Neues Format: Seiteneinblick

Gänsehaut und Gruselspaß

von | 27. Oktober 2023

Drei Bücher, die euch ganz bestimmt auf die Herbst- und Halloweenzeit einstimmen.

Es ist wieder soweit – die wohl gruseligste Zeit des Jahres steht bevor. Da ihr euch aber bis zum 31. Oktober noch ein paar Tage gedulden müsst, folgt hier unser Versuch, eure  Wartezeit zu versüßen. Statt der allseits beliebten Halloween-Naschereien haben wir dafür drei herbstliche Schmöker in petto. Egal ob übernatürlicher Horror, Cosy Crime oder fesselnder Thriller: In unserem neuen Seiteneinblick findet ihr genau das Richtige für den nächsten verregneten Nachmittag im Lesesessel.

Seiteneinblick

Mit unserem „Seiteneinblick” bieten wir eine Ergänzung zu unseren etablierten Formaten „Nacho-Time” und „Couch-Kritik”: Statt Filmen und Serien rezensieren wir hier für euch Werke aus der Welt der Literatur, die sich anhand eines thematischen Aufhängers miteinander vergleichen lassen.

Aber was ist Herbstlektüre überhaupt? Drei Autorinnen, drei Meinungen: 

Kira: Für mich ist Oktober die Zeit von Halloween, schlechten Horrorfilmen und dem Spaß am Schaurigen. Auch meine Buchwahl für diesen Seiteneinblick reflektiert dies. In der Booktok-Horror-Szene wurde mein ausgewähltes Buch freudig erwartet – was bei dem Autor auch kein Wunder ist. New-York-Times-Bestseller, mit dem Bram-Stoker-Award ausgezeichnet und Gründer des Merrimack Valley Halloween Book Festival, also ein Meister der Horrorliteratur. Meine Erwartungen sind dementsprechend hoch. Süßes oder Saures, meine Lieben. 

Jessy: Schaurige Schreckensgeschichten sind für mich eher nichts. Mein literarischer Herbst ist normalerweise von echten Kriminalklassikern geprägt. Allerdings habe ich mir sagen lassen, dass es Sherlock Holmes”-Rezensionen mittlerweile zur Genüge gibt und mich deshalb in diesem Jahr für einen aktuelleren Spannungsroman entschieden. Hiervon erhoffe ich mir einen nicht weniger packenden Plot, der den Leser am Anfang noch nicht ansatzweise erahnen lässt, was ihn auf den folgenden Seiten erwartet.

Anni: Für Spannung bin ich ja durchaus auch zu gewinnen. Ob es dann immer gleich der ganz große Nervenkitzel sein muss? Mit kürzer werdenden Tagen und nasskaltem Wetter ist der Herbst doch wirklich trist genug. Dann lieber etwas „Cosy Crime“ mit Kuscheldecke, Keksen und Kakao. Wenn kluge Rätsel sich mit gewitzten Charakteren abwechseln, wird auch der tristeste Oktobertag zum goldenen Herbstnachmittag.

Kira: All Hallows

Es ist der Abend des 31. Oktober 1984 – eine Kleinstadt erwacht zum Leben, geschmückt im schaurig schönen Halloween-Kitsch. Doch im milden Schein des Kerzenlichts kriecht Böses von Haus zu Haus. Während Familiengeheimnisse enthüllt werden, wandert nicht nur ein Killer-Ehepaar auf der Parmenter Road auf und ab. Denn unter die Einheimischen gemischt, versuchen sich vier weitere Kinder vor irgendwem oder irgendwas zu verstecken. Pass auf, wem du traust, wenn sich Gelächter in wahre Schreie des Grauens verwandeln. All Hallows, die eine Nacht, in der jeder eine Maske trägt.  

Christopher Goldens neuester Roman All Hallows erschien im September 2023 bei Titan Publishing Group. Derzeit ist der Horror-Supernatural-Thriller nur auf Englisch erhältlich.

Foto: Kira Lange

Süßes sonst gibts Saures

Halloween, eine Kleinstadt und übernatürliche Wesen, die ihr Unwesen treiben. All Hallows” scheint das perfekte Konzept für einen weiteren Horror-Klassiker zu haben, der sich rund um die wohl gruseligste Nacht des Jahres dreht. 

Doch schon nach wenigen Kapiteln taucht das erste große Problem des Buches auf. Es gibt keine eindeutige Hauptperson. Nur einen ständig wechselnden Erzähler, welcher die Geschichte der verschiedenen Familien über den Abend hinweg erzählt. Das sorgt aber eher für Verwirrung als für Nervenkitzel. Ohne Personenverzeichnis ist es fast unmöglich, sich jeden Charakter und deren Beziehungen zu merken. Zusammen mit den Handlungssträngen innerhalb der Familien ergibt sich daraus ein kompliziertes Netz an Geschichten und Informationen. Irgendwie fügen sich diese zwar im Laufe des Geschehens zum Großteil zusammen, trotzdem hinterlässt es Fragezeichen und Lücken. 

