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Dana wohnt in Berlin. Sie ist Juristin und gleichzeitig ehrenamtliche Streetworkerin. Jeden Mittwochabend geht sie mit einer kleinen Gruppe an Helfenden auf den Straßenstrich. Dort versorgen sie Prostituierte mit Getränken, Süßigkeiten, Kondome und an besonderen Tagen mit Geschenken. Hauptsächlich unterhält sich Dana aber mit den Frauen. Warum macht sie das? medienMITTWEIDA erklärt sie: „Besonders schlimm finde ich, dass in derselben Stadt, in der ich lebe, viele Menschen täglich körperliche Gewalt erleben – Kinder, die zuhause missbraucht werden oder Frauen in der Prostitution. Für mich sind das die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Weil man sich im Bereich Kindesmissbrauch ehrenamtlich kaum engagieren kann, helfe ich Frauen in Prostitution.“
Auch in München, wo Dana früher gelebt hat, hat sie sich bereits engagiert. Mit einem liebevollen Elternhaus und besten Ausbildungsbedingungen ist sie heute Juristin. Auf ihren Einsätzen sieht sie, wie es den überwiegend jungen Frauen aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn hier in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, geht. „Oft sehen die Frauen sehr, sehr jung aus. Viele Frauen teilen nach einiger Zeit ihr Herz mit uns und wir hören Geschichten über Armut, Missbrauch, Schmerz und Enttäuschung.“
Regelung von Prostitution in Deutschland
Vom Jahr 2005 bis 2020 verzeichnet das Bundeskriminalamt 6554 abgeschlossene Ermittlungsverfahren im Bereich Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Der Großteil der Opfer aus dem Ausland. Wie ist es weiterhin möglich, dass im Durchschnitt statistisch mindestens eine Person täglich für Sex gehandelt wird. Denn Prostitution ist in Deutschland gesetzlich geregelt. 2020 waren knapp 25.000 Prostituierte angemeldet. Vier von Fünf Prostituierten waren davon aus dem EU-Ausland. “Das Gesetz ist keine Verbesserung der Situation. Ich finde das sind Daumenschrauben des Finanzamtes. Es geht nicht darum, den Frauen zu helfen, vielmehr soll jeder Cent, der nicht steuerrechtlich abgeführt wird, auch noch abgriffen werden. Die ausländischen Frauen kennen oft ihre Rechte überhaupt nicht. Es ist Augenwischerei.“ Erzählt Sophie Hoppenstedt Ex-Prostituierte und heute Buchautorin gegenüber medienMITTWEIDA. Viel mehr hätte man erkannt, dass die Legalisierung von Prostitution schiefgegangen sei. Es habe weiter Menschenhandel und Armutsprostitution gegeben und der Prostitutionsmarkt sei nicht zuletzt auch durch die EU-Osterweiterung um circa 30 Prozent gestiegen. In anderen Ländern wie Schweden oder Norwegen zum Beispiel senke er jedes Jahr um 0,5 Prozent.
Doch wie entwickelten sich die Prostitutionsgesetze über die Jahre?
Im Jahre 1901 wurde die Prostitution im Bürgerlichen Gesetzbuch sittenwidrig erklärt. Der Sexkauf war somit illegal, es gab Sperrgebietsverordnungen und die Förderung von Prostitution wurde unter Strafe gestellt, Prostitution gab es aber trotzdem. Auch im Jahr 1965 sah die Situation in Deutschland ähnlich aus, aber man wurde kreativer. Zum Beispiel gab es sogenannte Callgirl-Agenturen, die als „Modellagenturen“ fungierten. Sie waren als Deckmantel ein sittliches Gewerbe, um Prostitution zu verschleiern.
