Der Kofferraum wird ruckartig aufgestoßen und eine lange Nacht beginnt. Die beiden ehrenamtlichen Helfer packen Isomatten, Schlafsäcke, Pullover, Socken und Desinfektionsspray in den blauen Kleinbus. Die Türen des Neunsitzers knallen zu und klackende Autogurte werden vom aufheulenden Motor übertönt. Dann fahren sie los, in die eisig kalte Innenstadt von Berlin. In dieser Nacht werden sie Obdachlose vor dem Erfrieren retten.
Yannick Büchle und Lars Nitz fahren einmal pro Woche mit dem sogenannten Kältebus durch Berlin. Gemeinsam arbeiten sie ehrenamtlich für die Berliner Stadtmission. „Die primäre Aufgabe ist es, Obdachlose, die es selbst nicht mehr schaffen, einzusammeln und in unsere Notunterkünfte zu bringen. Dort erwartet sie ein warmes Bett, eine Dusche, Essen und ärztliche Versorgung“, erklärt der 24-Jährige Yannick. Die Berliner Stadtmission besitzt insgesamt vier Notunterkünfte, in denen etwa 300 Menschen übernachten können. Diese seien so gut wie immer auch voll besetzt.
Im Aufenthaltsraum der Notübernachtung der Berliner Stadtmission riecht es nach Brezeln und Vanillegebäck. Um 20:30 Uhr versammeln sich hier etwa 30 Menschen und halten eine Andacht, bevor es für vier von ihnen in zwei Kältebussen auf die Straße geht. Die anderen Mitarbeiter bereiten das Essen vor, richten die Schlafsäle her und empfangen ab 21:00 Uhr die ersten Obdachlosen in der Unterkunft. „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft auf seiner Schulter.“ Während eine Frau mittleren Alters diesen Bibelvers vorliest, starren die Helfer andächtig zu Boden. Die gleiche Andacht wird die Seelsorgerin den eingetroffenen Besuchern später ebenfalls vorlesen. Die Berliner Stadtmission ist eine evangelische Organisation, erklärt Yannick. Wenngleich nicht alle Helfer gläubig seien, gebe vielen von ihnen diese Andacht noch einmal Kraft und Zuversicht für eine anstrengende Nacht.
Vom 1. November bis zum 31. März des darauffolgenden Jahres fährt der Kältebus durch Berlin. Foto: Kältebus Berlin Facebook
Was für einer soll’n kommen? Ein Mensch!
Um 21:00 Uhr ist es dann soweit. Der 26-jährige Lars setzt sich ans Steuer und es kann losgehen. In den ersten Minuten kommt noch kein Anruf, während sich der blaue Bus geräuschlos durch die ruhige und gleichzeitig unübersichtliche Innenstadt schlängelt. Es ist surreal: Während ein alter Bus durch die Innenstadt fährt, um Menschen vor dem Tod zu bewahren, vergnügen sich champagnertrinkende Genießer in einer glänzenden Limousine. Die einen hoffen, heute Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben, während sich die anderen fragen, in welchen Luxus-Club sie heute Abend gehen werden. Um 21:15 klingelt plötzlich das Telefon. Fast schon froh über den ersten Einsatz greift Yannick zum Hörer. Ein älterer Mann in einem naheliegenden Krankenhaus werde jetzt entlassen, habe allerdings keinen Ort, wo er die Nacht verbringen könne. „Das kommt oft vor“, meint Lars. „Krankenhäuser rufen uns häufig an, wenn Obdachlose entlassen werden. Sie haben meistens das Ziel, die so schnell wie möglich wieder los zu werden. Teilweise setzen sie die bei minus fünf Grad um 12:00 Uhr nachts aus und denken, da werde sich schon jemand drum kümmern. Da appellieren wir dann auch oft an die Menschlichkeit, sie doch eine Nacht länger dazubehalten.“
Nach etwa 15 Minuten Fahrt erreicht der Kältebus das Krankenhaus und eine Krankenschwester im roten Kittel empfängt die beiden Helfer. „Wir haben hier einen für euch. Wir müssen ihn heute entlassen und wollen, dass er ein Dach über dem Kopf hat.” Als Yannick das Krankenzimmer betritt, folgt noch der Nachhall der Schwester, dass der Mann zeitweise latente Aggressivität an den Tag gelegt habe. Das Zimmer ist weiß und bis auf einen kleinen Nachttisch neben dem Krankenhausbett komplett kahl. Inmitten der sterilen Umgebung liegt ein alter Mann mit zerzausten, grauen Haaren und faltiger Haut. Es riecht nach Urin. An ihm sind mehrere Katheter angeschlossen. Yannick redet langsam und verständlich mit Giovanni (Name von der Redaktion geändert) und erklärt ihm, wo sie ihn hinbringen können. Seine schwarzen Schuhe haben keine Sohle mehr und gleichen Stofffetzen. Nach anfänglichem Zögern willigt Giovanni schließlich ein und begleitet Yannick zum Bus. Er muss beim Laufen unterstützt werden und erzählt, dass er in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen sei. Er komme ursprünglich aus Südtirol und habe sich hier Hoffnungen auf ein besseres Leben gemacht.