Dagegen ist die Darstellung der Charaktere menschlich sehr gelungen. Die Familien und deren Probleme fühlen sich realistisch und nachvollziehbar an. Dass der Roman sowohl aus Sicht von Erwachsenen als auch von Kindern geschrieben wurde, gibt dem Buch zusätzlich Tiefe. Denn so werden die gleichen Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven geschildert und vor allem für junge Leser nachvollziehbarer. Mal mehr, mal weniger gelungen macht der Großteil der Figuren eine charakterliche Entwicklung durch, die nicht nur Sympathie aufbauen lässt, sondern auch die Geschichte interessant hält.

Bis zur Mitte des Buches baut sich so eine anhaltende Spannung auf. Mit jeder Buchseite wächst das Horrorgefühl ein bisschen mehr, bis sich schließlich das zeigt, worauf der Leser gewartet hat: das böse Übernatürliche. Und damit geht es auch leider bergab.

Zum einen sind die Beschreibungen der Wesen teilweise wirklich lachhaft. Von Händen und Fingern aus Ästen bis zu einem Schädel, in dem Kerzen anstelle von Augen sitzen. Außerdem bleibt die Handlung undurchsichtig, während sich ängstliche Gänsehaut langsam zu verwirrtem Kopfschütteln wandelt. Obwohl sich All Hallows” für alle Fans von Stephen King anpreist, erinnert es mich eher an eine sehr verkorkste Parodie davon. Hier aber auch eine kurze Triggerwarnung, denn von Blut und expliziter Gewalt gibt es sehr viel mehr, als sich am Anfang vermuten lässt. 

Was dem Ganzen auch nicht weiterhilft, ist der eigentliche Mythos dahinter – denn nach dem kurzen Befragen einer Suchmaschine stellt man fest: Huch, das ist doch eigentlich keltische Mythologie. Etwas verschleiert und angepasst, lassen sich die Grundzüge des Mythos um die böse Hexe Carman trotzdem herauslesen. Einen Hinweis darauf findet man in der Beschreibung allerdings nicht – nur durch die übernommenen Namen lässt sich darauf zurückschließen. Doch die Frage bleibt: Warum existiert keltische Mythologie mitten in einer US-Kleinstadt der 80er Jahre? 

In All Hallows” ist der warme, farbenfrohe Herbst schon lange vorbei. Der Roman erweckt die kühle Beklemmung der Novembertage und vermittelt damit eine eher düstere Herbststimmung.

Obwohl mit verschiedenen Ebenen von Angst gespielt wird, endet die Geschichte in einem flachen Wirrwarr. Es scheint, als hätte sich Christopher Golden zu viel für die knappen 400 Seiten vorgenommen. Viele angeschnittene Handlungsstränge, die nie oder nicht sinnvoll aufgelöst werden. An vielen Stellen wird schnell runtererzählt, sodass dem Leser nicht nur wichtiger Kontext fehlt, sondern auch potenzielle Gruselszenen verloren gehen. Für einen Autor, der genau in dieser Szene berühmt-berüchtigt ist und schon mehrfach ausgezeichnet wurde, hätte ich mehr erwartet.

Tonight, the woods would be full of screams, and he intended to cherish every last one.

Christopher Golden

Jessy: Der Tausch

Während Claire Cook von außen betrachtet ein beneidenswertes Dasein führt, lebt die Politikergattin insgeheim seit Jahren in einer von Gewalt gezeichneten Ehe. Als sie auf dem Weg zu einer Dienstreise am Flughafen zufällig auf Eva trifft, bietet sich ihr eine einmalige Gelegenheit: Die unbekannte Frau würde ihrem bisherigen Leben ebenfalls gern den Rücken kehren und lässt sich auf einen Tausch der Bordkarten ein. Beide erhoffen sich damit die Chance auf einen Neustart. Doch so leicht ist es nicht, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Evas Flugzeug verunglückt auf dem Weg, ihr Sitz wird bei den Bergungsarbeiten allerdings leer vorgefunden und Claire muss allmählich feststellen, dass ihre Tauschpartnerin nicht mit offenen Karten gespielt hat.

Foto: Jessy Schrödter

Freaky Friday mit Folgen

Mit ihrem SPIEGEL-Bestseller Der Tausch” aus dem Jahr 2021 widmet sich Julie Clark einer Frage, die sich vermutlich jeder schon einmal gestellt hat: Ist es möglich, einfach zu verschwinden und das bisherige Leben hinter sich zu lassen?

