INTERVIEW

„Es fühlt sich an wie ein ständiger Kampf im Kopf“

von | 14. Februar 2025

Leben mit Borderline. Ein ständiges Gefühlschaos. Ein Interview mit Michelle*.

*Triggerwarnung: Der folgende Text enthält sensible Themen über selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken, Alkoholkonsum und sexuelles Verhalten. 

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine psychische Erkrankung, die das Leben der Betroffenen oft zu einer großen Herausforderung macht. Im Gespräch mit medienMITTWEIDA spricht Michelle offen über ihre Erfahrungen und den täglichen Kampf mit ihrer Diagnose.

Borderline

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erleben starke Stimmungsschwankungen und kämpfen mit weiteren Herausforderungen wie instabilen Beziehungen und impulsiven Verhalten. Intensive und oft widersprüchliche Gefühle sind ebenfalls zentrale Merkmale der Erkrankung. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung entsteht durch ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung, neurobiologischen Veränderungen, traumatischen Kindheitserlebnissen und psychosozialer Instabilität, die gemeinsam die emotionale Regulierung und Beziehungsfähigkeit beeinträchtigen.  Viele Betroffene versuchen, unerträgliche innere Anspannungen zu lindern, indem sie sich auf unterschiedliche Weise selbst verletzen. Obwohl Borderline nicht heilbar ist, können Betroffene lernen, besser mit der Erkrankung umzugehen und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Wann hast du die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung erhalten?

Ich wurde erst Ende 2024, also vor kurzem, im Alter von 21 Jahren mit Borderline diagnostiziert. Anfangs war ich sehr schockiert und brauchte einige Zeit, um diese Diagnose zu verarbeiten. Ich hatte mich in die Therapie begeben, weil ich einfach nicht mehr konnte und nicht wusste, wie ich mit meinem Leben weitermachen sollte. Jeden Tag fühlte ich eine schmerzhafte Leere, die mich völlig überwältigte. Am Anfang ging ich davon aus, dass ich einfach „nur“ an Depressionen litt, und hatte keine Ahnung, dass es sich tatsächlich um Borderline handeln könnte.

Wie erhält man seine Diagnose?

Es ist sehr leicht, eine Borderline-Diagnose zu erhalten, weshalb viele auch falsch diagnostiziert werden. Es gibt neun „Hauptsymptome” um Borderline diagnostiziert zu bekommen, braucht man selbst nur fünf dieser neun. Das Problem besteht darin, dass sich die Symptome mit denen anderer Krankheiten ähneln oder zum Teil gleich sind. Viele haben mir erzählt, dass bei ihnen Borderline festgestellt wurde, obwohl sie tatsächlich Autismus haben. Die Symptome sind so ähnlich, dass sie falsch diagnostiziert wurden. Selbstverständlich können Menschen beide Krankheiten haben.

 Zwei Therapeuten haben es bei mir selbst bestätigt. Sie haben sich beide lange Zeit gelassen, um mir die richtige Diagnose zu geben, damit ich auch tatsächlich die richtige Therapie beginnen kann, die mir helfen soll. 

Im Endeffekt bin ich sehr dankbar, dass ich endlich meine Diagnose erhalten habe. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, und ich konnte mich selbst nie wirklich verstehen. Jetzt kenne ich meinen Auslöser und kann besser nachvollziehen, warum ich so fühle und handle, wie ich es tue.

Welche Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung hast du vor deiner Diagnose gehabt? 

Natürlich sind die Symptome bei jedem anders. Bei mir waren es:

  • Selbstverletzendes Verhalten und Suizidgedanken 
  • Chronisches Gefühl von Leere 
  • Starker Selbsthass und Selbstkritik 
  • Starke Stimmungsschwankungen 
  • Instabile Beziehungen 
  • Große Angst vor dem Verlassenwerden 
  • Impulsive Verhaltensweisen wie Geldausgabe oder Alkoholkonsum
  • Schwarz/Weiß denken alles ist sehr gut oder alles ist sehr schlecht. Es gibt kein dazwischen.

