Eine Allee führt durch den Kees’schen Park, Familien spazieren vorbei an einem Café, vor dem die Menschen genüsslich noch einen Schluck Kaffee zu sich nehmen. Ein kleiner abzweigender Weg führt um die Ecke zu einem modernen Haus, das gleich in der Nähe eines prachtvollen Torbogens steht. Das Lachen der fahrradfahrenden Kinder hinter einem klingt noch nach, während man den hellen und freundlichen Eingang des Bärenherzes betritt. Nur ein Spender mit Desinfektionsmittel links neben der Eingangstür erinnert an das, was hier Tag ein Tag aus beschäftigt.
Das Bärenherz in Markkleeberg ist eines von insgesamt 16 stationären Kinderhospizen in Deutschland. Das einzige in Sachsen. Nachdem der Verein 2004 zunächst mit dem ambulanten Dienst begann, konnten 2005 erste Familien in einer Interimslösung aufgenommen werden. 2008 zog das Kinderhospiz vollständig in ein eigenes Haus. Seitdem haben Familien mit Kindern, deren Lebenserwartung verkürzt ist, die Möglichkeit, im stationären Kinderhospiz aufgenommen zu werden. 320 Familienaufenthalte konnte das Bärenherz im Jahr 2018 verzeichnen. Der Bedarf für diese Einrichtungen ist da. In vielerlei Hinsicht ist das Thema rund um die Betreuung schwerkranker Kinder und Jugendlicher in einem Hospiz aber noch immer ein Tabu.
Nach einer Schockdiagnose steht das gesamte Leben Kopf
Der Schock ist den Eltern ins Gesicht geschrieben, wenn eine Familie erzählt, dass ihnen ein Aufenthalt im Kinderhospiz bevorsteht. Doch dass diese Einrichtung so viel mehr ist, als der Name verrät, bestätigt Christina Michel. Nachdem bei ihrem Sohn Moritz im Alter von wenigen Monaten das Miller-Dieker-Syndrom festgestellt wurde, übermittelten die Ärzte der damals 28-jährigen Frau die Hiobsbotschaft, dass ihr Sohn keine hohe Lebenserwartung habe. Es begann eine Zeit mit vielen Krankenhausaufenthalten, schlaflosen Nächten und ein Leben, in der die Mutter zur Pflegekraft ihres eigenen Sohnes wurde. Das zerrt nicht nur an den Nerven einer jungen Mutter, sondern auch an dem Familienleben. Besonders nachdem Christina ihr zweites Kind, ein gesundes Mädchen, zur Welt brachte. Während eines Klinikaufenthaltes erfuhr sie von einer anderen Mutter vom Kinderhospiz Bärenherz, das seinen Ursprung in Wiesbaden hat. Diese riet ihr, das gleichnamige Hospiz im sächsischen Markkleeberg zu besuchen.
Der erste Schritt ist oft der schwerste
Vier Wochen Entlastungsaufenthalt jährlich können Familien in Anspruch nehmen, nachdem eine lebensverkürzende Erkrankung beim Kind festgestellt wurde. Den Wunsch müssen die Familien jedoch selbst äußern. Doch dieser Schritt ist oft der schwerste. Danach übernimmt das Kinderhospiz den bürokratischen Part: Die Kosten für das erkrankte Kind werden dabei etwa zu 50 Prozent von der Krankenkasse übernommen. Der restliche Teil davon, sowie die Kosten für den Aufenthalt der Eltern und Geschwister, werden durch Spenden finanziert. Den prozentualen Anteil der Kostenübernahme verhandelt jedes Hospiz individuell selbst und regelmäßig mit den Krankenkassen. „Es wird nur ein bestimmter Teil von den Krankenkassen finanziert, deshalb ist der Förderverein sehr wichtig“, so Heike Steinich von der Bärenherz Akademie.