Eine Antwort darauf bietet sie dem interessierten Leser auf den 392 Seiten ihres ersten Thrillers. Typisch für das Genre ist eine beträchtliche Dosis Nervenkitzel, die auch Clark in ihrem ausgefeilten Plot nicht missen lässt. Trotz einiger Atempausen begeistert die Autorin mit spannungsgeladenen Schockmomenten an den richtigen Stellen, die keine Gelegenheit bieten, das Buch einmal aus der Hand zu legen.  

In hohem Erzähltempo treibt Julie Clark die Handlung voran, ohne sich dabei etwa mit detailreichen Beschreibungen der Szenerie aufzuhalten. Ein Stilmittel prägt ihre Sprache jedoch enorm: Immer wieder zeichnet sie bildgewaltige Vergleiche und schafft es dadurch, die ganz großen Gefühle zu transportieren. So wird beispielsweise der Schmerz fehlender Mutterliebe zu einem scharfen „Fingernagel, der an Stellen kratzt, die eigentlich schon lange verheilt sein sollten”.

Etwas schablonenhaft wirkt dagegen der komplett gegensätzliche Charakteraufbau der zwei Protagonistinnen. Die Autorin erlaubt nur einer der beiden, fehlerbehaftet zu sein und dadurch tatsächlich menschlich zu wirken. Eva wächst in zerrütteten Verhältnissen auf und trifft als junge Frau schwerwiegende Fehlentscheidungen, die sie selbst für ihre prekäre Lage verantwortlich machen. Während sie das wahnsinnig glaubwürdig erscheinen lässt, ist Claire hingegen moralisch reiner als das feinste Gold. Das geht deutlich auf Kosten der Charaktertiefe und erschwert es dem Leser, sich mit ihr zu identifizieren.

Dabei ist es eigentlich Claires Schicksal, das der Autorin besonders am Herzen zu liegen scheint. Durch sie platziert Clark in ihrem Thriller einen zentralen Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte zieht: die Me-Too-Thematik. 2017 durch den Skandal rund um Harvey Weinstein entfacht, befindet sich die Debatte zur Zeit, als die Autorin an ihrem Thriller arbeitet, in der heißen Phase. Clark will mit der Geschichte Kritik üben, an dem hohen Preis, den Opfer noch immer zahlen müssen, wenn sie sich entscheiden, an die Öffentlichkeit zu gehen. Als sich allerdings ein tieferes Eindringen in die Problematik gegen Ende der Handlung fast schon unverschämt aufdrängt, verpasst sie ihre Chance und kratzt mit ihren Ausführungen nach wie vor nur an der Oberfläche. In diesem Punkt gelingt es ihr schließlich nicht, den Erwartungen, die sie am Anfang weckt, Genüge zu leisten und eine gehaltvolle Botschaft zu vermitteln.

Das Transportieren echter Herbstgefühle glückt Clark dagegen durch die bedrohliche Atmosphäre des Thrillers mit Bravour. Ihr kühles, düsteres Setting eignet sich insbesondere für Leser, die sich langsam aber sicher auf die beiden dunkleren Jahreszeiten einstimmen möchten. Wer sich also nicht gerade als hartgesottenen Horrorfan bezeichnen würde und einen anständigen Spannungsroman zu schätzen weiß, ist gut damit beraten, in Julie Clarks „Der Tausch” einzutauchen und Eva und Claire beim Verschwinden zuzusehen.

Es ist eine unbestimmte Trauer, nicht nur um den Verlust meines Namens und meiner Identität, sondern auch um das Leben, das ich mir einmal erhofft hatte.

Claire Cook

Anni: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel

Eine Ex-MI5 Agentin, ein pensionierter Psychologe, ein ausgedienter Gewerkschaftsboss und eine ehemalige Krankenschwester brüten im Puzzle-Stübchen der Seniorenresidenz Coopers Chase über einem ungelösten Mordfall. Für Elizabeth, Ron, Ibrahim und Joyce geht es diesmal um den Tod der jungen Journalistin Bethany Waites. Vor zehn Jahren war sie einem großen Steuerbetrug auf der Spur und wollte am Abend ihres Mordes den Strippenzieher treffen. Das sagt zumindest Mike Waghorn, Bethanys damaliger Co-Moderator bei „South East Tonight“. Doch dann stürzte ihr Auto eine Klippe hinab und Bethanys Leiche wurde nie gefunden. Ein Fall wie gemacht für den Donnerstagsmordclub. Doch Elizabeth holt eine alte Bekanntschaft aus ihren Geheimdiensttagen ein, sodass sie sich am Ende fragen muss: Töten oder getötet werden?

