Reinhold Messner ist der wohl bekannteste Bergsteiger der Welt. Der 75-Jährige hat als erster Mensch überhaupt den Gipfel des Mount Everests ohne Sauerstoff erreicht und alle vierzehn Achttausender-Berge bestiegen. Neben seiner Tätigkeit als Bergsteiger war er auch als Regionalpolitiker aktiv, ist mittlerweile Buchautor und hält Vorträge. Im Interview mit medienMITTWEIDA spricht er über Massentourismus, Schicksalsmomente und Nahtoderfahrungen.
Herr Messner, Sie haben als einer der ersten zwei Menschen den Gipfel des Mount Everests ohne die Zuhilfenahme von Sauerstoff erreicht. Viele Menschen sehen Sie als Legende. Wie legendär sehen Sie sich selbst?
Reinhold Messner: Überhaupt nicht. Ich bin ein ganz normaler Mensch, der im Hier und Jetzt lebt. Die Geschichte, die inzwischen ja fast 40 Jahre her ist, bleibt natürlich immer ein Teil meiner Biografie, ist aber nicht das, was mich ausmacht. Es ist ein kleiner Teil meines Lebens und war eine weitere Erkenntnis für mich, was alles möglich sein kann.
Trotzdem haben Sie sich auch einer Menge Gefahren ausgesetzt. Was hat Sie damals angetrieben, dieses Wagnis auf sich zu nehmen?
Messner: Uns war natürlich klar, dass es gefährlich werden würde. Aber ich habe ja vorher schon drei Achttausender-Berge bestiegen, über neue Routen und schwierige Wege. Ich wusste also schon einigermaßen, wie sich der menschliche Körper in dieser Höhe verhält. Rein klettertechnisch ist der Everest-Aufstieg im oberen Teil auch nicht schwierig. Als guter Kletterer fällt man da nicht einfach runter. Aber natürlich wusste man nicht, wie sich die physiologischen Fähigkeiten des Menschen auf einer Höhe von über 8500 Meter verhalten. Das war offen. Ein Hype ist aus dieser Geschichte nur geworden, weil sich im Vorfeld Hunderte von Ärzten und Psychologen sowie Tausende von Alpinisten geäußert haben: Unser Vorhaben sei unmöglich. Dadurch entstand der Wirbel, da wir das Unmögliche möglich gemacht haben. Da staunten plötzlich alle Leute. Aber das Unmögliche haben andere definiert, nicht wir. Wir haben ein Exempel statuiert.
Sie haben gerade den Hype angesprochen, der entstanden ist. Heutzutage gibt es Bilder von Menschenmassen, die den Mount Everest besteigen. Ist das heute überhaupt noch etwas Besonderes?
Messner: Das hängt ganz davon ab, wie jemand das macht. Es ist heute immer noch möglich, am Mount Everest absolute Pionierarbeit zu leisten. Alleine eine neue Route zu nehmen oder im Winter aufzusteigen würde bedeuten, dass eine neue Dimension erreicht ist. Wichtig ist das Wie. Wissen Sie, wie Aufstiege heutzutage stattfinden? Heute gehen 100 einheimische Sherpas (Helfer) einen Monat vor dem Klienten – Bergsteiger kann man die ja nicht mehr nennen – zum Everest und bauen eine fertige Piste. Diese ist vom Basislager bis zum Gipfel eingerichtet. Da gibt es fixe Seile, Leitern und Brücken. In den Lagern befinden sich Köche, Ärzte, Betreuer und Psychologen. Das kostet insgesamt Millionen von Dollar. Die Touristen gehen dann die Piste hoch, wie ein Junge an der Hand seiner Mutter. Das ist Tourismus der übelsten Sorte. Trotzdem glauben all diese Leute dann, sie hätten den Everest bestiegen.
Messner hat alle 8000er Berge weltweit bestiegen. Bild: Reinhold Messner Archiv
Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie absolut kein Fan davon sind, All-Inclusive Abenteuerreisen im Reisebüro zu buchen?
