Death Sells

Wie Medien mit dem Tod umgehen

von | 15. Mai 2018

Tod und Suizid sind vielbeachtete Themen in den Medien. Die Berichterstattung ist eine Gratwanderung und birgt Gefahren.

Selbstmordattentate und Suizide sind vielbeachtete Themen. Journalisten übertreten bei der Berichterstattung darüber oft ethische und rechtliche Grenzen. Wissenschaftler warnen vor den Gefahren für die Leser.

Am 14. Februar 2018 schießt Nikolas Cruz in der MSD Highschool in Parkland, Florida mehr als 200 Mal auf Schüler und Lehrer, die aus den Klassenzimmern strömen. Er hat dafür den Feueralarm ausgelöst – und wartet regelrecht auf seine Opfer. Cruz ermordet 17 Menschen und verletzt 15 weitere, die später in ein Krankenhaus kommen werden.
Vier Tage später veröffentlicht welt.de die „verstörenden Details aus dem Leben von Nikolas C.“ Er sei in der Schule schon vorher auffällig und aggressiv gewesen, schreibt das Onlineangebot aus dem Verlagshaus Axel Springer. Außerdem seien bei ihm Autismus, ADHS und Depressionen diagnostiziert worden. In psychiatrischer Behandlung sei er aber für stabil erklärt worden. Fotos des Schützen und ein Video, das panische Schüler während der Schüsse von Parkland zeigt, prangen auf der Seite. Das Video wird automatisch abgespielt.

„Irre“, „Geisteskranke“ und „Psychopathen“, die „Todesschützen“, „Amokfahrer“ oder „Terrorkämpfer“ sind, dienen häufig als Aufhänger für ein Thema, das in den Medien nahezu durchgehend zu finden ist. „Der Tod ist als ein visuelles Phänomen überall präsent“, schreibt Heike vom Orde in der Fachzeitschrift „Televizion“. Und das in einer Zeit, in der das Sterben eher in Altersheimen und Krankenhäusern stattfinde. Primärerfahrungen mit der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens seien selten geworden, sagt vom Orde, doch durch die Medien sei der Tod in den Lebenswelten des Publikums allgegenwärtig.

Klicks gegen Ethik – eine Gratwanderung

Der Tod beschäftigt alle – und was alle beschäftigt, wird geklickt. Unter den Themen, die im Jahr 2017 am häufigsten gegoogelt wurden, befindet sich der Amoklauf von Las Vegas. Der Selbstmord des Linkin Park-Sängers Chester Bennington ist eines der zehn meistgeklickten Themen bei bayern3 und Unfälle füllen täglich die Meldungsspalten in Lokal- und Regionalzeitungen. Die Berichterstattung über den Tod verkauft sich offenbar: Death sells.

Ein Grund für Redaktionen, Amokläufe, Unfälle und Suizide ins Blatt, ins Programm oder auf die Website zu heben – am besten mit ausreichend Bild- und Videomaterial. Kein Wunder, denn der Druck auf die Boulevardmedien steige, sagt Medienwissenschaftlerin Ingrid Stampf im Gespräch mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Viele Quellen seien auf sozialen Netzwerken schneller verfügbar als früher. „Eigentlich ist es heute fast schon mutiger, etwas nicht zu zeigen, als es zu zeigen.“ In einer Mitteilung der Bild-Zeitung heißt es, dass man Berichterstattung nicht „weichspülen“ dürfe. Trotzdem werde jede Veröffentlichung von Fotos toter oder sterbender Menschen intensiv mit Blick auf presse-ethische und rechtliche Zulässigkeit überprüft. Darüber gibt unter anderem der Pressekodex Aufschluss. Dort heißt es in der ersten Ziffer, dass die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit oberstes Gebot sei, ebenso die Achtung der Menschenwürde.

Jan Hollitzer, ehemaliger Redakteur der Berliner Morgenpost, weiß von daraus resultierenden Zwiespälten zu berichten. Als Anis Amri am 19. Dezember 2016 mit einem LKW auf den Breitscheidplatz raste, wurde er zum Zeugen. „Ich habe lange nachgedacht, was ich tun sollte. Dann bin ich mit Facebook live gegangen.“ Hollitzer filmte die Situation auf dem Berliner Weihnachtsmarkt ohne dabei direkt auf die Opfer zu halten. „Es war eine Gratwanderung, die wir auch in der Redaktion nachbereitet haben. Eine Audiospur wäre mir danach lieber gewesen“, sagte Jan Hollitzer auf den Medientagen Mitteldeutschland 2018. Eine Rüge vom Presserat habe er dafür nicht bekommen.