Weißt du, was bei dir der Auslöser für die Erkrankung war?

Die Entstehung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wird oft mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung gebracht, insbesondere die in der Kindheit stattfinden. In meinem Fall begann es, als mir meine Eltern nach der Geburt meiner Geschwister deutlich weniger Aufmerksamkeit schenkten. Ich fühlte mich vernachlässigt und emotional allein gelassen. Dieses Gefühl hat sich tief in mir verankert und wurde zu einem entscheidenden Auslöser für meine späteren Schwierigkeiten.

Wann hast du dich das erste Mal selbstverletzt?

Es begann, als ich 14 Jahre alt war. Damals fing ich an, meinen Kopf oder meine Faust gegen die Wand zu schlagen und ich schlug auch auf mich selbst ein zum Beispiel auf mein Bein oder meinen Kopf. Mit 14 Jahren entwickelten sich bei mir Suizidgedanken, die mich bis heute begleiten, und ich entschied mich schließlich, Hilfe zu suchen. Mit 17 Jahren kam dann das Ritzen hinzu, bis ich 19 Jahre alt war. Zwei Jahre lang war ich clean, jedoch habe ich mit 21 wieder damit angefangen. Weitere selbstverletzende Verhalten waren bei mir starker Alkoholkonsum, aber auch starkes Sexverhalten. Im Alter von 15 Jahren hatte ich auch eine Essstörung, bei der mir aber mein späterer Ex-Freund half, diese zu bewältigen.

Es ist, als würde sich eine starke innere Anspannung aufbauen, die kaum auszuhalten ist – und die einzige Möglichkeit, diese Spannung zu lösen, scheint darin zu bestehen, sich selbst zu verletzen. Bei meinen Wutausbrüchen habe ich oft Dinge kaputt gemacht, egal was mir in den Weg kam – wie zum Beispiel meine Badtür, den Spiegel, Geschirr, meinen Kleiderschrank und andere kleinere Gegenstände.

Wie würdest du das Erleben deiner starken Stimmungsschwankungen beschreiben?

Es ist schrecklich. Es fühlt sich an wie ein ständiger Kampf im Kopf, den man nie gewinnen kann. Manchmal erlebt man alle Emotionen innerhalb kurzer Zeit – von Wut über Traurigkeit bis hin zu Verzweiflung. Danach fühlt man sich oft müde und erschöpft, und das Schlimmste ist, dass man den Auslöser nicht kennt. Die Emotionen sind einfach da, ohne Vorwarnung. Besonders auf der Arbeit oder in der Uni bin ich oft überfordert. Häufig sperre ich mich auf der Toilette ein oder gehe nach Hause, weil ich nicht möchte, dass andere etwas davon mitbekommen.

Am häufigsten haben meine Eltern und mein Ex-Freund diese Ausbrüche miterlebt. Vor meiner Diagnose hatte ich häufig Streit mit meinen Eltern. Sie sagten oft Dinge wie: Komm wieder runter”, doch diese Worte machten mich nur noch wütender. Ich begann auch schnell zu weinen, woraufhin ich mir anhören musste: „Hör auf zu weinen“, „Du kannst doch nicht immer anfangen zu weinen“, „Müssen wir dich einweisen lassen, oder was?“ oder sogar: „Dein Therapeut braucht einen Therapeuten nach dir.“ Das alles nur, weil ich weinte. Diese Reaktionen waren für mich extrem verletzend. Danach fühlte ich mich immer noch schlechter, weil ich das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich dachte, ich dürfte diese Emotionen nicht fühlen, weil sie „sinnlos“ oder „übertrieben“ seien. Ich war überzeugt davon, dass niemand mich wirklich versteht.

Wie erlebst du das Studium mit Borderline und welche Herausforderungen entstehen für dich im Uni-Alltag?

