Über die Pflege wird vielleicht so häufig diskutiert, wie über keinen zweiten Beruf in Deutschland. Besonders die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte lösen eine Kontroverse nach der anderen aus. Immer wieder hört man “Zu hart, zu stressig, zu schlecht bezahlt.” Hier erhältst du einen Einblick in den Arbeitsalltag einer Pflegerin und wichtige Infos, um die aktuelle Lage zu verstehen. Zum Schluss gibt es einige Ansätze, die die Branche bessern könnten.
Hier bin ich kein Mensch, hier darf ich‘s nicht sein
Es ist 5:30 Uhr an einem Donnerstag. Während Deutschland noch schläft, ist Maria Lubosch* bereits auf dem Weg zur Arbeit. Doch wie so oft ist schon die Autofahrt eine Qual und heute fühlt sie sich mal wieder besonders lang und unerträglich an. Maria steckt noch die Last der gestrigen Spätschicht in den Knochen. Wegen des vielen Stress konnte sie erst um 23 Uhr Feierabend machen. Sie dreht das Radio lauter und versucht ihre müden Augen offenzuhalten. So beschreibt Maria einen Arbeitstag, den sie bis heute nie vergessen habe. In einem Interview mit medienMITTWEIDA erzählt sie auch: „Laut Arbeitszeitregelung haben zwischen zwei Schichten immer mindestens elf Stunden Abstand zu liegen, doch am Mittwoch davor hatte sich kurzfristig einer von meinen Kollegen krankgemeldet.” Zähneknirschend hatte sie eingewilligt, dessen Frühschicht zu übernehmen. Angesichts des Personalmangels auf ihrer Station fühlte sie sich irgendwie dazu verpflichtet. Als sie einparkte, dachte Maria an ihre zwei Söhne. Wie werden sie reagieren, wenn sie den Zettel auf dem Küchentisch finden, auf dem steht, dass Papa heute mal wieder alleine beim Fußballspiel zuschaut? Sie schluckte diesen Gedanken herunter und stieg aus.
So wie Maria scheint es vielen Pflegekräften in Deutschland zu gehen. Der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kam 2019 bei einer repräsentativen bundesweiten Umfrage zu folgendem Urteil: “Pflegende sind sowohl einer hohen physischen als auch psychischen Belastung ausgesetzt. […] Das alles tun sie unter Rahmenbedingungen wie Schicht- oder Wochenendarbeit.” Laut weiteren Ergebnissen berichtet rund die Hälfte der befragten Pflegekräfte von einem Wegfall der Arbeitspausen. Demnach müsste das Personal in Pflegeberufen doppelt so oft auf eine Erholungsmöglichkeit während der Arbeitszeit verzichten, wie das in anderen Berufsgruppen der Fall sei.
„Es ist ein Teufelskreis“
Sabine Vogelbusch* ist Stationsleiterin in einem Krankenhaus. Sie kennt sich neben den Arbeitsabläufen ihrer Abteilung auch mit den organisatorischen Rahmenbedingungen einer Pflegeeinrichtung aus. In einem Interview mit medienMITTWEIDA fasst sie die Lage wie folgt zusammen: “Die Pflegekräfte machen das über die Jahre nicht mehr mit. Irgendwann haben sie eine gewisse Grenze erreicht.” Viele würden eine Menge privater Zeit opfern, um ihrer Berufsehre und den Patienten zu genügen. Nach Jahren, in denen man nie richtig zur Ruhe komme, wäre irgendwann ein Punkt erreicht, an dem sich viele Pflegende vor Erschöpfung krankmelden würden. Das wiederum führe dazu, dass andere mehr arbeiten müssten, schneller erschöpft wären und sich letztlich selber krankmelden würden. “Die, die meinen erholt wiederzukehren, stehen nun selbst alleine da und den nächsten Schritt können Sie sich denken”, erklärt Vogelbusch. “Das System baut darauf, dass die Pflegekräfte keine Schwäche zeigen und unermüdlich arbeiten. Die Realität sieht jedoch anders aus. Es ist ein Teufelskreis.“
Die Zustände in der Pflege ziehen nicht nur in Vogelbuschs Einrichtung entsprechende Konsequenzen mit sich. Auch hierzu macht der Stressreport Aussagen. 60 Prozent der Befragten aus Pflegeberufen klagen über körperliche Erschöpfung – ähnlich viele berichteten von Muskel-Skelett-Beschwerden. Auch die psychische Gesundheit scheine bei vielen Pflegekräften auf Dauer in schlechte Verfassung zu geraten. Rund die Hälfte gab nächtliche Schlafstörungen und emotionale Erschöpfung an. Niedergeschlagenheit sowie Nervosität und Reizbarkeit wurden von je einem Drittel als gesundheitliche Beschwerde genannt.