Moritz war vier Jahre alt, als seine Mutter mit ihm zum ersten Mal das Kinderhospiz betrat. Ein großer Schritt, für den sie sich nach einem von bereits vielen stationären Klinikaufenthalten entschied. Moritz’ kleine Schwester war zu diesem Zeitpunkt auch schon auf der Welt. Die jungen Eltern merkten, wie sie langsam an ihre Grenzen kamen und mehr Hilfe sowie einfach eine Auszeit brauchten. Bis dahin hatten sie keinerlei Urlaub gemacht. Der Schritt war nicht leicht, ganz im Gegenteil. Lang habe Christina das Telefon in der Hand gehalten und sich nicht getraut. „Wir waren gerade stationär. Moritz hatte eine Lungenentzündung und es war nicht die erste. Wir waren davor wirklich viel und oft im Krankenhaus. Ich habe noch aus dem Krankenhaus hier im Hospiz angerufen, weil ich gemerkt habe, dass wir so langsam an unsere Grenzen stoßen.“ Die Vorurteile gegenüber dieser Einrichtung hatte auch sie. Sie wusste nicht, was einen dort erwartet. Man könne sich zunächst auch gar nicht vorstellen, dass man Erholung findet an einem Ort, wo sonst Kinder sterben.
Mutter und Sohn tanken Kraft in der Sonne im Garten des Kinderhospizes. Foto: Susan Jahnke
Kinderhospize mit anderem Auftrag als Einrichtungen Erwachsener
Nicht nur für die betroffenen Eltern, sondern auch für Angehörige und Freunde ist ein Hospizaufenthalt ein schwieriges Thema. „Unser Umfeld wusste eigentlich noch viel weniger über diese Einrichtung als wir. Da unser erster Aufenthalt nach einem schweren Infekt erfolgte, dachten viele, dass es unser letzter Weg mit Moritz sei“, erzählt die Mutter des heute Zehnjährigen. Positive Eindrücke und Geschichten über ihre Erlebnisse im Bärenherz halfen Angehörigen und Freunden aber zu verstehen, warum das Kinderhospiz zu einem so wichtigen Teil der Familie wurde.
Ein von Trauer betrübter Ort ist das Kinderhospiz keinesfalls. Vielmehr ist es ein „lebendiger Ort, wo das Thema Tod auch sein darf“, so Heike Steinich. Sie ist eine der Mitarbeiter der ersten Stunde im Markkleeberger Kinderhospiz. Bei ihren Schulungen der Bärenherz Akademie für Auszubildende, Studierende aber auch in Kindergärten stellt sie fest, dass Kinderhospize meist mit Erwachsenenhospizen verglichen werden. Die Schlussfolgerung vieler Außenstehenden, aber auch Ärzten sei, dass ein Kinderhospiz im Grunde dasselbe ist und die Kinder nur zum Sterben an diesen Ort gehen. Doch die gelernte Kinderkrankenschwester erklärt: „Wir haben eigentlich einen völlig anderen Auftrag als ein Erwachsenenhospiz.“
Laut Deutschem Hospiz- & PalliativVerband gibt es rund 230 stationäre Hospize für Erwachsene in Deutschland. Im Vergleich dazu ist der Anteil der Kinderhospize noch gering. Grundsätzlich begleiten beide Einrichtungen todkranke Menschen. Doch es gibt einige Unterschiede im Gesamtkonzept: Erwachsenenhospize begleiten Menschen in ihrer letzten Lebensphase bis zum Tod. Ein Kinderhospiz hingegen fängt mit der Betreuung bereits ab der Diagnosestellung einer lebensverkürzenden Erkrankung des Kindes an. Die Familien werden also teilweise über einen sehr langen Zeitraum betreut. Zum Auftrag des Kinderhospizes gehört unter anderem die Betreuung der Geschwisterkinder, die stationäre und ambulante Betreuung, Mütter- und Vätertreffen sowie Besuchdienste in den Kliniken. Zudem gehört die Trauerbegleitung bereits ab der Diagnosestellung immer zum Auftrag und auch noch lange nach dem Tod eines Kindes werden die Familien begleitet. So gibt es zum Beispiel jährliche Erinnerungsnachmittage oder Treffen für verwaiste Großeltern.
