Augmented Reality – Der Wirklichkeit einen Schritt voraus

von | 12. Dezember 2013

Nicht jeder kleine Junge will Astronaut werden, und auch die Ausbildungen im IT-Bereich sind seit 2007 rückläufig. Aber es gibt nach wie vor SciFi-Visionen, die die Träume einer Generation widerspiegeln. […]

Nicht jeder kleine Junge will Astronaut werden, und auch die Ausbildungen im IT-Bereich sind seit 2007 rückläufig. Aber es gibt nach wie vor SciFi-Visionen, die die Träume einer Generation widerspiegeln. Einer dieser Träume ist nachweislich fast so alt wie die Informations-Technologie selbst: Der Wunsch, Daten fassbar zu machen.

Diese plakative Formulierung beinhaltet mehr als nur die Möglichkeit, aus Binärziffern Gegenstände zu formen: Sie bedeutet, ohne Reise überall sein zu können. Sie bedeutet, die reale Welt um immaterielle Bestandteile zu erweitern. Sowohl Werbetechnik als auch Spieleindustrie stoßen hier aktuell auf neues Terrain vor: Augmented Reality, erweiterte Realität. Das Format lebt von der Kombination digitaler Informationen mit der physikalischen Welt. Der Realität wird, salopp gesagt, eine zweite Ebene hinzugefügt, die mit Hilfe eines Smartphones, Tablets oder ähnlichem Medium wahrnehmbar ist.

Mit einem Blick in den Google Play Store fällt auf, dass eine Applikation namens „Ingress“ mit über einer Millionen Downloads aktuell klarer Spitzenreiter der Augmented Reality-Games ist. Es handelt sich um ein von Google herausgegebenes Spiel, das den Spieler mittels eines Smartphones und GPS-Tracking in der realen Welt verortet und um ihn herum Spielgegenstände platziert. Mit Spielgegenständen ist alles gemeint, was Spieler aus herkömmlichen Mehrspieler-Formaten kennen: Ausrüstungsgegenstände, strategisch wichtige Orte, Portale, Territorien und Ressourcen.

Ingress: eine verborgene Welt

Das Spiel ist seit Oktober 2013 als kostenlose Betaversion erhältlich, wurde allerdings schon elf Monate vorher geschlossen getestet. Die Hintergrundstory dreht sich um „exotische Materie“, eine von Aliens auf der Erde verteilte Substanz. „EM“ ist in der Lage, die Gedanken von Menschen zu beeinflussen, und spaltet so die Menschheit in zwei Lager: Die Rebellen, die die Ressource vernichten wollen, und die Erleuchteten, die sie beschützen und diese zu nutzen gedenken. Als Spieler wählt man eine der beiden Gruppierungen und erobert in ihrem Namen Portale, die auf der echten Landkarte platziert sind; beispielsweise am Eifelturm oder am Marxkopf in Chemnitz. Symbolisch dargestellt wird das Geschehen durch die Farben blau und grün, die für die jeweilige Partei stehen. Eroberte Portale und Territorien werden in diesen Farben markiert und bilden letztendlich den Punktestand der beiden verfeindeten Parteien.

Sowohl das Spielprinzip als auch das Grund-Setup von „Ingress“ sind zwar einzigartig, aber nicht aus dem Vakuum heraus entstanden. Viele der Konzepte, die das Spielerlebnis ausmachen, sind einfach nur erstmalig in einem Spiel vereint, so zum Beispiel die vollständige Handlungsfreiheit. „Ingress“ bietet, neben dem üblichen, kurzen Tutorial, kaum Handlungsanweisungen. Das Fehlen eines Handbuchs trägt, in Verbindung mit der sozialen Komponente des Spiels, zur Selbstorganisation der Nutzer bei. Via Google+ können Missionsziele und Handlungsstrategien abgesprochen und im Spiel selbst umgesetzt werden.

Mit Hilfe der GPS-Navigation löst das Konzept von „Ingress“ übrigens ein Problem, an dem Spieleentwickler seit Jahren arbeiten: Das völlig frei begehbare Environment. „Jeder Spieler kennt die Frustration, in einem Level diese eine Tür nicht benutzen zu können, weil der Raum dahinter im Spiel nicht vorgesehen ist. Das ist einer der Momente, die einen aus dem Bann der virtuellen Realität reißen“, meint „Ingress“-User Christopher Albe, der in Chemnitz Portale für den Widerstand erobert. Das GPS-basierte Spiel kennt solche Probleme nicht. Es verteilt imaginäre, sammelbare Rohstoffe an unterschiedlichen Koordinaten, die beim Laufen eingesammelt werden, ähnlich den Münzen bei Super Mario. Die Beschaffenheit des realen Geländes ist dabei kein Hindernis; im Gegenteil, sie stellt einen weiteren Spaßfaktor dar.

