Wer sich häufiger im Internet bewegt, kommt an Pornografie aller Art wohl kaum vorbei. Manche dieser Inhalte sind wild im Netz verstreut, andere konzentrieren sich auf bestimmten Hentai-Seiten. Aber nicht alle dieser Inhalte sind in Deutschland legal.
Hentai ist eine Unterkategorie japanischer Genres von Anime und Manga, charakterisiert durch offen sexualisiert dargestellte Charaktere und ihre explizit sexuelle Bebilderung und Handlung. Hentai sind also das gezeichnete oder animierte Äquivalent zu westlichen Pornos. Auf diesen Hentai-Seiten werden Inhalte als Lolicon bezeichnet, wenn sie minderjährige Mädchen erotisiert darstellen – vor allem im englischsprachigen Internet-Raum.
„Die Verwendung des Begriffs Lolicon ist in Japan aber eine grundlegend andere als im westlichen Raum”, erklärt Professor Patrick W. Galbraith, Dozent der Senshū Universität in Tokio, gegenüber medienMITTWEIDA. Der Westen sehe Lolicon beinahe schon als Synonym für Kinderpornografie. Im japanischen Raum fallen aber nicht unbedingt nur Minderjährige in Hentais, die explizit erotisiert werden, unter diese Kategorie. Charaktere, die in jugendfreien Inhalten auftreten und bloß ein kindliches Aussehen haben, gelten ebenfalls als Lolicon. Auch wird damit in Japan scherzhaft jemand bezeichnet, der eine Vorliebe für niedliche Anime-Mädchen hat.
Das Wort wird abgeleitet von dem Ausdruck „Lolita Komplex“ und findet seine Wurzeln bei Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“, in dem es um Humbert Humbert geht. Er ist ein pädophiler Literaturwissenschaftler, der sich in die zwölfjährige Dolores Haze verliebt und sie später misshandelt. Dieser Roman löste zur Zeit seiner Veröffentlichung einen Skandal aus, weil er angeblich von Pornografie und der Verharmlosung von Kinderschändung handele. Shotacon ist das männliche Äquivalent zu Lolicon und wird von „Shotaro Complex“ abgeleitet. Dieser Ausdruck bezieht sich auf den jungen, männlichen Charakter Shōtarō aus dem Anime Tetsujin 28-go, der unter seinen Fans als besonders niedlich gilt.
Patrick W. Galbraith
Patrick W. Galbraith ist ein Dozent an der School of Law der Senshū Universität in Tokio. Er besitzt ein Ph.D. in Information Studies der Universität Tokio und ein Ph.D. in Cultural Anthropology der Duke Universität.
Er ist der Autor und Editor vieler Bücher über japanische Medien und japanische Popkultur. Einige dieser Bücher, wie „Otaku and the Struggle for Imagination in Japan“, das 2019 veröffentlicht wurde, sprechen das Lolicon-Phänomen in Japan an.
Foto: Patrick W. Galbraith
Warum ist Lolicon populär?
Lolicon, die erotisierte Darstellung junger Mädchen, sei in Japan relativ beliebt.
Eine Schlussfolgerung sei, dort gäbe es eine offene Kultur für die Fetischisierung junger Mädchen. Man könne meinen, dass die Japaner alle pädophil seien und versuchen, ihre Lust mit Lolicon zu kompensieren, sagt Galbraith. Das sei aber nicht richtig.
Galbraiths Recherchen zufolge, sagen die meisten Lolicon-Liebhaber, ihr Interesse für diesen Content stamme nicht von einem Verlangen für Minderjährige, sondern aus einer Liebe zu Manga oder Anime. Der Großteil der Charaktere sei auch nicht für pornografische Zwecke bestimmt, sondern einfach, um den Content visuell interessanter zu gestalten. Lolicon sei für sie kein Ersatz für Geschlechtsverkehr mit Kindern, denn diesen wünschten sie sich gar nicht erst.
Eine Antwort, um die Beliebtheit dieser Charaktere zu erklären, wäre, dass sie unter das sogenannte „Kindchenschema“ fallen. Das ist eine Kombination von Körpermerkmalen, die dem Menschen zu erkennen geben, dass es sich bei dem Charakter um einen Jugendlichen oder ein Kind handelt. In der Regel löst das eine positive Gefühlsreaktion aus und sorgt dafür, dass wir den Charakter als schutzbedürftig empfinden. Zu den Merkmalen des Kindchenschemas gehören ein vergleichsweise großer Kopf mit einer ausgeprägten Stirnwölbung, große und im Gesicht tief angeordnete Augen sowie ein kleiner Nasen- und Kinnbereich.
