Mal wieder ist es 23 Uhr. Nach einem langen Tag voller Vorlesungen, scheinbar endlos langen Meetings für Gruppenarbeiten sowie dem Berg an Abwasch, den man die letzten Tage erfolgreich ignoriert hat, fällt man geschafft ins Bett. Schlafen? Wohl eher erstmal Instagram checken und eine Folge der Lieblingsserie anschauen. So richtig aufmerksam ist man nicht mehr und die Augen fallen auch schon langsam zu. Dennoch zwingt man sich dazu, wach zu bleiben, um diese Zeit nur für sich zu genießen. Woran liegt das?
NUR NOCH EINE FOLGE
Unter dem Begriff „Prokrastination“ versteht man das Aufschieben einer Aufgabe mit dem Bewusstsein, dass dies negative Auswirkungen auf das Erfüllen dieser haben wird. Prokrastiniert eine Person, so priorisiert sie in der Zwischenzeit meist andere Aktivitäten, die ihr selbst mehr Freude bereiten oder einfacher zu erledigen sind. Die „bedtime procrastination“, auf Deutsch so viel wie „Zubettgeh-Prokrastination“, stellt dabei eine spezielle Form dieses Aufschiebens dar. Sie beschreibt ein Verhalten, bei dem das Schlafengehen ohne einen stichhaltigen Grund hinausgezögert und der damit einhergehende Schlafentzug in Kauf genommen wird. Statt zeitig schlafen zu gehen, wird von Betroffenen beispielsweise eine weitere Folge der Lieblingsserie eingeschaltet oder stundenlang durch TikTok und Instagram gescrollt. Dieses Handeln führt letztendlich zu Schlafmangel und Übermüdung. In den meisten Fällen lernen betroffene Personen nicht aus den Fehlern des Vorabends und wiederholen das Verhalten am nächsten Tag.
URSPRUNG DES BEGRIFFS
Die Bezeichnung „bedtime procrastination“ wurde erstmals 2014 in einer Studie der niederländischen Sozial- und Verhaltensforscherin Floor M. Kroese gebraucht. In dieser ersten, nicht repräsentativen Studie gaben rund 75 Prozent der 2637 befragten Niederländer an, dass sie mindestens einmal wöchentlich ohne einen ersichtlichen Grund später als geplant ins Bett gehen. Diese Ergebnisse deuteten bereits zum damaligen Zeitpunkt an, dass das Aufschieben des Schlafengehens ein weit verbreitetes Phänomen innerhalb der Bevölkerung ist. Im Zuge der COVID-19-Pandemie erlangte das Verhalten dann breitere Aufmerksamkeit. So versuchten viele Menschen, Mitbestimmung über einen Teil ihres Tages zu gewinnen und diesen am Abend mit einem schönen Erlebnis zu beenden.
In den sozialen Medien ist oftmals auch von „revenge bedtime procrastination“ die Rede. Dieser englische Begriff, welcher sinngemäß so viel wie „aus Rache zu spät ins Bett gehen“ bedeutet, geht auf den chinesischen Ausdruck „bàofùxìng áoyè“ zurück. Aufgrund von langen Arbeitstagen stellen die Minuten vor dem Zubettgehen für die Menschen in China das einzige Zeitfenster dar, in dem sie selbstbestimmt Aktivitäten nachgehen können. Die Rache richtet sich also in diesem Zusammenhang gegen den gefüllten Terminkalender und die tagsüber fehlende Freizeit.