Messner: Nein, ich würde das selbst dann nicht tun, wenn man mir Geld dafür gibt. Die meisten Menschen geben auch generell viel zu viel Geld aus. Teilweise werden 100.000 Euro pro Person gezahlt, um auf den Everest zu kommen. Ich würde das nie tun. Natürlich würde ich den Aufstieg auch noch schaffen mit meinen 75 Jahren, wenn vorne zwei Sherpas ziehen und von hinten drei schieben. Das ist aber etwas ganz anderes, als zu der Zeit, als Peter Haberer und ich auf 8000 Meter Höhe völlig auf uns allein gestellt waren. Wir liefen los, Sturm, minus 40 Grad und wir wussten, wenn wir einen kleinen Fehler machen, dann sind wir tot.
Was raten Sie jungen Menschen, die, ähnlich wie Sie damals, die Wildnis, das Unberührte entdecken möchten?
Messner: Es gibt noch Millionen von unbestiegenen Bergen. Bestimmt 99,9 Prozent aller Berge auf der Welt sind jetzt unberührt. Aber nur zu den restlichen 20, da wollen alle hin. Die Menschen sind in diesem Zusammenhang einfach Selbstbetrüger. Alle streben den berühmten Bergen zu, die einen Namen haben. Die gehen zum Mont Blanc, auf den Everest, zum Matterhorn. Aber Berge, die keinen großen Namen haben, sind nicht attraktiv genug. Es ist umständlich dorthin zu kommen, man weiß nicht, wie man wieder heimkommt. Das ist wahres Abenteuer und das ist immer noch möglich. Es soll mir ja keiner sagen, dass es keine Abenteuer mehr geben kann. Ich muss nur über den Gartenzaun hüpfen, die Zivilisation verlassen und in die Wildnis gehen. Aber die Wildnis macht Angst, die Wildnis ist kompliziert, die Wildnis ist unerbittlich. Das schreckt die meisten ab.
Das heißt, der originale Alpinismus findet für Sie nur dort statt, wo sich außer Ihnen niemand befindet?
Messner: Genau. Der echte Alpinist geht dorthin, wo er auf sich selbst gestellt ist. Das heißt, wo die anderen nicht sind. Das bedeutet nicht, dass davor noch keiner dagewesen sein darf. Das macht nichts, die Spuren sind von der Natur ohnehin längst beseitigt. Die Herausforderung ist, sich den Weg selbst zu bahnen. Sobald ich eine Spur habe, bin ich nicht mehr in der Wildnis. Es ist schon mit dem Handy schwierig. Solange ich ein Handy benutzen kann, erlebe ich nicht mehr das echte, originale Abenteuer. Ich habe vier Grundsätze, die allerdings nur für mich gelten: Kein künstlicher Sauerstoff, keine Bohrhaken, keine Kommunikation nach außen und keine Drogen. Wenn Sie heutzutage ins Basislager des Everests gehen, da wird gedopt wie zu den besten Zeiten der Tour de France.
Glauben Sie, dass Sie als Vorreiter den Hype um den Everest erst befeuert haben?
Messner: Nein, ich habe das Gegenteil getan von dem, was heute beliebt ist. Ich bin nach meinen Regeln und Haltungen aufgestiegen. Nie hat in meinem Leben ein Sherpa einen Fuß in den Schnee gesetzt, ohne, dass ich nicht schon dort gewesen wäre. Wir hatten nie irgendwelche Trupps, die wir als Wasserträger vorausgeschickt haben. Ich bin sozusagen mit gutem Beispiel, was meine Haltung als Alpinist angeht, vorangegangen. Und nur wenige sind meinem Beispiel gefolgt. Es gibt einige wenige, großartige Alpinisten, die wie ich in die Wildnis gegangen sind und auf sich selbst gestellt waren. Und das unter großen Gefahren. Jeder Zweite von denen stirbt leider irgendwo im Gebirge, das kann ich zwar nicht vertreten, aber auch nicht verbieten. Das Ganze, was ich getan habe, ist im Grunde kaum vertretbar. Ich habe immer betont, das kann nur jeder Einzelne für sich selbst entscheiden. Nach außen, also Eltern, Frau und Kindern gegenüber, ist es nicht tragbar.
Messner hat die alpine Kletterkunst auf ein neues Level gehoben. Foto: Reinhold Messner Archiv
Ihr Bruder ist vor circa 50 Jahren verunglückt. Denken Sie noch oft an ihn?