Im Jahr 2002 wird die Prostitution als Beruf anerkannt. Aufgrund von lauten Stimmen in den 90er Jahren tritt am 1. Januar das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“ (ProstG) ein. Prostituierten sollte es gesetzlich möglich sein, ohne Stigma ihrer Tätigkeit nachzugehen, ihre Erwerbstätigkeit anzumelden, sich sozialversichern zu können und freie Freierwahl zu haben. Bei sicheren Arbeitsbedingungen würden sich Bordellbesitzer und Freier ebenfalls nicht strafbar machen, da es ja nun legal war. Die Prostitution als einst gesellschaftliches Tabu, wurde zu einer legalen Dienstleistung. Fünfzehn Jahre später, am 1. Juli 2017, führte man das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) ein. Ziel des neuen Gesetzes war es, die rechtliche Situation der Prostituierten in einem umfassendere Regelwerke für Prostitutionsgewerbe festzulegen. Das Hauptaugenmerk des Schutzgesetzes ist die Anmeldepflicht für Prostituierte, die Erlaubnispflicht für Prostitutionsgewerbe, die Gesundheitsberatung für Prostituierte, wie auch die Kondompflicht und das Werbeverbot für Sexkauf ohne Kondom. Das Problem ist allerdings, dass viele Frauen diese Rechte überhaupt nicht kennen. Sie sprechen oft kein deutsch und wissen nicht, wie sie sich überhaupt bei Behörden beschweren oder klagen könnten. Die Barrieren sind hoch.
Dana erkannte dieses Problem ebenfalls schnell: “Was ich heute auf dem Straßenstrich sehe, ist nichts anderes als eine Parallelgesellschaft, in der Frauen bereits rundherum ungeschützt leben. Die Polizei greift, außer bei Schlägereien, nicht proaktiv ein“. Wenn ich eine Frau sehe, die aussieht, als wäre sie 14 Jahre alt, dann rufe ich die Polizei bewusst nicht. Denn sie wird einen gefälschten Pass zeigen und aus Angst vor ihrem Menschenhändler nicht gegen ihn aussagen. Die Polizei fragt nicht weiter nach, erstattet keine Anzeige. Dann übt der Zuhälter Druck auf die Frau aus, sodass sie nicht mehr mit uns spricht. So könnten wir überhaupt nichts mehr für die Frau tun.“ Sie sprechen kaum Deutsch – nur das Vokabular, das sie für die Arbeit brauchten. In der Regel seien die Frauen nicht angemeldet. Sie fänden sich im Behördendschungel nicht zurecht und kennten ihre Rechte nicht.
Prostitutionsreglementierungen in der EU
Aktuell ist in drei EU-Staaten die Prostitution verboten. So können in Rumänien, Litauen und Kroatien Freier und Prostituierte strafbar gemacht werden. In Frankreich, Schweden und Irland werden wiederum nur Freier kriminalisiert. Die restlichen Mitgliedsstaaten haben ein gesetzlich weniger strenges Verhältnis zu Sexarbeit. In Österreich, Deutschland und in den Niederlanden gehört die Prostitution zum normalen Dienstleistungssektor. Arbeitnehmer müssen sich offiziell registrieren, sind steuerpflichtig und bezugsberechtigt.
Der Status quo von Sexarbeit in der EU Quelle: Statista
Das Nordische Modell – mehr als Freier einbuchten
In Europa haben sich Schweden 1999 und zehn Jahre später Norwegen und Island entschieden, das nordische Modell einzuführen. Dieses Modell ist ein Gesetzespaket, welches aus mehreren Säulen besteht:
1. Es werden die betroffenen Menschen, in 95 Prozent der Fälle Frauen, ausdrücklich nicht bestraft. Als Opfer von Gewalt sollen sie nicht auch noch mit juristischen Folgen zu kämpfen haben.
2. Der Sexkauf ist verboten, sodass Sexkäufer Bußgelder bezahlen, wenn sie erwischt werden. Bordellbesitzer und Menschenhändler werden bestraft. Das soll die Nachfrage eindämmen.
3. Es wird staatliche Ausstiegshilfe angeboten, zum Beispiel in Form Schutzräume, wo Frauen ein bis zwei Jahre wohnen können und umfassende Hilfe erhalten.
4. Es erfolgt umfassende Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit – mit dem Ziel des gesellschaftlichen Umdenkens.