So redselig er auf dem Weg auch war, so schnell schlief er im Bus ein. Von hinten war nur noch ein lautes Schnaufen zu hören. In der Nähe des Krankenhauses befindet sich eine Notunterkunft, zu der sie ihn bringen. An der Pforte erkundigt sich Yannick nach freien Plätzen und wird gefragt: „Was für einer soll’n kommen?“ – „Ein Mensch!“, antwortet Yannick etwas entrüstet. Dann klärt sich, dass die Frage bloß gestellt wurde, da die Unterkunft nicht rollstuhlgerecht ist und sich deshalb nicht für alle eignet. Für Giovanni kein Problem: Er kann von der Unterkunft aufgenommen werden und hat zumindest für diese Nacht ein Dach über dem Kopf. Auf dem Weg zurück erklärt Yannick: „Einige Heimleiter klassifizieren die Menschen und sagen etwas wie ,Der stinkt zu sehr‘ oder ,Der hat einen zu schwierigen Charakter‘ und lehnen dann ab. So etwas kann ich gar nicht leiden. Das sind alles bloß Menschen und jeder hat das Recht, auch so behandelt zu werden.“
Die Reaktionen der Obdachlosen auf das Hilfsangebot sind sehr unterschiedlich. Foto: Kältebus Berlin Facebook
Zappzarapp – Alles weg
Ziemlich schnell erreicht den mittlerweile gefragten Bus der nächste Anruf. Eine Passantin meldet einen Obdachlosen unter einer Brücke in Charlottenburg. Lars weiß direkt, wo die Brücke ist. Sie sei ein beliebter Ort für Obdachlose zum Schlafen. „Das letzte Mal als ich dort war, lag ein verwahrloster Mann in der Ecke. Als ich ihn aufwecken wollte, sprang eine Ratte aus seinem Schlafsack”, erzählt Lars. Die hygienischen Zustände seien in vielen Fällen katastrophal. Neben Läusebefall sei auch Hepatitis und die hochansteckende Tuberkulose ein Problem. Viele der Obdachlosen würden auch wochenlang nicht duschen. „Aus Ansteckungsgefahr werden deshalb alle Obdachlosen vor dem Betreten der Notunterkunft kurz ärztlich untersucht.“ Yannick und Lars hätten sich bisher aber noch nie angesteckt. Nach einigen Minuten erreicht der Mercedes Vito das Ziel. Als die beiden aussteigen, sehen sie einen Mann mittleren Alters, der sich seine eigene kleine Festung gebaut hat. Mit durchweichten Pappkartons hat er sich eine provisorische Isomatte gebastelt und ist in mehrere, faserige Decken eingewickelt.
Auf einem kleinen Tisch vor ihm liegt ein brauner Teddybär, der mit seinen runden Kulleraugen den Anschein von Unschuldigkeit erweckt. Daneben steht ein roter Schokoladennikolaus und dazwischen ein kleiner Pappbecher zum Geldsammeln. Der Becher ist spärlich mit Kupfermünzen gefüllt. Schon jetzt wissen die beiden Helfer, dass sie ihn heute nicht zum Mitfahren bewegen können. „Wenn jemand so ausgestattet ist und so viele Dinge bei sich trägt, kann man ihn so gut wie nie zum Mitnehmen überreden“, erklärt Lars später. Und das soll sich bewahrheiten. Als die beiden Studenten den Mann auf Deutsch ansprechen, lächelt dieser sie zwar freundlich an, erwidert aber nichts.
Dann hat Yannick eine andere Idee: „Cześć, jestem Yannick“, versucht er auf Polnisch sein Glück. Und Yannick hat Erfolg, der Mann versteht ihn. „Zappzarapp“, so Piotr (Name von der Redaktion geändert) auf Polnisch. Alle seine Sachen seien ihm vor einiger Zeit gestohlen worden. Er habe sich aber nach und nach wieder eingerichtet und wolle seinen Platz jetzt nicht verlassen. Yannick und Lars verstehen das, diese Situation komme oft vor. Trotzdem holen sie ihm eine neue Isomatte und schenken ihm heißen Kaffee in einen Pappbecher ein. Der Mann umklammert mit seinen kleinen Händen das Heißgetränk und bedankt sich mehrfach überschwänglich. Zurück im Bus erklärt Yannick, er habe vor etwa einem Jahr die Grundlagen der polnischen Sprache gelernt, um mehr Leute verstehen zu können. „Von Natur aus sind die meisten Obdachlosen erst einmal misstrauische Personen, da ihnen in ihrem Leben schon so viel Scheiße passiert ist, das ist unglaublich. Wenn man sich aber auf ihrer Sprache mit ihnen unterhalten kann, wenn auch nur bruchstückhaft, kann das oftmals schon das Eis brechen und man kommt mit den Leuten ins Gespräch“, erklärt Yannick.