Das Spiel bleibt dasselbe, doch die Regeln changieren

Ein weiteres, interessantes Feature des Spiels sind die dynamischen Spielbedingungen. Durch den permanenten Internetzugriff kann Google, beziehungsweise der App-Entwickler Niantic Labs, die Applikation permanent updaten und neue Regeln implementieren. Dieses Verhalten trägt zur Langzeitmotivation der Spieler bei und schafft einiges an Ausbaumöglichkeiten in der Zukunft. Schließlich sei die Methode Augmented Reality noch nicht auf ihrem kreativen Zenit angekommen, meint Thomas Schmieder, Projektleiter von Gamecast. Es brauche, so Schmieder, am Beginn einer technologischen Neuerung immer einen kreativen Vorreiter, um die technischen Möglichkeiten auf die nächste Ebene zu heben. Holger Kannler, Projektmanager der Augsburger Neuland Multimedia GmbH fügt hinzu: „Der IT passiert es leider immer wieder, dass sie die emotionale Komponente unterschätzt bzw. nichts mit ihr anfangen kann.“ Höchste Zeit also, darüber nachzudenken, welche Interfaces und Inhalte am besten geeignet sind, Nutzer auch emotional in die erweiterte Realität einzubeziehen.

In der Oktober-PAGE wurde „Ingress“ im Rahmen des Themenkomplexes „Gamification“ aufgegriffen. Ein nachvollziehbarer Zusammenhang, findet Thomas Schmieder: „Ingress“ sei ein Beispiel für die Kombination von spielerischen Anreizen mit der Erfüllung einer realen Aufgabe. Kritisch betrachtet, umfasst diese Aufgabe natürlich zunächst die Einspeisung von Bewegungsmustern in die Datenbank des Herstellers Google. „Google hat als Suchmaschinenhersteller sehr viele Daten und kann diese auch entsprechend effektiv querverlinken. Durch das zusätzliche mobile OS Android verfügt Google über das beste Abhörsystem, das man sich wünschen kann. Die Frage ist: Was macht man mit den gewonnenen Daten? Wozu benutzt man sie?“ Da „Ingress“ Spielern die Möglichkeit bietet, die Map um Portale zu erweitern, bekommt der Suchmaschinenprovider mehr als nur bloße Geo-Koordinaten: Fotos von relevanten Orten in fast jeder europäischen Großstadt. Und dann sind da noch die mobilen Endgeräte selbst. Spieler Christopher Albe weiß: „Ingress ist ständig online und zieht durch die Übermittlung verschiedenster Daten enorm viel Bandbreite. Es liegt also nahe, sich beim Laufen automatisch in offene WLANs einzuloggen, um Kapazität zu sparen.“ Auf diesem Weg erstellt jeder Nutzer laufend ein Profil der Netzwerkinfrastruktur seiner Umgebung. Frei nach der Internet-Weisheit „Wenn du nichts bezahlst, bist du die Ware“ ist die Nutzung von „Ingress“ also nicht wirklich kostenlos. Der Spieler erbringt vielmehr eine Dienstleistung und versorgt Google mit Informationen. Durch sein Bewegungsverhalten gibt er dadurch auch einiges von sich selbst preis.

Gamification: Spiel‘ mir das Lied vom Leben

Neben dem bloßen Entertainment-Faktor kann Augmented Reality auch direkt in die Lebensgestaltung der Nutzer eingreifen. Ein sehr invasives, spielerisches Beispiel für diesen Prozess ist Mint.com. Das Programm fügt dem Finanzhaushalt des Nutzers eine Spielkomponente hinzu, um ihn zu einem sparsamen Leben zu motivieren. Doch die Publisher von spielbasierter Augmented Reality haben langfristig Größeres vor. So heißt es im Mint-Blog: „Die Unternehmen werden beispielsweise versuchen, den Kundenkontakt spielerisch zu gestalten, um einen loyalen Kundenkreis aufzubauen. Arbeitgeber hingegen könnten Arbeitsprozesse spielerisch erweitern, um ihre Angestellten zu einem Verhalten zu motivieren, das dem Unternehmen zu Gute kommt.“ Thomas Schmieder sieht das ähnlich: „Gamification kann Menschen, wie zum Beispiel im Falle der App „Get Neutral“, zu mehr Umweltbewusstsein erziehen. Sie kann langweilige Prozesse durch einen Spielanreiz interessant machen. Und sie kann dich zum joggen bringen, indem dein Smartphone Zombie-Verfolgungsgeräusche einblendet, während du läufst.“ Doch die Schaffung spielerischer Anreize ist nicht alles, was Augmented Reality leisten kann.

