Lena* ist 22 Jahre alt und das dritte und jüngste Kind ihrer Eltern. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt war Lenas Mutter 43 Jahre, ihr Vater 47 Jahre alt. Ihre Brüder sind zehn und 14 Jahre älter als sie. „Unsere Eltern haben sich schon immer drei Kinder gewünscht, hatten jedoch von Anfang an Schwierigkeiten, schwanger zu werden.“ Gegenüber medienMITTWEIDA berichtet Lena, wie es für sie persönlich war, mit älteren Eltern aufzuwachsen.
Eltern werden immer älter
Statistisch gesehen bekommen Eltern heute immer später Kinder. Im Jahr 2023 waren Mütter in Deutschland bei einer Geburt durchschnittlich 31,7 Jahre alt – „unabhängig davon, ob es die Geburt des ersten Kindes oder eines weiteren Kindes war.” Laut Erhebungen des Statistischen Bundesamtes waren Mütter bei einer Geburt im Jahr 1991 etwa 27,9 Jahre – und Väter 31,0 Jahre alt. Damit nahm das Durchschnittsalter der Eltern zwischen 1991 und 2023 bei Frauen um rund 3,9 Jahre und bei Männern um 3,7 Jahre zu.
Du bist als Nachzüglerin auf die Welt gekommen. Wie hast du dein Großwerden wahrgenommen?
Man muss das natürlich ein bisschen davon abgrenzen, wie das Verhältnis von mir und meinen Eltern war. Ein bis zwei Jahre nach meiner Geburt haben sich meine Eltern scheiden lassen und ich bin bei meiner Mutter und meinem Stiefvater aufgewachsen. Er war zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt. Meinen Vater und meine Brüder habe ich nur an den Wochenenden gesehen. Durch die Entfernung und das Alter meiner Geschwister bin ich eigentlich wie ein Einzelkind aufgewachsen.
Als ich klein war, haben sich meine Eltern noch viel mit mir beschäftigt und ich würde sagen, dass mein Leben nicht viel anders aussah als bei anderen Kindern. Trotzdem haben wir beispielsweise nicht viele Ausflüge gemacht, da es die Gesundheit meiner Eltern schon da nicht mehr zugelassen hat. Ich habe sehr viel Zeit alleine und mit mir selbst verbracht, was mich eigentlich nie gestört hat. Als ich dann älter wurde, war ich auch bei schulischen Angelegenheiten eher auf mich alleine gestellt. Meine Eltern konnten mir da einfach keine Hilfe leisten, da ihre Schulzeit schon so lange zurücklag.
Allgemein habe ich die Erziehung meiner Eltern als sehr streng und auch „altmodisch“ wahrgenommen. Neben geregelten Schlafens- und Rausgehzeiten habe ich es kaum gelernt, offen über meine Gefühle und Gedanken sprechen zu können. Meine Mutter ist zudem sehr streng mit meiner ersten Beziehung umgegangen. Auch Themen wie Verhütung, Aufklärung und Pubertät waren sehr still geschwiegen und schambehaftet. Sie haben mich nie aufgeklärt und ich konnte nur ganz oberflächlich mit ihnen darüber sprechen. Da hätte ich mir einfach einen besseren Umgang gewünscht. Ich habe mich immer ein bisschen dafür geschämt, in einer Beziehung zu sein oder dass sich mein Körper verändert.
Wie würdest du die Beziehung zu deinen Eltern beschreiben?
Zu meinem leiblichen Vater hatte ich immer ein gutes Verhältnis. Auch aus Erzählungen weiß ich, dass mich mein Stiefvater schnell in sein Herz geschlossen und mich als Kleinkind sehr lieb hatte. Er hat schon eine Art Vaterrolle für mich übernommen. Beispielsweise hat er mir Schwimmen, Fahrradfahren und Inlineskaten beigebracht. Als ich dann aber älter wurde, hatte ich ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihm, da er einfach nicht gut zu mir und meiner Mutter war. Ich habe mich oft mit ihm gestritten, da ich mir seine Art nicht gefallen lassen habe. Dadurch hat auch die Beziehung zu meiner Mutter gelitten und wir haben uns in meinen Teenagerjahren stark auseinander gelebt.