Je älter ein Mensch wird, desto mehr gehen die Merkmale des Kindchenschemas verloren.
Illustration: Maria Zimbal
„Jedoch sind einige extremere Variationen von Lolicon-Manga eindeutig pädophile Pornografie”, meint Galbraith. Einige Nichtegierungsorganisationen, wie etwa Jugendschutz.net, deuten auf eine Verbindung zwischen Lolicon und sozialen Problemen, wie sexuellem Missbrauch, hin.
Lolicon ist in Deutschland illegal
Die Produktion, Verbreitung und der Besitz von Missbrauchsdarstellungen ist gemäß § 184b StGB in der Bundesrepublik Deutschland strafbar.
Unter den Kinderpornografiebegriff zählen
explizite sexuelle Handlungen zwischen oder mit Kindern,
Bilder eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung
und die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien
oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes.
Christian Meeser
Mitarbeiter der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM)
Für virtuelle – also fiktive, nicht reale – Darstellungen gelten dieselben Maßstäbe wie für reale Darstellungen. Sie sind ebenfalls illegal. Laut der BPjM ist Lolicon eine solche virtuelle Darstellung von Kindesmissbrauch. Vor allem bei dieser Art von Content existiert eine Grauzone. Bei Zeichnungen lässt sich das Alter des Charakters nicht immer eindeutig erkennen. Ob Kinder nur teilweise bekleidet oder unnatürlich geschlechtsbetont dargestellt werden, hängt davon ab, wie man das Bild interpretiert.
Bei realen kinderpornografischen Darstellungen ist der eigentliche Zweck des Gesetzes die Vermeidung von Missbrauchsfällen. Das Verbot in Bezug auf virtuelle Darstellungen lässt sich damit begründen, dass vermieden werden soll, dass das Verlangen nach sexuellem Kontakt mit einem Kind verstärkt wird. Inwiefern aber der Konsum von Lolicon dies tatsächlich erreichen kann, ist nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung unklar.
Lolicon und seine Regulierung in Japan
In Japan sind laut Time jegliche Inhalte, bei denen reale Kinder zu Schaden kommen, illegal. Anime und Manga sind jedoch nicht real. Die Handlungen sind fiktiv und können keinem Kind direkt Schaden zufügen.
Wenn jemand sagt: ‚Mir gefällt dieser Anime-Charakter‘, dann ist das etwas komplett anderes, als wenn man sagt, man spüre Verlangen für ein minderjähriges Mädchen, das man kontrollieren,
misshandeln und besitzen möchte.
Patrick W. Galbraith
Dozent an der School of Law der Senshū Universität in Tokio
Tatsächlich existierten keine Daten, die beweisen könnten, dass ein Zusammenhang zwischen der Misshandlung realer Kinder und dem Konsum von Lolicon bestehe, bestätigt Galbraith. Um Lolicon verbieten zu können, müsse zuerst bewiesen werden, dass bei der Produktion oder dem Konsum dieses Contents jemand zu Schaden kommt, erklärt er.
Unterstützer einer Petition sehen ein Missbrauchspotential durch Lolicon, weshalb diese Art von Inhalten aus ihrer Sicht reguliert werden solle. Manga-Fans in Japan stellen sich laut BBC gegen diese Aussage, da sie der Meinung sind, man könne Inhalte nicht wegen dieses bloßen Potentials regulieren. Täte man dies im Bereich des Lolicon-Contents, so öffne es das Tor zur Regulierung anderer Arten von Anime und Manga. Dies schränke die Freiheit der Meinungsäußerung massiv ein.
Galbraith meint im Interview mit medienMITTWEIDA zur Diskussion, ob Lolicon abgeschafft werden solle: „Wenn noch keine Straftat besteht und man sich die Straftat vorstellen muss, um jemanden zu bestrafen – das ist gefährliches Territorium.“
Die japanische Regierung hatte bereits versucht, Lolicon zu regulieren, spürte aber Druck aus der Bevölkerung. Die Japaner schätzen die Meinungsfreiheit in der Anime- und Manga-Industrie sehr. In ihr sehen sie absolute kreative Freiheit und einen realen Ausdruck freier Kultur, erwähnt Galbraith.
Eine Verbindung zwischen Lolicon und Pädophilie zu erwägen, ist wichtig. Aber nehme man das direkt an, würde man all die Debatten, die in diesem Land momentan passieren, überhören.
Patrick W. Galbraith
Text, Titelbild und Illustration: Maria Zimbal