Drei Teams, ein Preis. Neun Jahre Arbeit sollen heute mit 250.000 Euro belohnt werden. Mit der Verkündung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht es fest: Der Deutsche Zukunftspreis 2019 geht an die Celonis GmbH. Unter tosendem Applaus nehmen die drei Gründer ihre Auszeichnung entgegen: Bastian Nominacher, Martin Klenk und Alexander Rinke hätten sich diesen Sieg zu Beginn des Projektes nie erträumen lassen.
Das 2011 an der Technischen Universität München gegründete Digitalunternehmen überzeugte die Jury mit seiner gleichnamigen Process-Mining-Software. Automatisiert analysiert „Celonis“ Unternehmensabläufe und visualisiert diese in Echtzeit. Durch die geschaffene Transparenz wird eine zielgenaue Optimierung von Prozessen möglich.
Process Mining
Process Mining ist ein Forschungsbereich, der 1999 von dem niederländischen Informatiker Prof. Dr. Wil van der Aalst begründet wurde. Dieser stellt eine Verbindung von Data-Mining und Prozessmanagement her. Durch das Ausführen digitaler Programme werden Datenspuren hinterlassen, sogenannte Event Logs beziehungsweise Logfiles. Ein Process-Mining-Programm sammelt diese Daten automatisch von allen Endgeräten, die in einem Unternehmen genutzt werden und erstellt eine genaue Replika von allen Geschäftsprozessen. Diese können individuell betrachtet und mit dem theoretischen Ablauf verglichen werden, um Fehlerquellen zu identifizieren und zu beseitigen.
Das daraus entstehende Potenzial zur Effizienzsteigerung lockte schon frühzeitig zahlreiche Kunden an, unter anderem Bayer, Siemens und den Bayerischer Rundfunk. 2015 wird das Programm „Celonis” über Software-Gigant SAP weltweit angeboten – eine erstmalige Begebenheit für ein Start-Up Unternehmen. Auch internationale Investoren lassen nicht lange auf sich warten. Im folgenden Jahr investieren Accel und 83North insgesamt 27,5 Millionen US-Dollar in das Unternehmen und dabei soll es nicht bleiben. Nach einer weiteren Investitionsrunde der beiden Partner wird „Celonis“ mit 50 Millionen US-Dollar finanziert. Damit wird die Celonis GmbH zum neuesten Einhorn Deutschlands.
Einhörner in Deutschland
Aus ökonomischer Sicht ist ein Einhorn ein Start-Up-Unternehmen, das eine Marktbewertung von einer Milliarde US-Dollar überschreitet ohne vorhergehenden Börsengang oder Exit. Ihren Namen verlieh ihnen US-Investorin Aileen Lee im Jahr 2013. Zu dieser Zeit waren solche Unternehmen so rar wie das namensgebende Fabelwesen, weltweit sind nur 39 zu diesem Status aufgestiegen. Nach Angaben des Hurun Research Institute existieren 2019 weltweit 494 Einhörner.
Exit
„[Der Exit ist ein] geplanter Ausstieg von Private-Equity- oder Venture-Capital-Gesellschaften aus einer Beteiligungsanlage zur Realisierung einer finanziellen Rendite.” – Gabler Wirtschaftslexikon
Einfacher gesagt: Die Anteile der Geldgeber am Unternehmen haben mit dem Wachstum des Unternehmens an Wert gewonnen. Um den Investitionswert und Gewinn finanziell ausgezahlt bekommen zu können, müssen die Anteile verkauft werden. Im Falle eines Wertverlustes können die Investitionswerte durch den Verkauf aller Unternehmenseigentümer (Liquidierung) zurückgezahlt werden.
Mit dem Newcomer Celonis GmbH existieren, laut einer Statistik von Datenjournalist Mathias Brandt mit Daten der FAZ und CB Insights Stand 2019, insgesamt neun Einhörner in Deutschland. Bis auf ein der Unternehmen (CureVac) arbeiten alle branchenübergreifend im Bereich der digitalen Dienstleistungen.
Liste der Einhörner in Deutschland (Stand 2019) geordnet nach höchster Marktbewertung.
Grafik: Anna Marie Gorski mit Material von Statista.
Erfolgreich sind die Unternehmen schon jetzt, aber wie erfolgreich können sie werden? Kann in Deutschland ein Digitalunternehmen wachsen, das die Erfolgsgeschichte von Google, Amazon und Co wiederholt?
Deutschland im internationalen Vergleich
Um sich von einem Start-Up-Unternehmen zu einem milliardenschweren Konzern zu entwickeln, gibt es keine universell anwendbare Zehn-Schritte-Anleitung. Trotzdem scheint Innovation in anderen Teilen der Welt leichter zu fallen als in Deutschland. Im internationalen Ranking schafft es Deutschland auf Platz fünf der Nationen mit den meisten Einhörnern. Von außen betrachtet ist das eine solide Platzierung, beim genaueren Hinsehen wird allerdings ein enormer Bruch sichtbar. Mit nur drei Rängen Abstand findet sich auf Platz zwei die USA – mit 203 Einhörnern. Ein derartiger Unterschied kann nicht nur allein an der Landesgröße liegen. Was macht die USA anders?
