Ein älterer Herr sitzt im Regionalexpress irgendwo zwischen Dresden und Chemnitz. Er reicht der Schaffnerin sein Ticket und seine Bahncard 25. Die Schaffnerin erwidert angestrengt, diese Plastikkarten seien nicht mehr gültig. Er solle die Bahncard auf seinem Smartphone heraussuchen, sonst sei das Ticket ungültig.
So oder ähnlich läuft es in immer mehr Lebenssituationen, in denen man neuerdings auf die Nutzung digitaler Dienste angewiesen ist. Onlineangebote symbolisieren Zukunftsausrichtung und Innovativität. Attribute, die sich kein Unternehmen und keine öffentliche Stelle mehr entgehen lassen möchte. So kürzen Behörden und Betriebe inzwischen gern analoge Lösungen – vorgeblich, weil diese nur marginale Nutzungsanteile haben. Zunehmend lassen sich etwa Tickets für Konzerte, Lesungen und andere Veranstaltungen nur noch online anschaffen.
Analog Natives
Gerade von Studierenden fordert der Bund zunehmend aktive Internetnutzung. Ein aufmerksamkeitsstarkes Beispiel ist dafür die 2023 ausgezahlte Einmalzahlung zur Energiekostenpauschale. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung entschied sich damals für eine Online-Anwendung, die ausschließlich mit dem nationalen Login, BundID, zu nutzen war. Ziel sei dabei gewesen, „den Studierenden möglichst schnell und sicher die Einmalzahlung auszahlen zu können“, so Ministeriumssprecher Martin Kleinemas. Für Studierende, die ihre Daten nicht online preisgeben wollten, gab es keinen anderen Zugang zu dem Zuschuss.
Allerdings nutzen fünf Prozent der Deutschen keine digitalen Dienste. Das kann sehr verschiedene Gründe haben: Ihnen ist etwa moderne Technik nicht zugänglich oder sie möchten selbige aus persönlichen Gründen – wie dem Datenschutz – nicht nutzen. Je mehr Dienste und Leistungen online-only sind, desto mehr wären diese Gruppen in Gefahr, die Verbindung zur Restgesellschaft zu verlieren, kritisiert der Interessenverband Digitalcourage e.V.
Update des Grundgesetzes
Seit Mai letzten Jahres fordert ebenjener Digitalcourage e.V. deshalb mithilfe einer Petition die Einführung eines Grundrechts – dem Recht auf analoges Leben. „Menschen, die mit der neuen digitalen Welt nicht zurecht kommen oder nicht zurecht kommen wollen“, dürften nicht ausgeschlossen werden, erklärt der Verein in einer Pressemeldung. Digitalcourage betont dabei die verschiedenen Gründe, die digitale Abstinenz haben kann. Einerseits könne man dem Stress mit Nichterreichbarkeit entfliehen, die Ablenkung reduzieren oder aber auf Privatsphäre Wert legen. Andererseits hebt der Verein auch das Recht älterer Menschen hervor, ohne speziellen Grund kein Interesse zu haben, die rasanten digitalen Änderungen nachzuvollziehen. Die garantierte Teilhabe all dieser Betroffenen, solle durch eine Grundgesetzänderung festgeschrieben werden.
Auch die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) hat das Thema für sich entdeckt. So führte man 2024 den Wahlkampf unter Spitzenkandidat Andreas Babler mit der Forderung nach einem solchen Recht. Dabei sieht die Partei die Grundausstattung aller Gemeinden mit Bankautomaten sowie das Verbot von Extrakosten bei analogen Geldüberweisungen vor. Außerdem soll es Unterstützer*innen bei physischen Behördengängen geben. Letztlich begrenzt die Partei ihre Forderungen aber auf die Nöte und Sorgen des älteren Teils der Bevölkerung, der dort mit immerhin 21 Prozent am häufigsten auf Computer und Smartphone verzichtet.
Die Auseinandersetzung mit der Problematik zunehmender digitaler Abhängigkeit begrenzt sich jedoch nicht auf eine Seite des politischen Spektrums: Im November brachte auch die AfD-Fraktion ihre Vorstellung eines Rechts auf analoges Leben im Bundestag ein. Der Gesetzesentwurf sollte dabei das Onlinezugangsgesetz ändern. Fraglos wurde dieser Antrag brandmauerbedingt abgelehnt.
Für Early Adopter
Klingt es bis hierhin so, als ob lediglich Forderungen und Vorschläge im Raum stehen, so sei angemerkt, dass es teilweise bereits dahingehende Gesetzgebung gibt. So garantiert das Land Schleswig-Holstein in seiner Landesverfassung seit 2014 den schriftlichen oder persönlichen Zugang zu allen Behördenaufgaben. Auch das eigentlich als digitaler Vorreiter bekannte Norwegen stärkte im Frühjahr 2024 die analogen Rechte. Seitdem hat man in dem skandinavischen Land explizit den Anspruch, im Warenhandel und bei stationären Dienstleistungen bar zahlen zu können.
Demgegenüber sorgen sich Kritiker*innen des Konzepts um den gesellschaftlichen Fortschritt. Der Geschäftsführer des Interessenverbands Arbeitgebervereinigung für Unternehmen aus dem Bereich EDV und Kommunikationstechnologie e.V. (AGEV), Franz Grömping, führt etwa aus, dass Senior*innen „mit einfachen Strukturen und benutzerfreundlicher Bedienung“ durchaus digitale Angebote nutzen könnten. Die Petition von Digitalcourage auf das Recht auf ein analoges Leben beschreibt er als Methode, Stolpersteine in den Alltag zu integrieren. Doppelstrukturen ließen sich nur durch die Digitalisierung abbauen, die damit auch gesellschaftliche Kosten senke. Ähnlich argumentiert auch Eric Frey im STANDARD. Er vergleicht die Forderung mit einem „Recht auf Pferdekutschen nach der Erfindung des Verbrennungsmotors“.
Der öffentliche Diskurs ist damit also eröffnet: Überwiegt nun die Sorge vor Effekten, die den Fortschritt lähmen, oder sollten wir unsere Welt breiter und inklusiver in Sachen Dienstleistungen und Behördengängen gestalten? Bis die Gesellschaft dahingehend zu einem Ergebnis gekommen ist, muss wohl erstmal wie bisher weitergemacht werden – irgendwo zwischen Techbros, die chronisch online sind und Omas, die den Fahrkartenautomat nicht bedienen können.
Text und Illustration: Loris Oberländer