Es ist Montag, der 2. Januar 2012. Viele Chemnitzer schauen auf ihre „Facebook”-Profile. Noch ist es ein heißer Tipp: „Bei der taz hat einer einen Kommentar über Chemnitz geschrieben. Er soll total überzogen sein, geschmacklos sogar.“ Beim erstmaligen Lesen sind viele zunächst der gleichen Meinung.
Die Glosse „Cui bono, Chemnitz?” von Michael Gückel hat bis Mittwochabend auf „taz.de” über 500 größtenteils empörte Kommentare verursacht. Lokalmedien wie die Zeitung „Freie Presse Chemnitz” , das Anzeigenblatt „Blick” oder der regionale Fernsehsender „Sachsen Fernsehen” setzen sich in den folgenden Tagen mit dem Beitrag auseinander. Verständnislosigkeit, Empörung und etwas Populismus schimmert durch die Beiträge.
Imageschaden für Mittweida
Michael Gückel hat an der Hochschule Mittweida Medientechnik studiert und hier 2005 sein Diplom erhalten. Sein journalistisches Handwerk erlernte er anschließend in einem zweijährigen Volontariat. Zumindest zu seiner Zeit seien „die Journalistik-Seminare der generalistischen Auslegung des Studiums entsprechend bestenfalls nur oberflächlich” gewesen, sagt Gückel gegenüber medienMITTWEIDA.
Nicht nur Chemnitzer fühlen sich von dem geschilderten Bild der Stadt angegriffen, auch einige Mittweidaer Studenten meinen, „dass sich jetzt jeder Medientechnik-Student aus Mittweida als Drittklassestudent einstufen lassen darf”, so User „Fremdschämer” auf der Kommentarseite von „taz.de”.
Satire als Gegenentwurf zur PR-Kampagne
„Im Prinzip ist die Kampagne ‚Chemnitz zieht an‘ Auslöser und Kern des Artikels”, sagt Gückel. Sein Text sei „eine Art Gegenentwurf zur Kampagne, den man ‚Chemnitz stößt ab‘ nennen könnte.” Deswegen könne er einen etwaigen Imageschaden für Chemnitz oder die Hochschule auch nicht nachvollziehen.
Die besagte Kampagne existiert bereits seit 2008 und wird vor allem über ein Internetportal umgesetzt. Das Ziel ist, Ingenieure und anderen Fachkräfte nach Chemnitz zurückzuholen, die nach ihrem Studium an der TU Chemnitz an anderen Orten Arbeit gefunden haben. Aufmerksamkeit genoss das Portal des städtischen Marketing-Unternehmens „CWE“ diesen Winter. In Zügen wurden Flyer mit der Aufschrift „Ein letztes Mal pendeln“ verteilt. Ziel der Kampagne sollte die Besinnung auf die Heimat der Pendler sein.
„Die Wahrheit“ soll verletzen
Die Satire ist Grundlage der Rubrik „Die Wahrheit“, in der Michael Gückels Beitrag über die „Stadt des Grauens” veröffentlicht wurde. Der Ressortleiter Michael Ringel sieht die Reaktionen gelassen: „Satiren müssen verletzen, um eine gewisse Wirkung zu erzeugen. Und Anregungen zu geben, dass die Chemnitzer über ihre Stadt nachdenken, ist schon ein Effekt des Textes.“
Journalistische Grundsätze zu verdrehen, ist ausgewiesene Methode von „Die Wahrheit“. Die Autoren werden im Vorfeld jedoch nach ihrem Hintergrund gefragt, der Ringel im Fall der Chemnitz-Satire plausibel erscheint. Zudem werden alle satirischen Beiträge ebenso redigiert wie Nachrichten oder sachliche Berichte.
Satire auf Kosten Unschuldiger
Was kann der „taz“-Redaktion also vorgeworfen werden? Ihre Prinzipien beachtet zu haben? Kritik an einem Marketing-Gag geübt zu haben? Nein. Die Reaktionen wurden erwartet. Dass die Chemnitzer über ihre Stadt nachdenken, wurde erreicht. Die Macher der kritisierten Kampagne möchten sich nicht zu dem Beitrag äußern – auch das ist keine Überraschung. Vielleicht wäre der Witz aber verständlicher gewesen, wenn der Bezug zu „Chemnitz zieht an“ von Anfang klarer gewesen wäre.
„Satire richtet sich immer gegen die Mächtigen. Sie schlägt nie auf Kleineren ein“, meint „taz“-Ressortleiter Michael Ringel. Doch wer sind hier die Mächtigen, wer sind die Kleinen? Welche Macht besitzen die von Gückel genannten Hartz IV-Empfänger aus Chemnitz? Und warum darf der Leser das nicht verstehen? So hat es der Autor des Satiretextes dann in einem eigenen Tweet auch passend zusammengefasst: „Wenn Chemnitz der Rubikon wäre, ich hätte sie nun wohl überschritten.“