Die Idee ist da, das Team hoch motiviert und doch fehlt etwas: das Geld. So geht es vielen Start-Up-Unternehmen in Deutschland, denn die Investitionssummen von Wagniskapitalgebern (Venture Capital) fallen im internationalen Vergleich gering aus. 2017 wurden in den USA laut der Studie „Treibstoff Venture Capital“ insgesamt 63,8 Milliarden Euro investiert. In Deutschland beläuft sich das Gesamtvolumen auf ca. 1,1 Milliarden Euro. Um die Finanzierung zu erleichtern, gibt es zusätzlich im Bereich der staatlichen Förderungen ein umfangreiches Angebot. Jedoch sind die Hürden auf Bundes- und Länderebene laut Gründern zu hoch. Durch den bürokratischen Aufwand, der mit einer Bewerbung auf eine Förderung einhergeht, verzichtet ein Drittel der Jungunternehmer gänzlich darauf, Fördermittel zu beantragen. Es fehle an Zeit und Personal, um die geforderten Unterlagen zu erstellen beziehungsweise auszufüllen. Für alle anderen heißt es Daumen drücken, denn nur jeder zweite Bewerber erhält tatsächlich eine Finanzspritze.
Deutschland hinkt hinterher, vereinfachten Start-Up-Gründungen, Investitionen und Innovation den rechtlichen Weg zu ebenen. Über zwei Jahre nach Verabschiedung des Koalitionsvertrages, der digitalen Agenda und Hightech-Strategie sind acht von 30 Punkten für den Ausbau der Start-Up-Politik vollständig umgesetzt worden. Ein Drittel blieb gänzlich unberührt. Die damit bestehen bleibenden Markteintrittsbarrieren erschweren die Gründung in Deutschland im Vergleich zu anderen Nationen. Zusätzlich birgt die Trägheit der politischen Landschaft ein weiteres Problem. Dass bisher eine wettbewerbsfähige digitale Infrastruktur fehlt, erschwert die Arbeitsbedingungen für digitale Unternehmen und macht Deutschland als Gründungsland für ausländische Gründer unattraktiv.
Die Ursache des Abstandes zu den USA kann auch kulturell begründet werden. Laut einer Studie der Universität Hohenheim fürchten sich Deutsche, durch den in der Kultur verankerten Perfektionismus und die Leistungsgesellschaft, vor dem Scheitern – besonders im unternehmerischen Kontext. Benachteiligungen bei Banken bei erneuter Unternehmensgründung, lange Insolvenzverfahren und gesellschaftliche Ächtung – wer scheitert, sollte keine Toleranz erwarten. Allerdings gibt es ohne Mut auch keine Innovation. In den USA muss sich kein Jungunternehmer fragen, ob er sich nach einem Misserfolg bei der nächsten Familienfeier sehen lassen darf. Die dort vorherrschende „Kultur des Scheiterns“ verfolgt den Ansatz, dass die negativen Erfahrungen zu einem Lerneffekt führen und somit zukünftig Fehler vermieden werden können. Diese Mentalität ermöglicht es, unbeschwerter Risiken einzugehen und auch nach einem gescheiterten Versuch neu zu beginnen. „Hinfallen, aufstehen, weitermachen” wird hier gelebt und das nicht nur auf einem Autoaufkleber.
Bedingungen für Start-Ups verbessern
Um langfristig im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, muss Deutschland dynamischer, offener und risikofreudiger werden. Der Wunsch, ein Produkt erst zu perfektionieren, um die Chance des Scheiterns vollständig zu eliminieren, lähmt die Entwicklung. „Unternehmen müssen die vielen Dimensionen der Neugier kulturell und systematisch fördern, um mehr Innovationen und, letztendlich, nachhaltiges Zukunftswachstum zu erreichen.”, rät Dr. Simone Ahuja, Innovationsstrategin und Gründerin des Beratungsunternehmens Blood Orange, in der Merck-Neugier-Studie 2018.
In konkreten Maßnahmen bedeutet das: Schneller rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, um das Gründen zu vereinfachen und zu fördern, indem zum Beispiel das benötigte Gründungskapital (bei einer GmbH 25.000 Euro Mindeststammkapital), herabgesetzt wird oder stark verminderte Steuersätze und Prämien ausgelobt werden. Investitionen könnten durch höhere Zuschüsse oder Steuervorteile attraktiver werden. Um langfristig eine Kultur der zweiten Chance zu etablieren, ist eine frühe Aufklärung notwendig. Angehende Unternehmer könnten schon auf dem Bildungsweg damit konfrontiert werden und Unternehmensveteranen über Schulungen.
Trotz der vielen Hürden ist das Gründen eines internationalen Top-Unternehmens auch in Deutschland möglich. Mit einem derzeitigen Marktanteil von 95 Prozent, nach Angaben des Co-CEO Bastian Nominacher, könnte das auch schon längst mit Celonis passiert sein. Dieser Ansicht ist auch die Jury des Deutschen Zukunftspreises:
Was man sonst glaubt, nur in Silicon Valley machen zu können – die Facebooks, die Amazons und die Googles dieser Welt zu schaffen – vielleicht ist sowas hier in München entstanden.
Text: Anna Marie Gorski. Grafiken: Anna Marie Gorski mit Material von Statista. Titelbild: Maria Zimbal
Meinung der Autorin
Gründen! Aber bitte nicht überall
„An die Weltspitze im Bereich der digitalen Infrastruktur“ heißt es im Koalitionsvertrag der CDU und SPD. Diese Kampfansage trifft, wenn überhaupt, nur in Ballungsgebieten zu – man bräuchte ja in Deutschland keine 5G an jeder Milchkanne. Zu schade, denn in den Großstädten sind die Mieten so hoch, dass kein junges digitales Start-Up-Unternehmen auf Dauer die Miete für die Büroräume aufbringen könnte. Schön, dass die Tech-Förderungen das Gleiche denken. Berlin ist doch eh viel besser als Frankfurt, warum also dorthin? Wenn es dann doch nicht funktioniert mit einer Förderungszusage, lässt sich aus den Papierstapeln zur Beantragung direkt eine vorübergehende Behausung bauen! Mit den Bögen zur Unternehmensgründung gibt es sogar einen vom Notar beglaubigten Balkon dazu.