Kinderhospize als Erweiterung des Radius schwerkranker Kinder
„Einen weiteren Lebens- und Erlebensraum bietet das Kinderhospiz“, so Heike Steinich. Besonders wichtig sei es allen Mitarbeitern und Helfern im Haus, den Kindern individuell das bieten zu können, womit sie sich am wohlsten fühlen und welche Situationen vermieden werden sollten. Wenn ein Kind zum Beispiel gerne ein bestimmtes Lichterspiel und Rituale von zu Hause kennt, dann übernimmt auch das Team im Kinderhospiz diese Gewohnheiten und Rituale.
Aus diesem Grund sind die Aufnahmegespräche mit den Eltern zu Beginn eines jeden Aufenthaltes essenziell. „Moritz wird zu Hause um 17 Uhr gewaschen und hört dann noch etwas Musik. Für ihn bedeutet das bekannte Sicherheit in seiner eigenen kleinen Welt“, erzählt Christina. Für sie sei es eine große Erleichterung, dass ihr besonderer Sohn bei jedem Besuch mit so viel Herzlichkeit und Offenheit aufgenommen wird. Auch zu wissen, dass die technischen Hilfsmittel für das Personal nichts Außergewöhnliches sind, helfe, die Verantwortung abzugeben.
Jedes Kind hat im Hospiz sein eigenes Zimmer. Neben der Tür ziert ein buntes Namensschild die Wand. Die Zimmer sind ausgestattet mit Pflegebetten. Die Räume sind hell und freundlich und haben große Fenster. Auch Moritz hat sein eigenes kleines Reich. An der Wand hängt ein CD-Player, von dem leise Entspannungsmusik ertönt. Gleich neben seinem Bett steht ein Sauerstoffgerät. Etwas abseits dieser Zimmer befinden sich die Elternwohnungen. Insgesamt gibt es davon sieben im Bärenherz. Dort haben die Familien für die Zeit des Aufenthaltes die Möglichkeit zu wohnen.
Hospiz als Kraftquelle für das Familienleben
Individuell auf die Situation der einzelnen Familien einzugehen, hat im Kinderhospiz oberste Priorität. Nur so ist es möglich, das nötige Vertrauen aufzubauen und erleichtert den Eltern, die Verantwortung abzugeben und abschalten zu können. Eine vermeintliche Kleinigkeit wie Ausschlafen, aber auch besondere Angebote wie Massagen oder Gespräche mit einem Sozialdienstmitarbeiter, werden ihnen ermöglicht. In der Kinderhospizarbeit wird diese umfassende Betreuung durch ein „multiprofessionelles Team“ möglich. Dieses setzt sich aus internem und externem Personal aus verschiedenen Bereichen zusammen. Insgesamt 28 Pfleger sind rund um die Uhr im Bärenherz für die kranken Kinder zuständig. Zusätzlich betreuen zwei Ärzte das Kinderhospiz. Für Klang- und Physiotherapien kommen externe Therapeuten in die Einrichtung. Im Bereich der Hauswirtschaft versorgen fünf Mitarbeiter die Familien. Ein Team aus Pädagogen kümmert sich sowohl um die erkrankten als auch gesunden Kinder. So können bei Geschwisternachmittagen und Kunsttherapien auch die Geschwisterkinder miteinander in Kontakt kommen.
Im Kreativzimmer finden unter anderem Klang- und Kunsttherapien statt. Foto: Susan Jahnke
Eine Radtour machen, oder in den Freizeitpark gehen ist im Alltag mit einem schwerkranken Kind oft eine logistische Herausforderung und nur schwer umsetzbar. Durch die Betreuung der kranken Kinder in einem Kinderhospiz, können betroffene Eltern ihren gesunden Kindern oder sich als Paar Auszeiten ermöglichen, die sonst nicht machbar wären. Für Moritz’ kleine Schwester bedeutet der Aufenthalt im Bärenherz, dass sich ihre Eltern viel Zeit für sie nehmen können.