Foto: Anni Lehmann

Miss Marple mal Vier

„Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“ erschien im Februar 2023 und ist bereits der dritte Roman innerhalb der international erfolgreichen „Cosy Crime“-Reihe von Richard Osman. Trotz wiederkehrenden Charakteren steht jedoch jeder Kriminalroman in seiner Handlung für sich allein. Hat man die vorhergehenden Bände also verpasst, lässt sich auch dieser problemlos als „Stand alone“ lesen.

Denn alle funktionieren nach demselben Konzept: rüstiges Rentnerquartett, mit Beziehungen einmal quer durch die britischen Gesellschaftsschichten, greift gewieft und gewitzt der Polizei unter die Arme und löst am Ende selbst die vertracktesten Fälle. Was nach einem unglaublich altbackenen und kitschigen Konzept klingt, verpackt Osman in einen erfrischend wortgewandten Wohlfühl-Krimi mit Tiefgang, der irgendwie nie das ist, was man erwartet. Zugegeben, auf das „Miss Marple mal Vier“-Setting muss man sich etwas einlassen. Doch selbst wenn man das nicht tut, kommt man nicht umhin, die vier Rentnercops ins Herz zu schließen. Jede und jeder auf seine ganze eigene Art ist ein bisschen schrullig, aber dennoch liebenswert. Immer schlagfertig und mit messerscharfem Verstand stehen sie gefühlt mit einem Bein im Grab und mit dem anderen fest im Leben.

Doch bei aller „cosyness“ ist der Plot alles andere als eingeschlafen. Am Anfang machen es die ständig wechselnden Erzählperspektiven der durchweg kurzen Kapitel etwas unübersichtlich. Es ist ein bisschen so, als würde man mit jedem Kapitel einen neuen roten Faden der Story in die Hand bekommen. Nicht selten aber endet dieser in einem grausamen Cliffhanger, welcher auch im folgenden Kapitel nicht gleich aufgeklärt wird. Seite für Seite folgt man so den vier Senioren durch das mal nasskalte, mal herbstsonnige England und lässt sich immer weiter in den Sog der Ermittlungen hineinziehen. Nicht selten lassen deren Ergebnisse einen auch mal sprachlos zurück. Die MI5 Vergangenheit Elizabeths wirkt ab und an etwas wie Deus ex machina. Doch Osman ist klug und nimmt sich dessen mittels gewitzten Dialog selbst auf die Schippe. Man fiebert mit, lacht, wird emotional und hat das Gefühl, im Hintergrund läuft irgendwie ständig der Soundtrack von „Inspector Barnaby“.

Osmans Erfahrungen als britischer Talkmaster finden sich in seinem Schreibstil wieder: Er ist Menschenbeobachter und versteht es, die Geschichte durch prägnante Szenen und innere Monologe zu erzählen. Jedes Detail und jeder Charakter ist sorgfältig gesetzt, bekommt seinen Raum, wird auserzählt. So gelingt es ihm all die kleinen Plotfäden mit dem typisch trockenen, britischen Wortwitz und vielen unvorhersehbaren Wendungen zu verweben. Immer, wenn man als Leser meint, man hätte den vollen Durchblick, enthüllt der Donnerstagsmordclub ein neues Detail, das alle Theorien über den Haufen wirft. Scheinbar mühelos flechten sich bei der Tätersuche auch schwere Themen wie Demenz oder Einsamkeit mit ins Gesamtbild ein. Am Ende sitzt man jeder falschen Fährte auf und setzt einige Male beim Lesen ab. Manchmal zum Lachen, manchmal zum Nachdenken.

Auch Hollywood scheint das Konzept von Spannung, Witz und Menschlichkeit zu überzeugen, denn Steven Spielberg hat sich bereits die Filmrechte an der Reihe gesichert. Gemeinsam mit „Mamma Mia!”-Autorin Catherine Johnson soll schon Ende dieses Jahres für die Verfilmung des ersten Romans gedreht werden.

Es ist und bleibt ein verdammt kluger Kriminalroman, den man irgendwie nicht so recht aus der Hand legen mag. Und das nicht nur der Falllösung, sondern auch der originellen Charaktere wegen. Graue Herbsttage verwandelt der Donnerstagsmordclub jedenfalls mit Leichtigkeit in ein wärmendes Leseerlebnis.

Wenn Mord leicht ginge, würde keiner von uns Weihnachten überleben.

Elizabeth Best

Text, Titelbild, Fotografien: Kira Lange, Jessy Schrödter und Anni Lehmann

<h3>Jessy Schrödter</h3>

Jessy Schrödter

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Seit dem Sommersemester 2023 engagiert sie sich als Chefredakteurin bei medienMITTWEIDA.