Mittlerweile haben wir alle wieder eine gute Beziehung zueinander, da wir unsere Probleme aufarbeiten und heute viel offener miteinander reden können. Das ist aber auch nur dem geschuldet, dass ich sie ein bisschen dazu dränge und ihnen zeige, dass es okay ist, über Gefühle und Probleme zu sprechen. Ich glaube einfach, dass bei ihnen die Empathie und emotionale Intelligenz in dem Sinne fehlt, dass meine Eltern einfach anders aufgewachsen sind und nie gelernt haben, offen über Probleme zu sprechen. Sie übernehmen einfach die Dinge, die sie gelernt und erfahren haben und brechen nicht aus diesem Teufelskreis heraus.
Hast du jemals bemerkt, dass deine Familienkonstellation im Vergleich zu deinen Freundinnen und Freunden ungewöhnlich war?
Wie bereits erwähnt, bin ich eigentlich wie ein Einzelkind aufgewachsen. Meine Brüder sind viel älter als ich und ich bin weniger mit ihnen aufgewachsen. Mein mittlerer Bruder hat mich das jedoch nie spüren lassen. Trotzdem habe ich mich immer nach einem jüngeren Geschwisterkind gesehnt. Meine Freund*innen hatten immer Geschwister in ihrem Alter und das hätte ich auch gerne gehabt.
Zudem bin ich auch ohne Großeltern aufgewachsen, da sie bereits alle vor meiner Geburt verstorben sind. Viele Kinder sind nach der Schule zu Oma und Opa, haben Feste mit ihnen gefeiert und von ihren Erlebnissen mit ihnen erzählt. Meine Eltern mussten mich auch immer überall mit hinnehmen, wenn sie mal einen Termin hatten. Da war keine Person, die sonst auf mich aufpassen konnte. Das hat mich oft sehr traurig gemacht, da ich einen wichtigen Teil meines Lebens schon verloren und nie kennengelernt habe.
Gab es Momente, in denen dir andere Menschen ein schlechtes Gefühl gegeben haben, weil deine Eltern älter waren als die der anderen Kinder in deinem Umfeld?
Ich kann mich an viele Momente aus meiner Schulzeit erinnern. Da kamen dann schon öfter Kommentare wie „Ist das deine Oma?“, wenn mich meine Mutter abgeholt hat. Dabei sah meine Mutter nicht einmal so alt aus. Oder wenn es darum ging, wie alt unsere Eltern sind, habe ich nie ehrlich geantwortet. Ich bin diesen Fragen immer ausgewichen und habe so etwas gesagt wie: „Also meine Mama ist ungefähr 35 Jahre alt.“ Damals haben sich auch andere Kinder über die Namen meiner Eltern lustig gemacht, da es ältere Namen sind.
Diese ganzen Kommentare fand ich schon immer nervig und einfach respektlos. Ich habe mich irgendwie geschämt, über meine Eltern zu sprechen. Nicht weil mir meine Eltern unangenehm waren, sondern weil mir andere Kinder immer ein ungutes Gefühl gegeben haben.
Gibt es besondere Herausforderungen, die sich aus dem Alter deiner Eltern ergeben haben?
Gerade in Bezug auf Technik sind meine Eltern nicht sehr affin und somit sehr abhängig von mir oder meinen Brüdern. Gerade weil wir in einem Zeitalter leben, in dem fast alles nur noch online stattfindet, jedes Formular oder jede Anmeldung. Mich stört es nicht, dass ich diese Aufgaben übernehmen muss, aber dadurch sind meine Eltern teilweise sehr unselbstständig und abhängig von uns Kindern.
Oder auch das Thema Umzug – normalerweise unterstützen ja Eltern ihre Kinder, wenn sie fürs Studium oder die Ausbildung von Zuhause ausziehen. Bei meinen Eltern ist das nicht so einfach. Ihrem Alter und ihrer Gesundheit zufolge können sie mir bei solchen Dingen auch nicht wirklich helfen. Natürlich versuchen sie mich trotzdem so gut es geht zu unterstützen und für mich da zu sein. Trotzdem bin ich in vielen Dingen einfach sehr stark auf mich alleine gestellt. Dem geschuldet musste ich schnell erwachsen werden und selbst Lösungen für meine Probleme finden.
Hattest du jemals das Gefühl, deine Eltern stärker unterstützen zu müssen, als es bei Gleichaltrigen üblich ist?
