Brille auf, Video an und willkommen in einer anderen Welt.
Blaue Strände, Eisige Berge oder der Lieblingsband beim Spielen zusehen. Abschalten und genießen – aber auch Eindrücke aus tiefen dunklen Minenschächten oder desaströsen Zuständen in Krisengebieten erleben. Andere Dinge sehen und Emotionen aufsaugen. Jeden plagt das Fernweh um den tristen und grauen Alltag zu entfliehen. Doch statt sich unter Zeitdruck in den nächsten Flieger zu setzen, kann man von zuhause aus in fremde Welten eintauchen. Alles was man braucht ist die notwendige Technik. Mit VR–Brillen und den dafür gedrehten 360 Grad Videos kann man diese Geschichten und Ereignisse transportieren.
Seit ein paar Jahren dominiert dieser Hype die sozialen Medien. Dabei gibt es 360 Grad Videos schon seit über 30 Jahren. Immer mehr davon tauchen in unserem Facebook Newsfeed auf. Wir erhalten ein Rundumblick von Umgebungen, Dingen und Ereignissen. Auch VR spielt dabei eine wichtige Rolle und spätesten seit Playstation VR, HTC Vive und Oculus Rift sind VR Brillen in den Wohnzimmern angekommen. 360 Grad Videos und VR profitieren und lernen voneinander. Welche unglaublichen Möglichkeiten aber auch Gefahren das alles mit sich zieht, erklärt Susanne Dickel, eine der bekanntesten Journalistinnen auf diesem Gebiet. Sie hat den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie: „Information“ für ihr Werk „An der Grenze – 24 Stunden an den Brennpunkten der Flüchtlingskrise“ bekommen. Ebenfalls hat Sie eine Operation von einem Motorradunfall an der Charité gedreht. Ein 360°-Film bei dem man einen Patienten emotional und räumlich begleitet, vom Rettungswagen bis hin zur Entlassung aus der Klinik.
(Steh` im OP: 360°-Video in der Charité Berlin in einer Kurzversion)
„Damals habe ich in einem Web Video Team von der Welt gearbeitet, mit Martin Hille zusammen. Mit ihm habe ich später auch die Firma IntoVR gegründet. Er fragte in die Runde, wer sich mit dem Thema 360 Grad beschäftigen und so den Journalismus revolutionieren möchte. Oder zumindest wer damit etwas machen möchte und ich habe sofort die Hand gehoben. Da ich selbst leidenschaftliche Gamerin bin, finde ich das Thema sehr spannend und somit war das Themenfeld auch nicht weit weg.“
Was haben 360 Grad Videos anderen Journalistischen Darstellungsformen voraus?
„Im Vorfeld sollte man sich immer überlegen ob die Darstellungsform 360 Grad zu der jeweiligen Geschichte passt. Manchmal passt es und manchmal nicht. Zum Beispiel wollte ich unbedingt etwas über Lost Places machen. Prinzipiell sind Lost Places auch ausgelegt für 360 Grad. Der Knackpunkt war: Man muss Leben in dieses Video zaubern, sonst hätte ich ja auch einfach ein Foto machen können. Dann dachte ich mir Crossgolf! Das ist es! Da habe ich genügend Bewegung im Film. Allerdings habe ich da nicht bedacht, dass der Golfball auf einem 360° Video fast nicht zu erkennen war.“
Susanne Dickel zu Gast beim Medienforum Mittweida 2017. (Foto: Medienforum 2017)
Und was ist das Paradebeispiel für VR und 360 Grad?
„Wo es generell gut funktioniert ist, wenn man Menschen an andere Orte bringen kann, an die sie normalerweise nicht hingehen können oder wollen. Zum Beispiel war ich für ‚Brot für die Welt‘ unterwegs. Die Organisation bietet ihren Spendern an, dass sie sich ein Bild vor Ort machen können. Quasi, dass man sieht, wo die eigene Spende genutzt wird. Die meisten Spender nehmen dieses Angebot nicht in Anspruch. Die Menschen sind der Meinung, dass man das Geld für die Reise ja ebenfalls spenden könne. So kann man mit dieser Darstellungsform das Projekt bzw. die Projekt Region zu den Menschen und Spendern bringen. Oder man kann auch Zeitsprünge machen, um den Menschen zu zeigen, wie die Zeit damals war. Zum Beispiel der Stasi Film, den wir gemacht haben. „Was wollten Sie in Berlin?!“ Beschäftigt sich mit der Unterdrückung und Beschattung durch die Staatssicherheit. Diese Zeit kann man nicht noch einmal erleben, aber wir wollten diese Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen transportieren.„
Wie hast du die Reaktion auf diesen Stasi Film erlebt?