Hoppenstedt hatte sich 2015 versucht umzubringen. Einmal per Klinge, einmal per Pillen. Den Ausstieg schaffte sie, indem sie religiös geworden war. Unterstützung vom Staat oder durch NGOs erhielt sie zu keinem Zeitpunkt. Einzelpersonen aus der Kirche halfen ihr, das Milieu zu verlassen. Ihrer Meinung nach sollte der Staat Frauen, die diesen „Job“ als letzte Alternative gewählt haben, echte Alternativen, bessere Berufsmöglichkeiten und Unterstützung bieten. Denn die meisten machten Prostitution nicht freiwillig. Es sei eine Illusion, denn es gäbe eine große ökonomische Not in diesem Milieu. Selten seien es Frauen, die mit Alternativen die Prostitution wählten und in Berlin Philosophie studieren würden.
Die Ambivalenz bei der Entscheidung des progressiveren Vorgehens
In den 15 Jahren zwischen dem Prostitutionsgesetz und dem Schutzgesetz ist nicht viel passiert. Ein Sexkauf-Verbot war auch 2017 nicht vorgesehen. Die derzeitige Außenministerin Annalena Baebock äußerte bezüglich des Nordischen Modells 2021, dass ein Verbot von Prostitution nicht zielführend sei. Trotzdem gibt es immer mehr Länder im internationalen Raum, die sich für das nordische Modell entscheiden. Bereits Schweden, Norwegen, Island, Kanada, Frankreich, Irland und Israel haben sich entschlossen, dass sie das Nordische Modell als das progressivere Zukunftsmodell sehen, um illegale Sexarbeit und Menschenhandel einzudämmen.
Sophie Hoppenstedt ist es schleierhaft, dass Deutschland nicht das nordische Modell einführt. Sie ist der Meinung: „Prostitution ist kein normaler Beruf, dafür geht es zu stark an die Substanz. Es gibt kaum Berufe außer dem des Soldaten, aus dem man mit 66-prozentiger Wahrscheinlichkeit mit einer posttraumatischen Erfahrung herausgeht. Man steht einzig mit seinen Körperöffnungen zur Befriedigung des Mannes zur Verfügung.” Es gäbe sicherlich eine Minderheit an Frauen, die selbstbestimmt entschieden hätte in die Prostitution zu gehen, aber durch diese starken Stimmen würde weiterhin Zwangsprostitution und Menschenhandel verharmlost und toleriert. “Diese Frauen wären allerdings durch das Modell ebenfalls in einer besseren Situation. Sie könnten hohe Preise verlangen und Zahlungsunwilligen würde man mit der Illegalität drohen. Die Minderheit hat somit weiterhin die Möglichkeit die Tätigkeit auszuüben, aber die Situation der Mehrheit würde eklatant verbessert.”
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Teilweise wird vorgebracht, dass Studien zu den Auswirkungen der gesetzlichen Regelungen in Schweden und anderen nordischen Ländern von begrenzter Aussagekraft sind. Frankreich, Norwegen und Schweden haben die Einführung des Nordischen Modells entschieden. Aber insgesamt wird Prostitutionsgesetzgebung wenig untersucht. Beispielsweise muss das deutsche Prostituiertenschutzgesetz von 2017 zwar verpflichtend evaluiert werden, wie im Gesetz selbst festgelegt. Allerdings wird die Evaluierung laut Bundesfamilienministerium am 1. Juli 2022 begonnen. Danach wird der Evaluationsbericht dem Deutschen Bundestag drei Jahre später vorgelegt. Dann wird die Regierung neu entscheiden, ob es zusätzlichen oder neuen gesetzlichen Handlungsbedarf gibt.
Oft wird bei der Diskussion um legale Prostitution die Frage gestellt, ob durch legale Prostitution weniger sexuelle Gewalt gegenüber anderen Frauen ausgeübt wird. Dana hat dazu eine klare Meinung: „Ich finde dieses Argument gegen das Nordische Modell schon im Ansatz fragwürdig. Eine Gruppe von Frauen soll geopfert werden, die die krassen sexuellen Begierden der Freier abfertigen, damit die breite Masse sicherer leben kann und potentiell nicht vergewaltigt wird? Das widerstrebt meinem Gerechtigkeitssinn. Wenn ich an die Frauen denke, die ich auf der Straße treffe, würden praktisch die Frauen geopfert, die besonders schlechte Startbedingungen ins Leben hatten.“