Die Initiative wird von der Stadt Berlin mitfinanziert und durch Spenden getragen. Foto: Kältebus Berlin Facebook
„Die Ablehnung hat oft etwas mit falschem Stolz zu tun“
Yannick und Lars gehen mit den Menschen respektvoll und einfühlsam um. Trotz ihres zeitintensiven Studiums ist es ihnen wichtig, sich ehrenamtlich für die Schwächsten zu engagieren: „Man sieht hier zwar wirklich den Abgrund und erlebt wahnsinnig viel Leid, aber die schönen Momente entschädigen einen. Wenn eine hilfsbedürftige Frau wegen einer Jacke für die Nacht zu Tränen gerührt ist oder ein Männertrio, das seit etlichen Jahren mal wieder ihr Lieblingslied aus der Heimat im Autoradio hört, sich plötzlich überglücklich in den Armen liegt, dann weiß man, warum man das macht“, lässt Lars seinen Blick zurück in die Vergangenheit schweifen.
Mittlerweile klingelt das Handy am laufenden Band und die beiden Helfer müssen festlegen, welche Fälle höhere Prioritäten haben. Gegen 0:00 Uhr wird der Bus dann in die Nähe der Friedrichstraße nach Berlin-Mitte gerufen. Ein jüngerer Mann vor den Treppen eines S-Bahnhofes liegt spärlich, obenrum nur mit Sweatshirt bekleidet, auf dem nackten Boden. Als sie den Mann ansprechen wollen, reagiert dieser sehr abweisend. Er schafft es nicht, seinen Kopf vom nassen Asphalt zu heben und murmelt monoton und mühselig, dass er seine Ruhe haben will. Und in eine Notunterkunft gehen? Das würde gar nicht in Frage kommen. Das kann mehrere Gründe haben, wie die beiden wissen: „Zuerst einmal gibt es in den Unterkünften ein strenges Alkohol-, Drogen – und Waffenverbot. Außerdem werden sie gegen 7:00 Uhr wieder geweckt und müssen spätestens um Acht die Unterkunft wieder verlassen. Hinzu kommt noch, dass sich die Obdachlosen meist noch mit sieben anderen Menschen einen Schlafsaal teilen müssen. Sie hängen also die Nacht über auf engem Raum zusammen. Das sind viele einfach nicht mehr gewöhnt. Es kommt ab und an zu Auseinandersetzungen und viele haben auch einfach Angst, dass sie bestohlen werden“, gibt Lars einen Einblick. Sie versuchen, den leicht bekleideten Mann zu überreden, zählen ihm Vorteile und Möglichkeiten auf, aber er lässt sich nicht überzeugen. Auch einen angebotenen Schlafsack oder ein heißes Getränk lehnt er ab.
„Die Ablehnung hat oft etwas mit falschem Stolz zu tun”, so Lars. Mit hängenden Schultern kehren die beiden zum Bus zurück. Man könne nicht allen helfen, das sei wichtig, um die Motivation nicht zu verlieren. Die Stille auf den Straßen Berlins hat sich mittlerweile auch auf das Innere des Busses übertragen. Jedes Klingeln wirkt wie ein schriller Weckruf, dass die Nacht noch nicht vorbei ist. Um 2:45 Uhr hält der Bus ein letztes Mal an. Aber nicht, um einen Obdachlosen einzusammeln. Er hält vor einer Currywurstbude nahe Bahnhof Zoo. Und während die beiden eine deftige Currywurst mit Pommes essen, der Dampf in den Berliner Nachthimmel zieht und es nach Frittenfett riecht, unterhalten sie sich. Über die Nacht, das Leid, das sie gesehen haben und was ihnen auf dem Herzen liegt. „Es ist enorm wichtig, dass man sich über das Gesehene unterhält. Man darf das Leid und das Elend nicht totschweigen. Das zerfrisst einen. Man muss sich austauschen und erzählen, was einen bedrückt“, erklärt Yannick während er über seine Pommes herfällt. Danach kehrt der Bus zurück zum Hauptsitz der Berliner Stadtmission in das Zentrum Berlins. Lars klettert nach hinten und reinigt die Sitze mit Desinfektionsspray. Während einem der künstliche Geruch von Alkohol in die Atemwege steigt, sieht man in Yannicks und Lars Gesichtern zwei erschöpfte, aber zufriedene Menschen.
Die Schicht für die beiden ist vorbei. Morgen werden zwei andere Helfer den Bus fahren, um Obdachlose vor dem Erfrieren zu retten – Um den Menschen eine Stimme zu schenken, die sonst nicht gehört werden und denen zu helfen, die sonst keine Hilfe bekommen.
Text: Niklas Niendorf, Titelbild und Fotos: Kältebus Berlin Facebook