Als ihr Handy klingelt, leuchten Ninas Augen auf. Sie hat schon seit einer Weile versucht, sich mit einer alten Freundin zu verabreden und endlich hat es geklappt. Die beiden haben beschlossen, in der kommenden Woche shoppen zu gehen, sich auszutauschen – all die Dinge zu tun, die für andere 25-Jährige selbstverständlich sind. Es ist eine Weile her, seit Nina das letzte Mal mit Freunden aus war und das liegt auch an ihrer Krankheit. Seit Jahren leidet sie nun schon unter chronischer Migräne und kann die Attacken dabei kaum kontrollieren. „Manchmal scheint mir die Sonne falsch ins Auge oder es ist zu laut, was in der Öffentlichkeit leider fast immer der Fall ist.“ Freizeitplanung ist für Nina schwieriger als für viele ihrer Freunde. Als der lang ersehnte Tag des Treffens mit ihrer Freundin kommt, muss Nina nicht zum ersten Mal die schlechte Nachricht überbringen – die Migräne hat mal wieder zugeschlagen. Das Treffen müssen die beiden verschieben.
Nina, die in echt anders heißt, gehört zu den rund 40 Prozent der Gesellschaft, für die chronische Erkrankungen laut GEDA-Umfragen zum Alltag gehören. Europaweit sind sie mit 86 Prozent die häufigste Todesursache und machen mit 70 bis 80 Prozent einen erheblichen Anteil der EU-weiten Gesundheitsausgaben aus. Damit stellen sie eine Herausforderung für die Gesundheitspolitik und Krankenkassen dar, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Doch trotz der weiten Verbreitung chronischer Krankheiten haben Betroffene nicht nur mit ihrer Gesundheit, sondern auch mit dem Umgang in der Gesellschaft zu kämpfen.
Unabhängigkeit geht verloren
Mit ihrer Freundin ausgehen wird Nina heute nicht mehr, dafür geht es ihr zu schlecht. Seit fünf Jahren ist sie nun chronisch krank. Dabei könne sie kaum steuern, wann und wie stark eine Migräne-Attacke zuschlägt. „Es fühlt sich für mich so an, als ob die Schmerzrezeptoren eine Feuerprüfung machen. Der ganze Kopf schmerzt, wird heiß, es drückt und zieht und vor allem pulsiert es. Währenddessen kann ich nichts mehr machen, weil die ganze Nervenzentrale sich nur auf die Feuerprüfung konzentriert.“
Wie bei Nina wirken sich chronische Krankheiten stark auf den Alltag der Betroffenen aus, denn, wie das Wort chronisch schon sagt, sind sie ständig und pausenlos da, auch wenn man es der Person nicht ansieht. „Unter einer chronischen Erkrankung versteht man eine länger andauernde, schwer heilbare Krankheit“, heißt es im Lexikon der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Das bringt auch mit sich, dass Betroffene auf medizinische Versorgung angewiesen sind, meist über Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Durch die steigende Lebenserwartung und den medizinischen Fortschritt treten vor allem mit zunehmendem Alter häufig Mehrfacherkrankungen auf, auch Multimorbidität genannt. „Wir ernten die Früchte unseres unglaublichen Erfolges“, sagt Intensivmediziner Prof. Uwe Janssens gegenüber dem MDR. „Patienten, die früher mit Mitte 50 an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben wären, überleben heute, behalten aber Begleiterkrankungen.“
Für Nina brachte die Diagnose einige Veränderungen mit sich, auch hinsichtlich ihrer Zukunftspläne. „Ich bin umgezogen, zurück zu meinen Eltern. Mein Studium habe ich erstmal pausiert“, berichtet sie. „Ich habe quasi genauso gelebt wie vor meinem Umzug zur Uni und das war erstmal echt erschreckend.“ Das meiste habe sich dabei für sie ins Negative verändert. Sie sei wenig belastbar und könne nur noch selten mit Freunden weggehen, Dinge wie Festivals gehen gar nicht mehr.
Prävention stärken und Risikofaktoren erkennen
Chronische Erkrankungen sind nach EU-Angaben mit 86 Prozent die vorherrschende Todesursache in Europa. Die am häufigsten tödlichen Krankheiten sind laut WHO die des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge sowie Krebs und Diabetes. Risikofaktoren wie Tabakkonsum, mangelnde physische Aktivität, ungesunde Ernährung und Alkoholmissbrauch können die Entstehung solcher Krankheiten mitbedingen. „Wir müssen verstärkt über mögliche Risikofaktoren informieren und wir müssen die Möglichkeit erhalten, eingehender zu beraten“, sagt Martina Wenker, Vize-Präsidentin der Bundesärztekammer, gegenüber der Ärzte Zeitung. Demnach sei die Anhebung von Angeboten zur Früherkennung zu wenig. Andere häufig vorkommende chronische Erkrankungen sind beispielsweise Asthma, Demenz, Epilepsie, Multiple Sklerose, Alkoholismus oder Rheuma.