Die Eingabegeräte zum Beispiel werfen, für sich genommen, eine weitere Frage zur Zukunft der Augmented Reality auf: Nämlich, wie lange sie noch nötig sind. Hier sind sich Thomas Schmieder und Holger Kannler einig: „Die Interfaces werden verschwinden und mit unserer Welt verwachsen. Voraussetzung dafür ist, dass Computer lernen, unsere Sprache wirklich zu verstehen. Dann ist der nächste große Meilenstein geschafft.“ Thomas Schmieder sieht in dieser Entwicklung das IT-Claim des Jahrzehnts. „Jedes Jahrzehnt in der IT hat ein Thema: Zuerst war es die Digitalisierung, danach die Vernetzung und nun ist es das Verschwinden des Computers. Nach Touchscreens und Kontaktlinsen wird der menschliche Körper vielleicht irgendwann zum Ein- und Ausgabegerät.“ Keine zu gewagte Prognose, wenn man bedenkt, dass zwischen dem ersten Laptop und dem iPhone gerade einmal 25 Jahre vergangen sind.

Wenn ein so prägnanter Teil der IT, wie die klassische Struktur von Input und Output über unterschiedliche Komponenten verschwindet, gibt es dann überhaupt noch unersetzliche, unantastbare Bestandteile eines Programms? Kann Augmented Reality Avatare aus den Spielen verschwinden lassen? Macht sie Konzepte mit linearer Handlung durch ihren direkten Realitätsbezug überflüssig? Wohl kaum, denn, so Thomas Schmieder: „Storytelling ist ein Gestaltungsmittel der Virtual Reality. Mit VR, AR und dem echten Leben verhält es sich ähnlich wie mit Schlaf, Schlummer und dem Wachzustand: es sind unterschiedliche Aggregatzustände, die sich gegenseitig ergänzen. Ersetzen können sich die Zustände allerdings nicht.“

Augmented Reality – ein netter Zusatz?

Holger Kannler von Neuland Multimedia attestiert Augmented Reality allerdings große Potenziale im Handel. „Unsere Kundenaufträge gehen in diesen Bereich, auch wenn es noch Spezialanbieter sind. Für den Tourismus und im Immobilienbereich fallen mir auf Anhieb schon schöne und konkrete Usecases ein.“ Auch die Zielgruppen werde heterogener, spätestens mit der kommenden Generation, für die mobile Daten eine Selbstverständlichkeit sind. Aktuell müssten die Konsumenten allerdings noch zu viel Arbeit investieren und sich gezielt bestimmte Programme herunterladen, um Augmented Reality überhaupt wahrnehmen zu können. Momentan, so Kannler, sei Augmented Reality definitiv kein Konkurrenzentwurf für klassische Online- oder Printwerbung: „Klassische Werbung trifft auch Menschen, die sich mit einem Thema eigentlich nicht beschäftigen. Natürlich mit immensen Streuverlusten, aber die Gießkanne trifft auch Menschen mit geringem Involvement zu einem Thema.“ Generell seien jedoch alle Voraussetzungen für eine positive Entwicklung der erweiterten Realität gegeben, meint Schmieder, dessen Team aktuell selbst an einer AR-Applikation arbeitet. „Mediale Entwicklungen benötigen Technik, einen Markt und ein Publikum. Und Inhalte. Etabliert sich ein Produkt nicht, liegt es daran, dass einer dieser Faktoren fehlt.“

Kehrt man zum Beispiel „Ingress“ zurück, lassen sich alle vier Punkte bestätigen. Smartphones mit schnellen Prozessoren und der Möglichkeit genauer Raumnavigation bieten alle Möglichkeiten, die Augmented Reality fordert. Der Werbemarkt verzeichnet dem Verband Privater Rundfunk und Telemedien e.V. zufolge nach einem Tief im Jahr 2009 inzwischen wieder ein Wachstum. Speziell davon betroffen sind die Online- und Mobile-Segmente, sodass der Markt samt Kundschaft als gegeben betrachtet werden kann. Auch das Vorhandensein von Content dürfte für Google kaum ein Problem darstellen. Der Suchmaschinenbetreiber hat zudem ein eigenes Betriebssystem und eigene Interfaces, wie zum Beispiel die Google Glass, zur Hand. Umso spannender wird es in den kommenden Monaten sein, zu verfolgen, was kleinere Entwickler sich einfallen lassen, um gegen den Software-Riesen zu bestehen. Scheinbar unbesiegbare Konkurrenz fördert ja bekanntlich die Kreativität.

Text und Grafik: Clemens Arnold

<h3>Clemens Arnold</h3>

Clemens Arnold

Redakteur