„Diese Emotionalität kam so zur Geltung, dass sogar Zeitzeugen zu uns kamen. Völlig entsetzt sagten Sie es wäre grauenhaft, weil es damals einfach wirklich so war. Wir und die Schauspieler konnten es dank Zeitzeugen und Protokollen so realistisch nachstellen – das ist die eigentliche Stärke dieser Darstellungsform. Man kann die Leute in eine Geschichte eintauchen lassen. Man kann ihnen das Gefühl geben an einem anderen Ort zu sein oder jemand anderes zu sein. Und am wichtigsten ist es, Teil einer anderen Geschichte zu sein oder zu werden. Das macht das ganze menschlich und greifbar. Auch Pädagogen sind zu uns gekommen und waren begeistert. Es ist ein Unterschied ob man Frontalunterricht betreibt oder die Schüler historische Ereignisse erleben lässt. Es ist eine völlig andere Form des Unterrichts.„
(„Was wollten Sie in Berlin?!“ Ein VR-Projekt: Stasi-Gefängnis)
„VR wird ja auch als Empathy Machine bezeichnet. Eben weil man die Rolle einnimmt und in die Geschichte schlüpft. Die Frage ist eher, ob man nicht zu sehr emotionalisiert. Ich glaube wir werden uns in Zukunft mehr an diese Darstellungsform gewöhnen. Zum Beispiel dieses: Erleben Sie jetzt dies und das und fahren Sie anschließend noch die Skipiste runter. Das wird in Zukunft abnehmen. Sondern die Geschichte muss im Vordergrund stehen. Sie bringt unsere Denkweise und das Medium weiter. Die Gefahr der Abstumpfung ist dabei nicht größer als bei normalen Videos. Die Leute sagen generell ab einem bestimmten Punkt: ‚Es interessiert mich nicht mehr.‘ Wie beispielsweise in der Ukraine inklusive der ganzen Krim-Geschichte. Es geht dann halt am Alltag der Menschen vorbei. Obwohl in den Krisengebieten immer noch geschossen wird.“
Werden wir dann künftig Nachrichten in 360 Grad sehen?
„Bei den Nachrichten könnte ich mir das schon vorstellen. Die Menschen in die politische Welt einzuführen, ist wirklich interessant. Beispielsweise aus Krisengebieten. Oder selbst mal neben Angela Merkel zu stehen. Das ist schon ein Einblick den man nicht jeden Tag hat. Aber der Wetterbericht ist zum Beispiel nicht geeignet. Allein die Frage nach der Darstellung. Ich glaube es sollte eher ein Medium sein, um den Menschen etwas Fremdes zu zeigen. Der Wetterbericht läuft ja aktuell super. Keiner beschwert sich über den Bericht an sich, sondern nur über das Wetter.“
Welche Vorgaben haben deine Auftraggeber? Wissen sie schon vorher was mit 360 Grad alles möglich ist?
„Wir finden einen gemeinsamen Weg. Dieses Themengebiet ist noch recht frisch und viele Auftraggeber wissen zwar was sie wollen aber bei der Umsetzung gibt es regelmäßig Stolpersteine. Wir überlegen gemeinsam wo und wie man eine passende Geschichte erzählen kann. Ein großer Punkt dabei ist die Rolle des Zuschauers. Soll er beobachten, teil werden oder an die Hand genommen und geführt werden. Die Zusammenarbeit beginnt von Anfang an und ist der Schlüssel. Ebenso wichtig ist die Planung und Vorbereitung. Zum Beispiel bei dem Brot für die Welt Projekt. Eine Drehgenehmigung in Äthiopien, zu bekommen, ist sehr schwer.“
Nehmen dich deine Projekte bzw. die Geschichten mit? Verfolgst du die Ereignisse weiter, wenn der Film abgedreht ist?
„Das ist Unterschiedlich. Als wir in Frankreich, auf dem Balkan und in Griechenland einen Film über die Flüchtlingskrise gedreht haben, das war schon heftig…, das alles was man erlebt und gesehen hat. Bei vielen dieser Geschichten und vielen anderen Ereignissen ist es einfach unvorstellbar, dass so etwas in Europa passieren kann.„
„Äthiopien hingegen war interessant. Man sah die Menschen und mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen haben. Generell bin ich aber froh über den Job als Journalistin. Wir können alle möglichen Lebensumstände Kennenlernen, vermitteln und Verständnis schaffen. Dabei bin ich wirklich schon in viele Situationen geraten. Von einem Luxushotel für Diplomaten bis zu einer Miene. Es war wirklich schon vieles dabei. Mich fasziniert einfach dieses Spannungsfeld. Es bereichert mich, wenn ich sehe, welche unterschiedlichen Lebensweisen es gibt. Gleichzeitig ist man immer dankbar das man selbst glückliche Lebensumstände hat.„
Susanne Dickel war zu Gast beim Medienforum 2017 in Mittweida, in diesem Rahmen entstand das Interview.
Homepage von Susanne Dickel: http://intovr.de/susanne-dickel/
Offizieller YouTube Kanal: https://www.youtube.com/channel/UC01AfbMvUKA1Px9FnrmL_og
Links jeweils zuletzt geprüft am 12.01.2018.