Wohl auch aufgrund dieser Problematik setzt das dritte und aktuelle Gesundheitsprogramm der EU, das seit 2014 und bis 2020 läuft, Schwerpunkte in Gesundheitsförderung und Prävention chronischer Krankheiten. Das liegt auch an den hohen Ausgaben, denn rund 70 bis 80 Prozent der Gesundheitsbudgets in der EU werden für die Behandlung chronischer Erkrankungen eingesetzt, davon jedoch bisher nur 3 Prozent für Prävention. EU-Projekte wie die Joint-Action CHRODIS PLUS beschäftigen sich deshalb mit der Frage, wie die Versorgung und Prävention chronischer Erkrankungen effektiver gestaltet werden kann.
Zahlen, Hintergründe und die Mission von CHRODIS PLUS werden vorgestellt. Quelle: EU CHRODISplus YouTube-Kanal
Doch sind chronische Erkrankungen nicht allein auf das Konsumverhalten von Betroffenen zurückführbar. Genetische Voraussetzungen und andere Umweltfaktoren spielen eine wesentliche Rolle. So sind beispielsweise circa 80 Prozent der sogenannten seltenen Krankheiten, auch Orphan Diseases, an denen laut Nationalem Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen insgesamt geschätzt vier Millionen Deutsche leiden, genetisch (mit-)bedingt. „Die einzelnen Erkrankungen sind so selten – definitionsgemäß seltener als eins zu 2 000, dass sie den meisten Ärzten nicht bekannt sind. Aber es gibt sehr viele seltene Erkrankungen, die meisten sind genetisch bedingt“, bestätigt Medizinerin Dr. Susanne Morlot dem vfa-Patientenportal. „In der Regel müssen Patienten mit seltenen Erkrankungen viele Ärzte verschiedener Fachspezialitäten aufsuchen und ein großes Spektrum an Untersuchungen absolvieren, bevor eine Diagnose gestellt wird.“ Mittlerweile gibt es mehr als 8000 dieser Krankheiten, darunter zum Beispiel Fibromyalgie, verschiedene Krebsarten oder Morbus Crohn.
„Ich habe schon dutzende Diagnosen bekommen“
Laura ist 17 Jahre alt. Seit sie neun ist, hat sie mit Schmerzen zu kämpfen, doch noch immer weiß sie nicht, woran genau das liegt. „Ich habe schon dutzende Diagnosen bekommen, eine falscher als die andere“, erklärt sie. „Erst war es psychosomatisch, dann eine Wirbel- und Nervenentzündung im Rücken, Migräne, Spannungskopfschmerzen, Borreliose, Hüftdysplasie, Funktionelle Schmerzstörung, Neurom.“ Seit acht Jahren geht sie nun den Weg der Diagnosefindung. Sie hoffe nur, dass es sich im Endeffekt lohnt.
Auch bei Nina kam die Diagnose chronische Migräne nicht direkt, sondern hat ein halbes Jahr auf sich warten lassen. Ein langer Weg bis dahin ist bei chronischen Erkrankungen nicht unüblich. Doch auch wenn diese dann erstmal Klarheit bringe, so sei es nicht einfach, damit umzugehen. „Ich habe erstmal alles versucht, was man sonst so macht, bin zu anderen Ärzten gegangen, Sport, gesunde Ernährung. Irgendwann war ich bei meinem dritten oder vierten Arzt und der hat mir ganz nüchtern gesagt, wie es ist. Das hat mich total getroffen“, erzählt Nina. „Um diesen Punkt kommt man aber nicht herum. Das hätte man nicht schönreden können und mit der Zeit lernt man, damit umzugehen.“
Jeder Fall ist individuell
Abhängig von Diagnose und Erkrankung gehören für Betroffene diverse Arztbesuche und Therapiesitzungen zum Alltag, die aufeinander abgestimmt und bezahlt werden müssen. Krankenkassen bieten dazu für Betroffene von Diabetes mellitus, Asthma bronchiale, Brustkrebs, der koronaren Herzkrankheit und der chronisch obstruktiven Lungenkrankheit sogenannte Disease-Management-Programme an. Das sind strukturierte Behandlungsprogramme, die sich durch koordinierte Zusammenarbeit von Ärzten und anderem Pflege- und Heilpersonal auszeichnen. Dabei wird der Patient individuell miteinbezogen und hat eine niedrigere Belastungsgrenze von einem Prozent des Bruttoeinkommens anstatt der sonst üblichen zwei Prozent. Auch für chronische Herzinsuffizienz, Depressionen, Rückenschmerzen, Osteoporose und Rheumatoide Arthritis entwickelt der Gemeinsame Bundesausschuss laut Bundesgesundheitsministerium derzeit Programme.
