Netflix hat durch Video-on-Demand bereits revolutioniert, wie wir Serien und Filme konsumieren. Jetzt wagt der Streaming-Dienst den nächsten Schritt: Interaktive Filme sollen die Begeisterung der Zuschauer wecken, den Handlungsstrang aktiv zu beeinflussen. Eine Art der szenischen Vernetzung, der sich Computerspiele schon seit Jahren bedienen.
Eigentlich dauert der neue Netflix-Film Black Mirror: Bandersnatch 90 Minuten. Aufgrund optionaler, vom Konsumenten beeinflussbarer Gabelungen während der Handlung, kann man sich allerdings deutlich länger unterhalten lassen. Bandersnatch ist nämlich kein gewöhnlicher, sondern ein interaktiver Film. Das heißt, der Konsument kann via Bildschirmberührung, Maus- oder Tastendruck eine Entscheidung für den Protagonisten fällen. Das kann ganz unbedeutende Dinge wie die Wahl des Frühstücks betreffen, jedoch auch über Leben und Tod entscheiden.
In ständiger Erwartung Einfluss nehmen zu können, wird man in einen Strudel aus Entscheidungen und dadurch ausgelösten Nachwirkungen gesogen. Ist eine Sackgasse erreicht, wird die Geschichte an eine Abzweigung zurück gesetzt und eine neue Entscheidung kann, mit Aussicht auf neue Handlungsstränge, getroffen werden.
So sieht es aus, wenn der Zuschauer im neuen Netflix-Film Black Mirror: Bandersnatch eine Entscheidung treffen muss. Foto: Netflix
Kein Schuss ins Blaue
Dabei hat Netflix die Einführung dieses Formats schon lange geplant und nach eigenen Angaben ausgiebige Umfragen durchgeführt, um festzustellen, wie unterschiedliche Altersgruppen auf interaktive Inhalte reagieren würden. „Wir haben viel nachgeforscht und in Umfragen mit Kindern und Eltern qualitative Daten erhoben, um herauszufinden, ob dieser Ansatz bei Zuschauern Anklang findet“, schrieb Carla Engelbrecht Fisher, Netflix-Direktorin für Produktinnovation, bereits 2017 auf dem firmeneigenen Onlineblog. Und diese Nachforschungen waren augenscheinlich positiv. Nach Aussagen des Produkt-Vizepräsidenten Todd Yellin sind in den kommenden Jahren weitere inhaltlich beeinflussbare Inhalte wie interaktive Comedys, Horrorfilme oder Romanzen, bei denen der Zuschauer den Partner auswählen kann, geplant. Jedoch hat Netflix damit das Rad nicht neu erfunden.
Im Bereich der Videospiele ist Interaktivität – also direkter Einfluss des Spielers auf die Handlung – absolute Entertainment-Voraussetzung. Lange vor Assassin’s Creed, Tomb Raider oder seit neuestem Bandersnatch, konnte man in einfach gestrickten Unterhaltungsprogrammen Entscheidungen treffen, welche den Handlungsstrang aktiv beeinflussen. Ein Reiz, den Martin Heyme, seit 2012 Inhaber des Chemnitzer Videospieleladens X-Games, wie folgt definiert: „Man bekommt die Möglichkeit, innerhalb der Spiele so zu agieren, wie man auch im echten Leben agieren würde. Oder zumindest so, wie man sich das von sich selbst wünschen würde. Hat man diesen Strang abgeschlossen, geht man zurück zum Anfang und spielt den „guten“ Weg, also den helfenden, beispielsweise im Märtyrerdasein endenden.” Martin Heyme führt weiter aus: „Und zum Schluss wird das ganze nochmal mit der bösen Seite zugeneigten Entscheidungen durchgespielt. Dadurch entsteht ein unglaublicher Mehrwert, sowohl inhaltlich, als auch emotional für den Spieler.“
Filme und Videospiele im Wandel
Offenbar reicht es nicht mehr aus, „nur einen Film zu schauen“ oder „nur ein Spiel zu spielen“. Die Facetten der zeitvertreibenden Stimulierung sollen möglichst vielfältig, abwechslungsreich und neuartig sein. „Dabei kann man im Videospielbereich derzeit einen eindeutigen Trend verfolgen: Der Schwierigkeitsgrad sinkt zugunsten der Unterhaltung. Viele der neuen Spiele sind im Grunde genommen Filme, deren Handlung man durch Entscheidungen beeinflussen kann“, so Martin Heyme.
Deshalb verschmelzen einige der entscheidenden Darstellungstechniken von Film und Videospiel miteinander. So unterscheiden sich die Szenen, die den Videospielfortschritt vorantreiben, grafisch kaum noch vom eigentlichen Gameplay und stehen oft sogar animierten Kurzfilmen in nichts nach. Unterstrichen wird diese Vereinheitlichung zweier eigentlich unterschiedlicher Genres durch den Einsatz von echten Schauspielern – in Videospielen!
Der Horrorgame-Schocker Beyond: Two Souls ist das erste Videospiel, das mit realen Hollywood-Schauspielern, wie Ellen Page oder Willem Dafoe, gedreht und beworben wurde. Betrachtet man ergänzend den produktionsspezifischen Aufwand, zum Beispiel stilistische Mittel wie Kamerafahrten und -position sowie Storyline und Atmosphäre, bemerkt man die mittlerweile verblüffende Ähnlichkeit mit einem modernen Film.
Sind Filme und Videospiele bald Konkurrenzprodukte?
„Nein”, sagt Martin Heyme: „Es ist ja nur diese spezielle Art Film, die dem Videospielen so sehr ähnelt. Ich denke nicht, dass es in nächster Zeit mehr interaktive als normale Filme geben wird. Und somit wird nicht die Filmindustrie von der Videospiel-Industrie bedroht und umgekehrt. Beide haben ihren Platz in der Entertainment-Branche gesichert.“
Darüber hinaus sieht er auch Möglichkeiten in der Verbindung beider Elemente: „Ich denke, gerade der Fortschritt bezüglich der VR-Brillen, also der Vermittlung virtueller Realität beim Videospielen, lässt extrem viele Möglichkeiten für die Zukunft offen. Vielleicht ist es wirklich schon bald so weit, dass man sich in einer kompletten interaktiven, virtuellen Welt bewegen kann.” Nichts, was ihn persönlich reize allerdings: „Das geht meiner Meinung nach ein bisschen zu weit. Ich brauch einen Controller in der Hand und will wissen, dass ich ein Spiel spiele und mich nicht dem selben Stress ausgesetzt fühlen, der in der realen Welt auf einen einwirkt.“
Text: Maximilian Christoph, Titelbild: Marie Kühnemann, Foto: Netflix