Auch hier herrscht bei mir oft ein absolutes Gefühlschaos. An manchen Tagen bin ich motiviert, aber dann gibt es auch Tage, an denen mich Panikattacken überwältigen und ich es nicht einmal aus dem Bett schaffe, weil es mir so schlecht geht. Generell habe ich bei allem, was ich mache, das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Ich denke oft, ich sei zu dumm für alles, und das bringt mich immer wieder stark zum Zweifeln. Meine Stimmungsschwankungen machen es zudem unglaublich schwer, mich auf Vorlesungen zu konzentrieren oder effektiv für Prüfungen zu lernen. Häufig habe ich sogar Blackouts während den Klausuren, was die Situation noch belastender macht.

Du hast von instabilen Beziehungen erzählt – welche Auswirkungen hatte Borderline auf die Beziehung mit deinem Ex-Freund?

Meine Beziehung zu meinem Ex-Freund war eine Achterbahnfahrt. Ich konnte ihn in einer Minute lieben und in der nächsten so stark hassen, dass ich richtig ausgerastet bin und alles an ihm rausließ. Durch den intensiven Selbsthass, den ich hatte, brauchte ich ständig Aufmerksamkeit von ihm, da ich mich sonst nie gut genug fühlte. Ich begann oft Streitereien mit Aussagen wie „Du liebst mich nicht“ oder „Du willst doch andere Frauen“. Natürlich konnt  ich ihm nicht glauben, dass er mich wirklich liebte, obwohl er es mir immer wieder versicherte. Ich überschritt oft seine Grenzen, um zu testen, wie sehr er mich wirklich liebte und ob er bleiben würde. Diese ständigen Schwankungen zwischen Nähe und Distanz machten es schwer, eine stabile Beziehung aufrechtzuerhalten.

Manche Streitsituationen eskalierten so sehr, dass er manchmal Zeit für sich alleine brauchte was eine natürliche und verständliche Reaktion ist. Für mich war das aber die Hölle. Ich dachte: „Wie kannst du mich nur alleine lassen?“ Diese Momente verstärkten meine Angst, ihn endgültig zu verlieren. Ich fühlte mich so, als würde mein Herz in tausend Stücke zerbrechen, weil ich mir einredete, dass er mich verlassen könnte. In meiner Angst und Verzweiflung sabotierte ich mich selbst und damit auch die Beziehung. Meine intensiven Emotionen und das ständige Testen seiner Liebe haben unsere Verbindung oft toxisch gemacht, obwohl ich nichts anderes wollte, als ihn in meinem Leben zu haben.

Wie erlebst du es, wenn du plötzlich das Gefühl hast, deine Emotionen nicht mehr kontrollieren zu können? 

Ich schäme mich in Grund und Boden. Es ist mir unglaublich unangenehm, wenn eine Person, die ich liebe, mich in solchen Momenten sieht. Ich übernehme immer zu 100 Prozent die Verantwortung für mein Handeln. Auch wenn ich verletzende Dinge sage, tut es mir unendlich leid. Oft will ich das in dem Moment selbst nicht, aber es passiert einfach. Doch ich weiß, dass meine Borderline-Diagnose keine Ausrede für solches Verhalten ist. Es liegt an mir, daran zu arbeiten und mich zu verändern.

Welche Methoden oder Strategien hast du im Laufe der Zeit entwickelt, um mit der inneren Anspannung umzugehen?

In der Therapie wird bei mir die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) angewandt. Dabei handelt es sich um ein gezieltes „Skill“-Training, bei dem man lernt, mit den Herausforderungen des Borderline-Alltags umzugehen. Es werden verschiedene Techniken und Hilfsmittel eingesetzt, wie zum Beispiel Kirschkerne in die Schuhe legen und damit spazieren gehen oder ein scharfes Bonbon lutschen, um die Aufmerksamkeit gezielt umzulenken.