Neben den Regelungen der Krankenkassen besteht jedoch ein weiteres Problem darin, dass chronisch kranke Menschen oft auch beruflich eingeschränkt sind, indem sie zum Beispiel öfter krankheitsbedingt ausfallen oder sogar berufsunfähig sind. Nicht immer ist das eindeutig. „Bei Fällen, in denen es nicht ganz klar ist, ob die Person wieder arbeiten können wird und wo vielleicht auch keine offensichtliche körperliche Behinderung vorliegt, scheinen mir viele überfordert zu sein“, meint Nina. „Keiner wusste so richtig, welche Gelder mir genau zustehen. Erst nach Gesprächen mit der Verbraucherzentrale und einer Mitgliedschaft im Sozialverein wurde es etwas eindeutiger.“
Erkrankungen grenzen Menschen aus
Für Laura war es vor allem schwierig, ihre anhaltenden Symptome mit dem Schulalltag in Einklang zu bringen. „Ich fehlte sehr viel in der Schule und musste schlussendlich auch eine Klasse wiederholen“, erklärt sie. „Ich bin insgesamt sicher zweieinhalb Jahre zu Hause geblieben, zehn Monate am Stück ist die größte Zeitspanne, in der ich nur zu Hause und bei Ärzten war. Ich wurde außerdem aus mehreren Schulen geschmissen, da ich zu viele Fehltage hatte, obwohl meine Noten sehr gut waren.“
Schwierig sei es vor allem zu der Zeit gewesen, als ihre Symptome begonnen haben. „Meine Freunde haben nicht wirklich verstanden, was los ist, da wir alle circa neun Jahre alt waren. Je länger ich diese Krankheit hatte, desto weniger Leute glaubten mir, ließen mich links liegen und verbreiteten Gerüchte, dass ich Aufmerksamkeit suche oder einfach zu faul bin, zur Schule zu gehen“, berichtet sie. „Viele Leute haben das Gefühl, dass wir nicht anders sind und uns einfach zusammenreißen sollen, was wir nun mal nicht können.“
Für Menschen mit chronischen Erkrankungen ist so jeder Tag eine neue Herausforderung. Laura nehme sich nun jeden Morgen eine halbe Stunde Zeit, um einzuschätzen, wie es ihr geht und ob sie zur Arbeit kann oder zu Hause bleiben muss. Das wirkt sich auch auf andere Bereiche aus. „Ich kann mein soziales Leben nicht wirklich ausleben, da ich versuche, meine Energie zu sparen für die Arbeit. Daher sage ich meistens ab, wenn Freunde mich fragen, ob wir etwas unternehmen.“
Betroffene wollen Rücksichtnahme
Nina hat bessere Erfahrungen in ihrem Umfeld gemacht. Viele haben sie ernstgenommen, nachdem sie ihre Diagnose bekam. „Manche kommen aber mit den aberwitzigsten alternativ-medizinischen Ideen. Wenn jemand über Jahre krank ist, dann kann man sicher sein, dass derjenige schon alles probiert hat, oder irgendwo eine Grenze zieht.“ Wenn man alles ausprobieren wolle, was die alternative Medizin zu bieten habe, dann gehe man pleite. Nina wünsche sich stattdessen mehr Rücksichtnahme, immer wieder müsse sie ihr Umfeld daran erinnern.
Wer eine chronische Erkrankung bekommt, muss ständig mit ihr leben. Da sie in der Gesellschaft weit verbreitet sind, stellen sie ein Problem dar, das jeden betreffen kann, ob direkt oder indirekt durch Freunde und Verwandte. Gesundheitssysteme und Krankenkassen müssen darauf reagieren, was aufgrund der großen Individualität der Fälle nicht immer reibungslos möglich ist. Das Problem ist allerdings in der Politik angekommen, wie man an EU-Initiativen wie CHRODIS PLUS sieht. Doch Betroffene benötigen auch Unterstützung aus ihrem Umfeld, Inklusion sowie Akzeptanz in der Gesellschaft.
Text und Illustration: Julia Walter, Video: EU CHRODISplus YouTube-Kanal