„Es schien mir sicherer zu Hause zu bleiben und das Dubiose ist, man kann das gar nicht in Worte fassen, was denn so bedrohlich ist. Es war einfach ein Gefühl, das Gefühl, ich muss in meinen vier Wänden bleiben […]“ Dies sind die Worte der 50-jährigen Sophie* in einem Beitrag der Hessenschau vom 9. September 2021 über ihre eigene psychische Krankheit – das Cave-Syndrom.
Durch die Lockerungen der Corona-Maßnahmen sind viele Menschen glücklich, in das soziale Leben zurückzukehren – Freunde zu treffen, gemütliche Nachmittage in einem Café zu verbringen oder durch die Fußgängerzone zu schlendern. Doch längst nicht mehr alle fühlen sich in solchen Situationen wohl und vor allem sicher. Einige finden den Weg in das soziale Leben nicht zurück und bleiben lieber in ihrem augenscheinlich sicheren und gewohnten Umfeld, isolieren sich und halten Abstand zu sozialen Kontakten. Diese Menschen leiden womöglich unter dem Cave-Syndrom.
Die Alltags-Höhle
„Cave” stammt aus dem Englischen und bedeutet in das Deutsche übersetzt „Höhle“, wodurch der Begriff des „Höhlen-Syndroms“ abgeleitet werden kann. Der Lebensraum betroffener Personen wird als Höhle beschrieben, die nur noch sehr ungern verlassen wird, meist aus Angst, sich einer unvorhersehbaren Gefahr auszusetzen. Das Cave-Syndrom tritt nicht nur in Verbindung mit den Maßnahmen der Corona-Pandemie auf. Es wird als Phänomen beschrieben, welches ebenso nach prägenden Ereignissen wie Entführungen oder einem langen Krankenhaus- oder Gefängnisaufenthalt auftreten kann. Da es sich dabei um selten vorkommende Ereignisse handelt, blieb es bis heute eher unbekannt.
Auch bei Sophie lösten die zahlreichen Maßnahmen, die im Rahmen der Corona-Pandemie erforderlich waren, das Cave-Syndrom aus. Sie vergleicht ihre Situation mit einer Kiste und beschreibt diese mit folgenden Worten: „Wenn ich zurückblicke, hatte ich das innere Bild von einer Kiste. Es ist, als ob ich langsam in eine Kiste geklettert bin.“ Im Sommer entspannte sich die Corona-Lage, die Zahl der Infizierten begann zu sinken und es folgten immer mehr Lockerungen der Maßnahmen. Doch Sophie blieb allein in ihrer Kiste zurück.
Anspannung trotz zahlreicher Lockerungen
Steigende Infektionszahlen während der Corona-Pandemie führten zu Maßnahmen wie flächendeckenden „Lockdowns“. Dabei wurden Menschen aufgefordert, ihre sozialen Kontakte so stark wie möglich zu reduzieren und ihr Zuhause nur noch selten zu verlassen. Da vor allem dieser Lebensumstand zum Cave-Syndrom führen kann, tritt dieses aktuell in der Gesellschaft auf und erlangt eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit.
medienMITTWEIDA hat mit Carmen von Nassen, Chefärztin der psychosomatischen Station der Habichtswald Privat-Klinik, gesprochen. Die Oberärztin erklärt das Vorkommen des Syndroms wie folgt:„Besonders das mittlere Alter ist betroffen und die Jüngeren – Studenten und Berufseinsteiger, die sich durch den kompletten Rückzug ins Homeoffice eher eingraben und depressiv werden. Und dann die ältere Zielgruppe, die Angst hat, sich zu infizieren und schwer zu erkranken und sich deshalb nicht mehr hinaus traut.“
Schon durch diese Aussage lässt sich erahnen, wie viele Menschen vom Cave-Syndrom betroffen sein könnten. Um genauere Aussagen zum Vorkommen des Syndroms in Deutschland zu treffen, ist es aber dennoch zu früh. Im Moment werden deutschlandweit zwei Studien durchgeführt, die das Vorkommen des Cave-Syndroms genauer untersuchen. Im Rahmen einer der Studien wurde eine Umfrage durch Prof. Dr. Stangier an der Goethe-Universität Frankfurt ins Leben gerufen. Diese untersucht, wie schwierig es für Menschen ist, sich nach den Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Corona-Maßnahmen wieder an das soziale und berufliche Leben anzupassen. Jedoch wurde das Phänomen bereits in den USA durch die American Psychological Association untersucht. Im Februar 2021 wurden 3000 erwachsene Amerikaner befragt. Insgesamt gaben 46 Prozent der Personen an, dass sie sich nicht wohlfühlen, in ihren Alltag vor Corona zurückzukehren. Weitere 49 Prozent der Befragten sagten zusätzlich, dass es ihnen schwer fällt, zwischenmenschliche Begegnungen zuzulassen.
Dauerhafte Angst
Bei dem Cave-Syndrom handelt es sich nicht um eine pathologische Krankheit, die sofort mit eindeutigen Auffälligkeiten einhergeht. Es beschreibt zunächst eine Anpassungsverzögerung, die im späteren Verlauf zu Angststörungen oder Depressionen führen kann. Anpassungsreaktionen werden, solange sie in einem Zeitraum von zwei bis drei Monaten auftreten, als normale Reaktionen auf Verdrängungen der direkten Lebensumwelt betrachtet. Von Nassen erklärt dazu, dass es unbehandelt zu Hause mit beginnender Symptomatik immer schlimmer werden könnte und die Betroffenen den Weg alleine nicht heraus schaffen. Sie bemerken oft nicht, dass mit ihnen etwas nicht stimmen könnte und ihnen ist oft nicht bewusst, dass sie zu einem Psychotherapeuten gehen sollten.
