag zu werfen. Der stellvertretende Chefredakteur von Die Zeit, Bernd Ulrich, konnte für das Projekt einige Politiker gewinnen. Darunter sind Andrea Nahles (SPD), Christian Lindner (FDP) und Katrin Göring-Eckardt (Grüne).
Bereits am 10. März begann die Lyrik-Reihe. Dem neuen Projekt wurden die beiden wichtigsten Seiten des politischen Ressorts – die Seiten zwei und drei – freigeräumt. Links fiel ein detaillierter Einführungstext auf, der mit den optimistischen Worten „Lassen wir uns aus dem Konzept bringen“ schließt. „Politische Lyrik war ausgestorben, wenn man so will, wir bringen sie wieder zum Leben“, resümierte Ulrich im Interview auf Zeit Online. In den nächsten Wochen werden dann unter anderem Werke von Nora Bossong, Anika Stracke und Michael Lentz zu lesen sein.