„Attentäter haben andere Gründe, um uns zu hassen.“

Trotz ethischer und rechtlicher Kritik schreiben, knipsen und filmen Journalisten weiter an Schauplätzen von Tod und Gewalt. Doch sie ahnen nicht, dass sie damit auch Leser, Nutzer und Zuschauer in Gefahr bringen können. „Wenn in den Medien vorschnell psychische Krankheiten zu Ursachen für Gewalt erklärt werden, kann das zu Behandlungsdefiziten und erhöhten Selbstmordraten führen“, erklärt Professor Ulrich Hegerl auf den Medientagen. Der Facharzt für Psychiatrie und Vorsitzender der Stiftung „Deutsche Depressionshilfe“ weiß: „ Selbstmordattentäter haben meist andere Gründe, um uns zu hassen. Dafür brauchen sie keine Depression.“

Von Wissenschaftlern gefürchtet ist der sogenannte „Werther-Effekt“: Wenn Medien detailliert über Selbstmorde berichten, steigt die Suizidrate. Vor allem bei Suiziden von Prominenten ist der „Werther-Effekt“ zu beobachten. So stieg die Selbstmordrate laut einer Studie der University of Columbia um 10% in den folgenden Monaten, nachdem sich US-Schauspieler Robin Williams das Leben genommen hatte. Drastischer zeigte sich der Effekt nachdem Nationaltorwart Robert Enke im Jahr 2009 sein Leben beendet hatte, indem er sich vor einen Zug warf. Die Selbstmordrate stieg nicht nur um 15% im Monat nach seinem Suizid, es töteten sich sogar viermal mehr Menschen als erwartbar auf dieselbe Weise. Vor allem Männer zwischen 25 und 30 Jahren waren unter den Opfern, etwa im selben Alter wie Robert Enke.

Eine mögliche Lösung: Der „Papageno-Effekt“

Die World Health Organization und die Stiftung „Deutsche Depressionshilfe“ haben Richtlinien und Empfehlungen zum Umgang mit Suiziden und Gewalt in den Medien veröffentlicht, an die sich Journalisten nur nach eigenem Ermessen halten müssen. „Medien sollten Selbstmorde auf Titelseiten und detaillierte Beschreibungen der Suizide vermeiden.“, erläutert Ulrich Hegerl, „außerdem sollte man nicht alltägliche Ursachen für einen Suizid suchen. Selbstmorde entspringen zu 90% einer psychischen Erkrankung.“ Soziale Medien, vor allem Internetforen, in denen über Selbstmord diskutiert wird, seien ebenfalls eine Gefahr, da dort die Suche nach Methoden für Selbstmorde schnell und einfach sei.

Mediale Berichterstattung über Tod, Gewalt und Suizid kann trotz allem auch umgekehrt wirken. Eine Studie aus Österreich belegt, dass die Selbstmordrate nach dem Erscheinen von Artikeln, die die Bewältigung von Krisen ohne Suizid behandeln, in der Region für einige Wochen gesunken ist. Forscher nennen das, frei nach Mozart, den „Papageno-Effekt“ Dieser in will in der Oper „Die Zauberflöte“ nach dem Verlust seiner Geliebten Selbstmord begehen, aber wird von drei Knaben davon abgehalten. Für Papageno fügt sich dann alles zum Guten.
Auch in der Berichterstattung um den Amoklauf von Parkland haben Journalisten größtenteils genau über die schwierigen Lebensumstände des Täters recherchiert und nicht seine Krankheit in den Vordergrund gerückt. Auf diese Weise können die Journalisten dem Dilemma entkommen: Sachlich über das schwierige Thema Tod berichten – und gleichzeitig das Publikum schützen.

Professor Ulrich Hegerl spricht hier über Hintergründe von Selbstmordattentaten und Suiziden.
Professor Ulrich Hegerl im Gespräch mit Eckart von Hirschhausen auf Medientagen Mitteldeutschland 2018 (Foto: Julia Scholl)
Text: Paul Haubold          Collage als Titelbild: Anna Gorski          Audio: Annika Braun
<h3>Paul Haubold</h3>

Paul Haubold

ist 20 Jahre alt, studiert Medienmanagement und leitet seit Semesterstart das Ressort Media. Außerdem ist er Volontär an der Mitteldeutschen Journalistenschule und Redakteur des Journalismus-Startups light up! News. Neben seiner journalistischen Arbeit ist Paul Haubold als Werkstudent für Pressearbeit beim ITK-Dienstleister Komsa tätig.