Zergess zückt, ohne Vorwarnung, ein Messer. Er klopft damit die Wände ab, um die Stabilität der Wände damit zu prüfen…Instagrammer Zergess ist 19 Jahre alt und Urbexer. Das heißt so viel wie „Stadterkunder“. Er erforscht alte verlassene Industriegebäude, Wohnhäuser oder Kasernen, sogenannte „Lost Places“. Fotografieren ist sein Hobby. Seine Kleidung ist schwarz, sein Schuhwerk fest mit starkem Profil, sein Gesicht bis auf die Augen verhüllt. Bei sich trägt er einen Rucksack: Spiegelreflexkamera, mehrere Objektive, ein Stativ, ein Verbandskasten, Rettungsseil, eine Taschenlampe sowie einen Elektrotaser. „Der Taser ist getarnt als zweite Taschenlampe. Das ist zwar verboten, aber so kann ich Leute von mir abhalten, welche beispielsweise auf Drogen sind. Man weiß ja nie, wem man begegnet. Ein Pfefferspray wäre übrigens ziemlich nutzlos, da Menschen die im Rausch sind, nichts mehr checken und die Sinne ausgehebelt sind.“ Benutzen musste er ihn allerdings noch nie.
Unerkannt bleiben
Es ist ein sonniger, aber eher kühler Tag. Heute will Zergess erneut in einen alten Bürokomplex einsteigen. Der Nebeneingang zu dem Gebäude befindet sich hinter einem geöffneten Bauzaun, entfernt von der Straße, durch einen verwilderten Garten hindurch. Eine Grauzone in der man sich bewege, wie er selbst sagt. Man breche nicht in das Gebäude ein, da Bauzaun und Tür offen sind. „Ich war hier schon öfters.“ Zergess geht selbstbewusst in das Gebäude hinein, packt seine Kamera sowie das Stativ aus. Im Gebäude ist es kühl und feucht. Es riecht nach altem Papier, vermoderten, feuchten Wänden und der Geruch von Schimmel liegt in der Luft. „Dieser Bürokomplex steht seit etwa 25 Jahren leer und ist dennoch ziemlich unberührt. Vorher war das mal ein Sitz von Handelswaren, welche unter anderem nach Frankreich gingen. Das erkennt man an den Akten, die hier noch liegen. Später wurde daraus eine Anwaltskanzlei.“
Im Nachbargebäude arbeiten noch Menschen. „Man kann von hier aus zwar hinausschauen, aber die Leute können nicht hineinschauen.“ Schon ist das erste Motiv gefunden: eine Akte, welche auf dem Tisch mit anderen Akten verstreut liegt. Zergess fotografiert seit offiziell drei Jahren an verlassenen Orten. Die ersten Berührungen mit diesem außergewöhnlichen Hobby hatte er durch seine Eltern. „Manchmal bin ich auch noch mit meiner Mom unterwegs.“
Jeder Schritt im Gebäude muss gut überlegt werden, denn auf dem Boden häufen sich Scherben, Papier, Akten und Müll, wie Coca-Cola-Dosen oder andere leere Verpackungen. Die Gänge sind teilweise sehr dunkel. Im ersten Stockwerk angekommen, muss man auf das angehobene Fischgrätparkett in dunkler Holzoptik achten. Achtung Stolperfalle!
„Ich bin lieber alleine unterwegs. Bei mehreren Personen legt man öfters einen Halt ein, da gerne wirklich jedes Detail festgehalten werden muss.“ Angst hat er dabei nicht. „Das Schlimme ist nicht was du siehst, sondern das was du hörst.“ Zergess ist deswegen mit Kopfhörern unterwegs. „Anfangs habe ich noch Musik gehört, mittlerweile bin ich auf Podcasts umgestiegen.“ Er ist auch nachts ein Urbexer: „Einmal hätte mich fast der Wachschutz erwischt, aber sonst bin ich immer ohne Probleme in den Gebäuden unterwegs.”
Zergess zückt, ohne Vorwarnung, ein Messer aus seiner Tasche und klopft mit der Spitze die Wände ab. „Ich prüfe die Stabilität der Etagen. Wenn man ein dumpfes Geräusch hört und die Tapete noch fest an der Wand anliegt, dann kann man sich sicher sein, dass kein Wasser eingedrungen und die Etage über uns nicht Einsturzgefährdet ist. Wenn es hohl klingt, sollte man mit Vorsicht an die Sache herangehen.“
Zergess geht gerade in Richtung Treppenhaus, als er plötzlich stoppt. Stimmen. „Die sind draußen und gehen weiter. Ich warte bis sie weg sind.“ Das Treppenhaus ist zur Straßenseite hin offen und das Fenster wurde komplett eingeschlagen.
Die Goldene Regel
2. Etage: Hier sollte man auf dem Flur bleiben, da die Zimmer links und rechts einsturzgefährdet sind. In den hinteren Räumen ist das Dach schon komplett eingestürzt. In den ersten Raum kann man noch ohne Bedenken hineingehen. Auch hier wieder: Viele Akten, eine Rasierklinge, Büroutensilien sowie ein Duden aus den 1980er Jahren. Es ist unter Urbexern streng verboten, Dinge von einem verlassenen Ort mitgehen zu lassen. „Ich habe tatsächlich noch nie etwas mitgenommen, auch als ich mal 400.000 Reichsmark gefunden habe. Das ist eine ungeschriebene goldene Regel: ‚Take nothing, but pictures. Leave nothing, but footprints‘.“