Sophie beschreibt ihre Symptome ähnlich. Alltägliche Dinge bereiteten ihr zunehmend Schwierigkeiten, wie zum Beispiel das Putzen ihrer Wohnung oder der Gang in den Supermarkt. Obwohl ihr bestimmte Lebensmittel wie beispielsweise Milch fehlten, konnte sie die Kraft, ihre Wohnung zu verlassen und in den Supermarkt zu gehen, oft nicht aufbringen. Manchmal gelang es ihr zwar die Wohnung zu verlassen, jedoch kehrte sie nach kurzer Zeit ohne den Supermarkt erreicht zu haben um und ging wieder nach Hause zurück. Dadurch vernachlässigte sie zunehmend ihre Ernährung und nahm immer dieselben, haltbaren Lebensmittel zu sich. Des Weiteren litt sie unter Schlafstörungen und wendete ihre Kraft nur noch für die Arbeit auf.
Der soziale Rückzug
Die Angst, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren oder der soziale Rückzug ist beim Cave-Syndrom so stark ausgeprägt, dass das soziale Leben Betroffener wie still zu stehen scheint. Sie könnten mit alltäglichen Situationen überfordert sein, verlassen ihre Wohnung nicht, vernachlässigen die zuvor geliebten Hobbys und auch Freundschaften leiden darunter. Nach Carmen von Nassen sind besonders junge Menschen in dieser Situation resignativ und depressiv, da ihr soziales Leben nicht mehr stattfindet. Sie können Symptome, wie Mangel an Energie, Schlafstörungen und Panikattacken entwickeln. Des Weiteren könnte die Gefahr bestehen, dass sie beginnen, ihre Gefühle und Ängste mit Alkohol oder Drogen zu kompensieren. Ähnlich wie bei der Hypochondrie können auch vermeintlich körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, ständige Übelkeit und Rückenschmerzen auftreten.
Dies beschreibt auch Sophie. Vor der Pandemie ging sie gerne in das Fitnessstudio oder traf sich mit Freunden und Bekannten. Durch die Entwicklung der Angst verlor sie die Freude daran und vernachlässigte auch diese Freizeitaktivitäten zunehmend.
Hilfe für Betroffene
Für Menschen, die bereits in der Vergangenheit unter Depressionen oder einer Angststörung gelitten haben, besteht durch die epidemische Lage eine erhöhte Disposition für einen erneuten Ausbruch. Zu betonen ist, dass professionelle Unterstützung in solch einer Situation hilfreich sein kann und sie nicht alleine mit ihren Gefühle und Ängsten sind. Aktuell spitzt sich die Corona-Lage wieder zu, was zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Auftretens des Cave-Syndroms führen kann. Es ist sehr schwer zu erkennen, dass man selbst, ein Familienmitglied oder ein Freund oder Freundin unter dem Cave-Syndrom leidet. Carmen von Nassen sagt dazu: „Die Symptome treten zunächst sehr schleichend auf. Dies kann dazu führen, dass Betroffenen ihr Leid unter dieser Problematik oft zu spät auffällt.“ Des Weiteren erklärt sie, dass sich Außenstehende oft über die Veränderungen der Persönlichkeit von den Angehörigen wundern und sich einen Sinneswandel nicht erklären können. Durch die Vernachlässigung des persönlichen Kontakts können Konflikte zwischen Betroffenen und Außenstehenden entstehen.
Sollte das Cave-Syndrom bei Personen aus dem direkten Umfeld auftreten, rät Carmen von Nassen offen auf diese Personen zuzugehen und sie aktiv darauf anzusprechen. Es helfe, wenn man Betroffene immer wieder einlädt und mit ihnen über ihre Ängste spricht. Jedoch ist behutsames Vorgehen besonders wichtig und es sollte kein Druck ausgeübt werden, wie sich unter Zwang den Ängsten zu stellen. Von Nassen erklärt in diesem Zusammenhang: „Bei dem Corona-Virus handelt es sich nicht um eine unbegründete Angst. Das Virus ist so präsent wie nie und die Auswirkungen sind allen bekannt. Man sollte versuchen, den Betroffenen besonders durch Gespräche zu helfen.“ Das Sprechen mit Angehörigen kann laut von Nassen unterstützend wirken, jedoch ersetze es nicht die professionelle Hilfe von Psychotherapeuten. Besonders Gespräche mit geschultem Fachpersonal oder auch Selbsthilfegruppen können dabei helfen, mit den Ängsten umzugehen. Bei einer schwerwiegenden Ausprägung der Symptomatik kann auch ein Klinikaufenthalt mit Therapien nicht ausgeschlossen werden.
Der 50-jährigen Sophie konnte solch eine Therapie helfen. Sie hat gelernt, mit ihren Ängsten umzugehen und konnte so einen Weg zurück in den „normalen Alltag“ finden. Sie hat wieder zu sich gefunden und begonnen auf ihren Körper zu achten. Sie treibt Sport und achtet auch wieder auf ihre Ernährung. Zu Hause möchte sie sich einen ambulanten Therapieplatz suchen, um weiterhin an ihren Ängsten zu arbeiten. Zudem will sie auch andere ermutigen, sich Hilfe zu suchen, da es sich aus ihrer Sicht lohnt.
*Name geändert