SELBSTSABOTAGE
Neben einem anspruchsvollen Studium, dem Haushalt, Freunden oder der Familie bleibt die „Me-Time“ für eine Vielzahl an Menschen außen vor. Daher ist das Ziel vieler Personen, die „bedtime procrastination“ betreiben, am Abend ein paar Minuten nur für sich zu finden. Was nach einem Akt der Selbstliebe klingt, liegt in Wahrheit an mangelnder Selbstkontrolle. Darunter versteht man die Fähigkeit einer Person, das eigene Handeln durch das Unterdrücken innerer Impulse zu kontrollieren und zu steuern. Dies kann beispielsweise durch das Einhalten von Zeitplänen oder das Zurückhalten von unüberlegten Äußerungen in emotional aufgeladenen Situationen erfolgen. So nahm bereits die Studie von Floor M. Kroese an, dass Personen, die Schwierigkeiten mit ihrer Selbstregulierung haben, vermehrt unter „bedtime procrastination“ leiden. Fällt es einem also schwer, spontane Käufe zu vermeiden oder Deadlines einzuhalten, dann ist es wahrscheinlicher, dass man auch das Schlafengehen hinauszögert. Hinzu kommt, dass die Entscheidung, ins Bett zu gehen, zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gefällt werden muss: Am Ende des Tages ist die Fähigkeit zur Selbstregulierung typischerweise am schwächsten.
DER FRÜHE VOGEL FÄNGT DEN WURM?
Einen weiteren Grund für das Betreiben von „bedtime procrastination“ vermutet die Forschung in den jeweiligen Chronotypen der Betroffenen. Alle Menschen besitzen eine innere biologische Uhr, welche bestimmt, zu welchen Uhrzeiten sie aufwachen, schlafen oder am produktivsten arbeiten können. Neben der Genetik wird dieser persönliche Rhythmus durch andere Umweltfaktoren, wie zum Beispiel den vorherrschenden Lichtverhältnissen, bestimmt. Chronotypen fassen diese individuellen Unterschiede in verschiedenen Kategorien zusammen und bilden so eine Skala von den frühen „Lerchen“ bis hin zu den nachtaktiven „Eulen“. Letztere Personen tendieren dazu, später ins Bett zu gehen und dafür am folgenden Morgen auszuschlafen. Einer Untersuchung aus dem Jahr 2018 zufolge zeigen Menschen mit einem späten Chronotypen eher eine Tendenz zu „bedtime procrastination“ als beispielsweise Frühtypen. Müssen „Eulen“ aufgrund ihres Jobs oder anderen Verpflichtungen zeitiger aufstehen, als es ihr biologischer Rhythmus vorgibt, versuchen sie meist, sich zum frühen Schlafengehen zu zwingen. Funktioniert dies nicht, lenken sie sich anderweitig ab und praktizieren dementsprechend „Zubettgeh-Prokrastination“.
DIE TRAGWEITE DES AUFSCHIEBENS
Wer nur gelegentlich zu spät ins Bett geht, wird kaum ernsthafte gesundheitliche Probleme erleben. Wirklich problematisch wird das Herauszögern der Schlafenszeit erst bei dauerhaftem Schlafentzug. Studien zeigen, dass unzureichend Schlaf Probleme im Zusammenhang mit dem geistigen und körperlichen Wohlbefinden verursachen kann. So benötigt der menschliche Körper Schlaf, um optimal zu funktionieren und sich vollständig zu regenerieren. Entfällt diese notwendige Erholung, können gesundheitliche Probleme auftreten. In der Regel wirken sich die fehlenden Stunden Schlaf zuerst negativ auf die Konzentrations- und Entscheidungsfähigkeit sowie auf die Erinnerungsfunktion aus. Betroffenen fällt es dadurch schwerer, Aufgaben fokussiert auszuführen oder sich in erster Linie an diese zu erinnern. Des Weiteren wird es zunehmend zur Herausforderung, Emotionen zu regulieren und es kommt zu erhöhter Reizbarkeit. Langfristig betrachtet können laut dem Schlafforscher Werner Cassel vom Uniklinikum Marburg eine Vielzahl an Beschwerden auftreten. So seien Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder eine Schwächung des Immunsystems nur zwei Beispiele. Andere Studien berichten zudem von einem erhöhten Risiko, an Stoffwechselstörungen wie Diabetes zu erkranken. Darüber hinaus wurden Verbindungen zwischen Schlafmangel und psychischen Erkrankungen, wie beispielsweise Depressionen oder Angststörungen, festgestellt.