Es leidet der Mensch, solang‘ er pflegt
Nach eigener Aussage habe auch Maria viele dieser Auswirkungen zu spüren bekommen. Sie erzählt weiter: “Früh um 6 Uhr geht es immer los. Während ich mir noch meinen Kittel anziehe und mich fertig mache, drängt die Nachtschicht schon, dass sie nach Hause will. Da geht bereits der Stress los.” Ein unbarmherzig schnelles Metronom gibt den zügigen Takt für das Personal an. Zuerst müsse die Dienstübergabe mit der Nachtschicht erfolgen. Wann muss der Patient zur OP, welche Beschwerden hat er und wie muss er behandelt werden? Auch das Stellen von Medikamenten, die Vitalzeichenkontrolle, die Körperpflege, das Bettenmachen und vieles mehr würden zu Marias Aufgaben als Pflegefachkraft gehören. Je mehr Patienten es zu betreuen gäbe, desto komplexer werde so eine Schicht. Maria erklärt: „Im Normalfall habe ich als Pflegefachkraft in der Frühschicht einen Bereich mit circa elf bis zwölf Patienten zu betreuen.“ Einen weiteren Faktor, der Marias Arbeit erschweren würde, beschreibt sie so: „Immer mehr Patienten, werden durch den ambulanten Pflegedienst und durch Besuche des Hausarztes daheim versorgt. Bei uns auf Station liegen mittlerweile wirklich nur noch Schwerkranke mit sehr hohem Pflegebedarf.“
Auch hiermit steht Maria nicht alleine da. Sabine Vogelbusch erklärt, wie nicht nur der hohe Pflegegrad der Patienten die Arbeitsbedingungen für Pflegende erschwert. „Von oben“ kämen die Vorgaben, aus denen sie letztlich die Schichtpläne für ihre Pflegekräfte zusammenstellen würde. Aus ihrem Blickwinkel seien die Ziele der Einrichtung oft schwer mit den Möglichkeiten und Realitäten des Personals zu vereinen. Sie schildert einige Probleme: „Oft kommt es vor, dass die Pflegekräfte, zusätzlich zu ihrem hohen Arbeitspensum, weitere Aufgaben übernehmen müssen.” Darunter fielen zum Beispiel ärztliche Tätigkeiten wie Blutabnahmen, Flexülen legen und das Führen von Aufklärungsgesprächen zu geplanten Untersuchungen. Auch Angestellte aus anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Labor, würden zunehmend Aufgaben an die Pflege delegieren. Blutzuckermessungen oder Blutgasanalysen seien da nur zwei Vertreter.
Laut dem Stressreport ist die Arbeit in Pflegeberufen sehr häufig durch Störungen und Unterbrechungen, sowie Termin- und Leistungsdruck geprägt. Auch das Sammeln von mehr als fünf Überstunden pro Woche und das gleichzeitige Im-Auge-behalten von verschiedenartigen Arbeitsvorgängen gehören wohl zur gelebten Praxis in der Pflege. Diese Ergebnisse unterstreichen Sabine Vogelbuschs Aussagen und spiegeln den Arbeitsalltag von Maria wieder.