Messner: Ja, mein Bruder ist präsent und allgegenwärtig in meinem Leben. Ich brauche nur in die Dolomiten zu gehen, und ich sehe uns beide in meiner Erinnerung vor 50 Jahren in dieser oder jener Wand. Er ist so jung geblieben, wie er war, ich bin inzwischen ein alter Herr geworden. Ein Mensch ist erst von der Bildfläche verschwunden, wenn keiner mehr an ihn denkt. Mein Bruder ist lebendig, nicht nur in meinem Kopf, sondern auch bei vielen anderen Menschen.
Würden Sie sagen, sein Tod hat etwas an Ihrer Lebenseinstellung geändert?
Messner: Nicht an meiner Lebenseinstellung, aber dafür an meiner Haltung den Bergen gegenüber. Ich gebe gerne zu, auch selbstkritisch, dass wir uns vor unserem Aufstieg als unverwundbar gesehen haben. Je besser man klettert und je mehr Erfahrung man hat, desto eher denkt man, dass man alles schafft, weil man es kann. Wir hatten beide Partner, die ums Leben gekommen sind. Aber immer wenn wir zusammen geklettert sind, kamen wir heil zurück. Wir hatten zusammen das Gefühl, dass wir alles zu 100 Prozent im Griff haben. Und von einer Sekunde zur nächsten war er tot. Verschwunden unter einer Lawine. Es ging so schnell. Und da war auch nichts mehr zu machen, in so einer Situation darf man den Kopf nicht verlieren.
Beim Extrembergsteigen ist man einer ständigen Gefahr ausgesetzt. Wie oft sind Sie selbst dem Tod von der Schippe gesprungen?
Messner: Man springt dem Tod nicht von der Schippe, sondern ist bereit dazu, sich in den Tod fallen zu lassen. Mein Bruder hatte die Eisbrocken auch schon Sekunden davor gehört und wusste, er konnte nicht mehr ausweichen. Für mich war das eine tragische Erkenntnis, aber das bedeutete nicht, dass ich dann auch bereit war, zu sterben. Ich habe versucht, ihn zu finden, aber konnte ihn nicht ausgraben und habe dann ganz instinktiv versucht, mein Leben ins Tal zu retten. Und erst durch die Erschöpfung, dann durch die Verzweiflung, wusste ich nicht, ob ich in meinem Leben je wieder Menschen sehen würde. Ich habe das Beinahe-Sterben erlebt, also Nahtoderlebnisse gehabt. Ich war im Grunde bereit, mich aufzugeben. Aber immer dann, wenn sich wieder so viel Energie gebildet hatte, dass ich gerade ein paar Schritte machen konnte, habe ich postwendend und ganz instinktiv versucht, die nächsten Schritte zu gehen und vorwärts zu kommen. Das sind die interessanten Dinge, die wir zu erzählen haben: Was passiert eigentlich mit unserem Selbsterhaltungstrieb, mit unserem Ehrgeiz, mit unserer Angst und unserer Hoffnungslosigkeit, wenn wir uns diesen Dimensionen des Abenteuers stellen?
Abschließend: Es ist gut 40 Jahre her, dass Sie den Everest ohne Sauerstoffzufuhr bestiegen haben. Geht Ihnen zumindest heutzutage manchmal die Puste aus?
Messner: Ich bin der Erste, der einsieht, dass er älter geworden ist. Ich bin ungeschickter geworden. Schnellkraft, Geschicklichkeit und Ausdauer sind auch nicht mehr die Besten. Wenn ich einen steilen Berg hinaufsteige, geht mir relativ schnell die Puste aus. Ich gehe trotzdem weiterhin ins Gebirge. Ich war gerade im Himalaja einen ganzen Monat lang, sehr hoch oben. Bei einer Expedition geht man morgens auf allen Vieren aus dem Zelt in den Schnee hinaus. Das ist eine ganz andere Welt als die Zivilisation, aber ich ertrage sie noch. Wenn ich eines Tages am Morgen nicht mehr in der Lage bin, aus meinem Zelt herauszukriechen und mir draußen an der Eiswasserstelle die Zähne zu putzen, dann weiß ich, dass Schluss ist. Aber noch ist mir das möglich und ich genieße es.
In Kürze: Teil 2 . Reinhold Messner spricht über den Klimaschutz und erklärt, warum er Bewegungen wie Fridays-for-Future für gefährlich hält.
Text: Niklas Niendorf, Titelbild: Armin Huber, Fotos: Reinhold Messner Archiv