Es gibt eine Vielzahl an Produkten und Methoden, die einer Person mit Borderline helfen können. Klassiker wie ein Haargummi um das Handgelenk schnipsen sind ein guter Anfang, aber irgendwann reicht das für mich nicht mehr aus. Etwas, das mir besonders hilft, ist kaltes Duschen. Der plötzliche Kältereiz hat den Effekt, dass ich sofort herunterkomme und mich besser auf mich selbst konzentrieren kann.

Wie siehst du die Therapie von Borderline? Denkst du, dass eine Behandlung langfristig helfen kann, mit der Erkrankung besser umzugehen?

Ich habe bisher noch keine Antwort darauf gefunden, da meine Therapie erst begonnen hat. Borderline kann nicht geheilt werden, aber mein Therapeut sagt, dass es möglich ist, besser damit umzugehen. Die größte Herausforderung bisher war, einen geeigneten Therapeuten zu finden. Viele zögern, Menschen mit Borderline aufzunehmen, weil die Therapie als besonders schwierig gilt. Es wird oft angenommen, dass wir häufiger Therapien abbrechen, sodass uns viele Therapeuten nicht behandeln wollen. Diese Hürden machen es noch schwerer, Hilfe zu finden und sich unterstützt zu fühlen.

Wie hat sich deine Beziehung zu deiner Familie und deinen Freunden entwickelt, seitdem du deine Diagnose erhalten hast?

Nach meiner Diagnose habe ich sofort meine beste Freundin angerufen – sie war genauso schockiert wie ich. Danach habe ich es meinen Eltern gesagt, aber anfangs wollten sie mir nicht glauben. Sie behandelten mich einfach genauso wie vorher, was mich tief verletzt hat. Es fühlte sich an, als würde meine Diagnose nicht ernst genommen werden. Nach einiger Zeit haben sie sich jedoch mit Borderline auseinandergesetzt und haben erkannt, wie ernst die Erkrankung ist. Seitdem ist vieles besser geworden. Sie fragen jetzt häufiger nach, wie es mir geht, und wenn ich weine, darf ich das auch ohne Vorwürfe. Das Wichtigste ist, dass sie versuchen, mich zu verstehen, und das bedeutet mir unglaublich viel.

Auch meine Freunde, denen ich davon erzählt habe, waren sehr schockiert. Viele von ihnen melden sich viel häufiger, rufen mich an oder schreiben mir, um sicherzugehen, dass es mir gut geht. Ich fühle mich unglaublich geliebt und bin unfassbar dankbar für all die Unterstützung.

Welche positiven Eigenschaften oder Einsichten hast du durch deine Erfahrungen mit Borderline gewinnen können?

Ich bin ein extrem empathischer Mensch und genau das schätzen meine Freunde sehr an mir. Sie kommen gerne zu mir, um über alles Mögliche zu reden, weil sie sich bei mir immer verstanden fühlen. Sie freuen sich sehr über die Tipps und Ratschläge, die ich ihnen in schwierigen Situationen geben kann. Es macht mich glücklich, ihnen zu helfen und zu sehen, wie sie glücklich sind. 

Was ich herausgefunden habe, ist, dass nicht nur ich, sondern viele andere, die an Borderline erkrankt sind, eine hohe Schmerztoleranz haben. Ich weiß nicht, ob es ein „Ding“ ist, aber ich liebe Piercings und Tattoos und habe nie Probleme mit dem „Schmerz“, wenn ich welche bekomme.

Was wünschst du dir für deine Zukunft?

Ich wünsche mir sehr, dass es mir besser geht und dass ich besser mit meinem Borderline umgehen kann. Es ist ein ständiger Kampf, und das schlimmste Gefühl für mich war, einige Menschen verletzt zu haben. Es ist für mich ein wichtiger Anstoß, an mir selbst zu arbeiten, um in Zukunft meine Gefühle besser im Griff zu haben und niemandem mehr zu schaden.

* Name geändert

Text: Sarah Reppe, Titelbild: pixabay

<h3>Sarah Reppe</h3>

Sarah Reppe

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteur seit dem Sommersemester 2024.