Ich habe oft das Gefühl, dass sich mein Leben um das meiner Eltern dreht. Ich muss meinen Eltern dabei zuschauen, wie sie immer schwächer und abhängiger von uns werden, und ich kann rein gar nichts dagegen tun. Das beschäftigt mich sehr. Ich hatte noch gar nicht richtig die Zeit, mich selbst zu finden und meinen eigenen Weg einzuschlagen. Wenn ich zum Beispiel überlege, zu verreisen oder in eine andere Stadt zu ziehen, ist das alles mit sehr viel Unsicherheit und auch Schuldgefühlen verbunden. Es gibt einfach diese ständige Angst: „Was ist, wenn sie mich brauchen und ich nicht da bin?“
Andererseits bin ich aber auch in einem Alter, wo ich ganz viel erleben und ausprobieren sollte. Ich kann mich aber nicht so einfach von Zuhause abnabeln, wie Menschen, die jüngere Eltern haben und sich über solche Dinge noch keine Gedanken machen müssen. Meine Brüder leben auch nicht in unserer Nähe und somit liegt diese ganze Last auf meinen Schultern. Sie hatten die Chance, ohne diese ganzen Probleme aufzuwachsen und konnten aus unserer Stadt wegziehen.
Welche positiven Erfahrungen konntest du durch das Aufwachsen mit älteren Eltern erfahren?
Meine Eltern haben irgendwie eine andere Lebensweisheit. Dadurch, dass sie viel älter sind und schon so viel erlebt haben, können sie mir durch ihre Perspektiven aufs Leben Ratschläge geben, die jüngere Eltern vielleicht so ihren Kindern nicht vermitteln können. Sie betrachten meine Probleme aus einem viel größeren zeitlichen Abstand. Ihre Lebenserfahrungen können mir in stressigen Momenten oft Klarheit und Ruhe geben.
Zudem ist mir wichtig zu sagen, dass ich mir nie wirklich jüngere Eltern gewünscht habe. Klar, manchmal habe ich mir mehr Nähe oder Verständnis von ihnen erhofft, aber für mich war es immer okay, dass meine Eltern älter sind. Dadurch habe ich früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen und selbstständig zu sein.
Wie beeinflusst deine Familiengeschichte deine Zukunftspläne, sei es in Bezug auf Karriere, Beziehungen oder eigene Kinder?
Meine Zukunft ist schon immer durch den Hintergedanken geprägt, wie lange ich meine Eltern noch haben werde. Wie schnell kommt die Zeit, dass sie ohne Unterstützung nicht mehr alleine zurechtkommen? Und inwiefern kann ich ihnen dann helfen? Ich muss mich einfach viel früher mit der Frage beschäftigen, was passiert, wenn sich meine Eltern nicht mehr um sich selbst kümmern können. Ein Altersheim kommt für mich nicht infrage. Ich weiß, dass meine Eltern das nicht wollen und ich könnte es nicht übers Herz bringen, meine Eltern abzugeben. Vor allem, weil es in der deutschen Pflege immer noch zu Missständen kommt.
Meine Zukunft ist in diesem Sinne mit so vielen Sorgen und Ängsten verbunden. Auch was die Vereinbarkeit von Karriere, Familienplanung und Pflege meiner Eltern angeht. Wird mich mein eigener Vater irgendwann zum Altar bringen können? Können meine Eltern noch ihre Enkel kennenlernen, wenn ich Kinder bekommen sollte? Allgemein stehe ich dem Thema Kinder offen gegenüber und möchte, falls es dazu kommt, jung Mutter werden, um ihnen eine andere Kindheit zu bieten, als ich sie hatte. Da liegt dann aber auch schon das nächste Problem: Ist es überhaupt miteinander vereinbar, eine Karriere zu haben und pflegebedürftige Eltern zu unterstützen, wenn ich ein Kleinkind Zuhause habe und dabei noch irgendwie Zeit für mich zu finden?
Momentan nehmen diese Gedanken nicht viel Platz in meinem Leben ein, ich versuche das auch häufig zu verdrängen. Über die letzten Jahre habe ich gelernt, die gemeinsamen Momente und Erinnerungen mit meinen Eltern wertzuschätzen, auch wenn sie nicht immer nur positiv sind.