DIE SPIRALE DURCHBRECHEN
Doch was kann man tun, um den Kreislauf zu unterbrechen? Allgemein betrachtet können klare, feste Regeln helfen. So kann man das Handy zum Beispiel 30 Minuten vor der geplanten Schlafenszeit das letzte Mal verwenden oder es, je nach Möglichkeit, komplett aus dem Schlafzimmer ausschließen. Werner Cassel zufolge können zudem eine festgesetzte Routine oder regelmäßig durchgeführte Rituale helfen, sich wieder an das rechtzeitige Schlafengehen zu gewöhnen. Dabei sei es wichtig, jeden Abend die gleichen Schritte in derselben Reihenfolge zu wiederholen: beispielsweise Zähne putzen, ins Bett legen, lesen, Licht ausmachen. Durch dieses Verhalten helfe man dem Kopf, vom Alltag abzuschalten und in einen Zustand der Entspannung einzutauchen, was den Übergang zum Schlaf erleichtere. Eine ebenso große Rolle für das Zubettgehen spielt neben der Entspannung auch der Schlafplatz selbst. Ein dunkles, kühles und ruhiges Schlafumfeld mit einer bequemen Matratze kann das Einschlafen erleichtern.
Um die eigene Selbstkontrolle zu stärken, rät eine Studie von Floor M. Kroese zu sogenannten „Implementierungsintentionen“. Einfach gesagt beschreibt dieser Begriff das Formulieren von kurzen Sätzen im Wenn-Dann-Format, welche eine bestimmte Handlung mit einer entsprechenden Reaktion verknüpfen. Diese Sätze sollen schließlich helfen, ein ursprünglich intendiertes Verhalten auch tatsächlich in die Tat umzusetzen. Ein Beispiel für das Aufschieben des Schlafengehens wäre: „Wenn ich nach 23 Uhr noch TikToks im Bett schaue, dann werde ich die App schließen und mein Handy auf den Schreibtisch legen.“
Floor M. Kroese und ihre Kollegen sagen zudem, dass Einsicht der erste Schritt zur Besserung sei. Man solle sich selbst eingestehen, dass das eigene Verhalten problematische Züge annehme und sich bewusst machen, welche Konsequenzen das Handeln für den kommenden Tag haben werde. Vielleicht schließt man YouTube oder TikTok dem Wecker zuliebe dann doch lieber und flüchtet stattdessen in eine andere Traumwelt.
Kurzkommentar der Autorin
EIN TATSÄCHLICHES PROBLEM
Leider muss auch ich mich als schuldig bekennen und gestehen, dass ich allein in der letzten Woche fast jeden Abend ohne einen triftigen Grund zu spät ins Bett gegangen bin. Bei einer Hausarbeit, mehreren fälligen Gruppenarbeiten und einer nahenden Deadline für einen medienMITTWEIDA Artikel blieb einfach keine Zeit mehr, die vierte Staffel von „Grey’s Anatomy“ zum zehnten Mal anzuschauen. Dass ich fast jeden Abend über einer Folge eingeschlafen bin und sie am nächsten Tag nochmal von vorne beginnen musste, bleibt dabei gerne unter uns.
Zugegeben: „Bedtime procrastination“ stellt für mich tatsächlich ein großes Problem dar. Deshalb habe ich mir von der Recherche zum Thema „Gegenmaßnahmen“ viel erhofft. Leider wurde ich dabei ein wenig enttäuscht und habe in all den Studien, Artikeln und Videos nicht die Sofortlösung für mich gefunden, nach der ich hoffnungsvoll gesucht habe. Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als meinen eigenen Rat zu befolgen und mir einzugestehen, dass mein Verhalten so langsam aber sicher problematische Züge annimmt. Was mein Date mit „Grey’s Anatomy“ betrifft, so muss die gefühlt fünfte Trennung von Meredith und Derek leider doch bis morgen auf mich warten…