Am ersten Tag sei es ein wenig schwierig, die Verantwortung für Moritz vollends an die Schwestern abzugeben. Das liege einfach an der eigenen Routine. „Da neigt man dann doch als Mutter noch dazu, den Schwestern unter die Arme zu greifen“. erzählt seine Mutter. Besonders wenn man mit im Haus ist, sei das normal und werde mit der Zeit aber besser.
Palliativversorgung legt Fokus nicht auf Heilung eines Menschen
So wie Moritz, verbringen viele Familien einen Entlastungsaufenthalt im Bärenherz. Sie werden dauerhaft begleitet, fahren aber wieder nach Hause und kommen regelmäßig für eine gewisse Zeit zurück. Zum anderen gibt es aber auch die Kinder, die sich in der letzten Lebensphase befinden und bis zum Tod im Kinderhospiz bleiben.
„Das erste Mal so wirklich konfrontiert mit einem Kind in der letzten Lebensphase wurden wir vor zwei Jahren. Kurz vor einem unserer Aufenthalte haben wir einen Anruf bekommen und wurden darüber informiert. Es war zu dem Zeitpunkt ungewiss, wann das Kind verstirbt“, berichtet Christina Michel. Die Familie haben sie damals auch kennengelernt. Es sei eine ganz intensive Begegnung gewesen.
Unabhängig davon, ob sich ein Kind in der letzten Lebensphase befindet oder nach einem geplanten Aufenthalt wieder nach Hause fährt, werden die erkrankten Kinder in der Einrichtung palliativ versorgt. Die Palliativversorgung versteht sich als multiprofessionelle Pflege von unheilbarkranken Menschen mit verkürzter Lebenserwartung. Außerdem gilt sie als ganzheitlich, betrachtet also den umfassenden Gesamtzustand des Menschen und behandelt auf Basis dessen. Die Palliativpflege fokussiert sich dabei nicht auf die Heilung eines Menschen, sondern umfasst die bestmögliche Linderung körperlicher und psychischer Beschwerden unheilbar kranker Menschen. Dabei spielt die Schmerzerfassung und die darauf aufbauende Schmerztherapie eine wichtige Rolle. Ziel ist es, den erkrankten Kindern und Jugendlichen die kurze Zeit ihres Lebens so angenehm wie möglich zu gestalten. Im Kinderhospiz besitzt die Palliativpflege zusätzlich das Ziel, Familien in schweren Situationen zu unterstützen, sowohl seelisch als auch körperlich.
Die begrenzte Zeit eines Kindes soll gelebt werden
Kinderhospiz-Mitarbeiterin Heike Steinich betont: „In erster Linie ist unsere Einrichtung ein lebendiger Ort. Es wird versucht, so viel wie möglich Normalität zu leben und dass man nicht immer alles nur an der Krankheit festmacht.“ Häufig vergessen Außenstehende, dass diese kurze Zeit auch gelebt werden darf, statt nur auf den Tod zu warten. „Egal, ob es eine Woche, drei Jahre oder 21 Jahre sind – die wollen wirklich gelebt und gestaltet werden und man möchte als Familie so viel wie möglich schöne Erinnerungen einsammeln – miteinander.“
Heike Steinich ist sich sicher: „Die Familien sind bunt. Das Leben ist bunt. Wir sind ein bunter Ort.“ Herzlichkeit, Vertrauen und vor allem Lebendigkeit ist das, was das Kinderhospiz Bärenherz erfüllt. Auch, wenn die Zeit eines schwerkranken Kindes nicht verlängert werden kann, ist es möglich, sie mit mehr Leben zu füllen.
Text und Fotos: Susan Jahnke