Es fehlt nur noch der letzte Tropfen
Durch den Stress und die Schichtarbeit könnten laut Vogelbusch viele Pflegende ihren Beruf nicht mit dem Privatleben beziehungsweise der familiären Situation vereinen. Bei dem hohen Arbeitspensum seien Pausen sehr wichtig. Durch das fehlende Personal wären die freien Tage allerdings rar. Sabine Vogelbusch erklärt die Situation an einem Beispiel: „Ursprünglich haben wir mit zwei von vier freien Wochenenden im Monat pro Pflegekraft geplant. Doch in der Realität akzeptieren alle, dass sie an drei Wochenenden arbeiten müssen und nur eins freibekommen.” Falle nun allerdings mal ein Pfleger oder eine Pflegerin aus, müsse jemand anderes einspringen und eventuell noch am vierten Wochenende arbeiten. Wenn man dann noch das Pech hat, dass man das erste Wochenende des Folgemonats regulär zum Dienst geplant ist, könne es gut und gerne passieren, dass man fünf Wochenenden in Folge auf Station sei.
Eine dieser Pflegekräfte im Dauereinsatz ist Maria. An manchen Tagen wüsste sie nicht, wo ihr der Kopf stünde. Ihre Erinnerungen beschreibt sie so: “Mein Zeitplan ging nicht mehr auf, seit sich Frau Fischer aus Zimmer Drei übergeben musste.“ So etwas könne immer passieren, sei aber nie eingeplant. Im Dienstzimmer habe die rote Lampe geleuchtet – ein Patient klingelte. “Ich wollte gerade los eilen, da fiel mir ein, dass Herr Panther noch gar nicht sein Frühstück bekommen hatte”, schildert sie weiter. “Ich hatte ihm vor zwanzig Minuten sein Insulin gespritzt. Wenn er nicht bald gegessen hätte, wäre er unterzuckert. Die rote Lampe leuchtete erneut auf. Ich hätte mich zerteilen müssen.” Sie sei auf einem Stuhl nieder gesunken, habe die Hände vor ihr Gesicht gelegt und erschöpft ausgeatmet. “In diesem Moment dachte ich mir, ich will nicht mehr”, unterstreicht sie abschließend.
Manchmal hilft nur noch der Schleudersitz
Die Zahlen der Analyse „Ich pflege wieder, wenn…“ zeigen, dass viele Pflegende Marias Gedanken teilen – Sie teilweise sogar in die Tat umsetzen. 2022 wurde diese Studie unter anderem von der Arbeitnehmerkammer Bremen herausgegeben. Sie beschäftigt sich mit der potenziellen Berufsrückkehr von ausgestiegenen Pflegekräften und kann so auch etwas über den Berufsabbruch selbst erzählen. Vielen Pflegenden scheint irgendwann eine Umorientierung unausweichlich. Im Alter von 50 bis 59 Jahren steigen die meisten Leute aus Pflegeberufen aus. Es sind Menschen mit Erfahrung, die diese Branche kennengelernt haben. Der letzte Arbeitsbereich vor dem Ausstieg ist bei vielen Ex-Pflegekräften das Krankenhaus. Mit deutlichem Abstand verlassen von hier aus die meisten Pflegenden ihren Beruf. Auffällig ist auch, dass rund die Hälfte der befragten ehemaligen Pflegerinnen und Pfleger der Meinung ist, dass ihre Arbeit einen negativen Einfluss auf ihren Gesundheitszustand hat. Bei Teilzeitpflegekräften schätzt ein Anteil von 90,1 Prozent die Arbeit als negativ für den Gesundheitszustand ein.
Unterm Strich lässt sich feststellen, dass fehlendes Pflegepersonal seit Jahren ein Dauerzustand ist. Eine Studie der IW Köln zeigt, dass dieses Problem sogar noch größer wird. Bis 2035, so die Prognose, soll ein Bedarf an rund 500.000 Fachkräften entstehen. Zum Vergleich: 2020 gab es einen Bedarf an rund 380.000 Pflegenden.
Den Personalmangel bekämen auch die Patienten zu spüren. Sabine Vogelbusch erklärt, dass es für alle Pflegetätigkeiten Standardprozeduren gäbe. Normalerweise bräuchte man für eine Körperpflege zum Beispiel rund 30 Minuten – Oft habe man aber lediglich eine Stunde Zeit für sieben Körperpflegen. In schlimmen Zeiten, bei zu wenig Personal, seien sogar schon Betten auf Station gesperrt worden. In Vogelbusch’s Augen ein unfairer Kompromiss zum Nachteil der Patienten. Für sie wäre mehr Personal eine Erlösung.
Maria beschreibt dieses Problem aus näherer Perspektive. “Die Patienten bei uns brauchen viel Zuwendung, aber alleine kann ich das manchmal gar nicht bieten. Wir brauchen dringend mehr Leute. Unter den aktuellen Bedingungen würde ich diesen Beruf allerdings niemandem empfehlen”, fasst sie ihr inneres Dilemma zusammen. Und tatsächlich würden viele Auszubildende den Weg bis zur fertigen Fachkraft frühzeitig abbrechen. Maria erklärt, dass die reine Theorie wohl stark von der stressigen, unverschönten Realität abweichen würde. “Ich hatte auch schon mal einen Azubi als Hilfskraft auf Station, der nach seinem ersten Praktikum gleich wieder abgebrochen hat,” erklärt sie. Maria wünscht sich in diesem Bereich weitere Änderungen und eine Verbesserung der Konditionen, damit wieder mehr Leute den Pflegeberuf anstreben können.
Licht am Ende des Tunnels
Zwei Möglichkeiten, Personal zu akquirieren, sind die Wiedergewinnung von Berufsaussteigern und die Ausbildung junger Menschen zu neuen Pflegekräften. Zu Ersterem formuliert die Studie „Ich pflege wieder wenn…“ ein klares Ranking an Wiedereinstiegsfaktoren. Sie könnten Vorbild und Maßstab einer Branchenrevolution sein. Auf Platz vier landen fachliche Aufstiegsmöglichkeiten, betriebliche Interessenvertretung und die Fähigkeit, Erlebtes während der Arbeitszeit psychisch verarbeiten zu können. Weiter oben findet sich eine erhöhte Wertschätzung durch Vorgesetzte und Tarifbindung wieder. Noch wichtiger sind eine höhere Bezahlung und verlässliche Arbeitszeiten und Platz eins belegt mehr Zeit für eine gute Pflege durch mehr Personal. Bessern sich diese Faktoren, könnten sich Teilzeitkräfte vorstellen, ihre wöchentliche Arbeitszeit zu erhöhen. Auch Pflegeaussteiger wären dann deutlich eher dazu bereit, sich wieder für ihren alten Beruf zu entscheiden.
Damit auch mehr junge Leute den Pflegeberuf wählen, wurde im Januar 2020 die generalistische Pflegeausbildung eingeführt. Dieses Gesetz zur Reform der Pflegeberufe soll die Pflegeausbildung modern, zukunftsfähig, attraktiv und qualitativ hochwertig gestalten.
Am Ende zählt sowieso nur das Eine
Auch der Donnerstag, den Maria nie vergessen konnte, hatte irgendwann ein Ende. Sie erzählt: „Obwohl ich hier täglich sehr viele Anstrengungen zu bewältigen habe, spüre ich auch die Dankbarkeit der Patienten. Sie schätzen es, dass jemand für sie da ist. In solchen Momenten erinnere ich mich immer wieder daran, warum ich mich damals für diesen Beruf entschieden habe.” Die Pflegekräfte auf Marias Station hätten eine sehr enge Bindung und durch gute Zusammenarbeit würde man dann doch immer alles schaffen. Zielführende Teamberatungen, gegenseitiges Helfen und eine gute Stimmung seien auf Marias Stationen keine Fremdwörter. „Da wir alle im selben Boot sitzen, kommen wir gar nicht dazu uns zu streiten. Wir halten hier zusammen durch und machen das Beste daraus”, erklärt Maria abschließend.
*Name geändert
Text & Titelbild: Samuel Frenzel